Fritz Picard © Bosch privat

Fritz Picard: Büchermensch aus Leidenschaft

Fritz Picard © Bosch privat
Fritz Picard am Schreibtisch in der Librairie Calligrammes, Paris 1970 © Privat

In Konstanz literarisch“ ist Manfred Bosch der kulturellen Tradition der Stadt über fünf Jahrhunderte hinweg nachgegangen. Seemoz porträtiert in lockerer Folge einige der dort vorgestellten Personen. Im Vordergrund stehen freiheitliche, demokratische und antifaschistische Traditionslinien im 19. und 20. Jahrhundert. Der gebürtige Konstanzer Fritz Picard erwarb sich Renommee als Verlagsvertreter und Antiquar.

An der ehemaligen Schwedenstraße (später Otto-Raggenbass-Straße, heute Emma-Herwegh-Straße) nahe dem Kreuzlinger Zoll liegt das Elternhaus von Fritz Picard (1888–1973). Der illustre Bibliophile und Antiquar war Vertreter bedeutender Verlage und mit zahlreichen sozialistischen und pazifistischen Autoren befreundet. Als ihm das Antiquariat Die Silbergäule in Hannover 1992 einen repräsentativen Katalog widmete, stellte es ihn als einen „der ungewöhnlichsten Menschen im deutschen Buchhandel“ vor.

Picards Liebe zu Büchern reicht weit in seine Jugend zurück; am liebsten kaufte er bei Gess, dem damaligen Buchhändler in der Kanzleistraße. Das heißt, er kaufte „auf Kredit meines Vaters, der zweimal pro Jahr die Rechnung bekam und etwas murrend zahlte“. So brachte es Picard schon in jungen Jahren zu einer kleinen Bibliothek, dessen Lieblingsbücher Goethes West-östlicher Diwan und Peter Camenzind waren, „in den mir Hesse eine Widmung geschrieben hatte. Ich überlegte: Wenn ich Buchhändler wäre, bekäme ich die Bücher viel billiger, und ich könnte mir also viel mehr kaufen. So war nichts natürlicher, als daß ich Herrn Gess eines Tages fragte, was ich zu tun hätte, um Buchhändler zu werden. Aber Herr Gess riet mir nur dringend, beinah beschwörend ab. Warum er das tat, wo er doch offensichtlich ein gutgehendes Geschäft hatte, weiß ich nicht.“(1)

Hofbuchhandlung Karl Gess, ca. 1900 © Eberhard Gess
Verkaufsraum der Hofbuchhandlung Karl Gess, um 1900 © Eberhard Gess

„Verkaufskanone“ im Verlagswesen der 1920er-Jahre

Am Konstanzer Gymnasium war Picard Klassenkamerad von Martin Heidegger; 1907 legte er das Abitur ab. Im Ersten Weltkrieg von Berlin aus in seine Heimat zurückbeordert, hatte er als Wachmann den Zug zu begleiten, der Lenin nach Russland brachte – in einem Interview mit Michael Stone hat Picard diese Episode noch einmal aufleben lassen. Nach Kriegsende gründete er in Konstanz die lokal bedeutungslos gebliebene USPD mit, heiratete 1921 die Straßburger Schauspielerin und Journalistin Lilli Benedick, der Hubert Fichte 1991 Lil’s Book widmete, und verkehrte wenig später in Berlin in literarischen Bohèmekreisen um das „Café des Westens“, wo er Bekanntschaft mit vielen Schriftstellern und Künstlern schloss.

Einer von ihnen war der Vagabund Emil Szittya, der Picard in seinem legendären Kuriositäten-Kabinett so vorstellte: „Er ist ein Groliertypus wie man ihn bisher nur in dem alten Frankreich sah. […] Nur hat Picard, der Bibliophile, keinen französischen König hinter sich, sondern stammt aus dem kleinen Städtchen Konstanz. Er ist Kaufmann, und seine Bibliophilengeste ist etwas Selbsterworbenes. Er machte sich zu einem französischen Romantiker, der Bücher hätschelt, und jemand sagte einmal über ihn, daß die Frauen, die ihn lieben, so ausschauen, wie Blumen, die Wasser ziehen. Er ist der einzige im Café Größenwahn, dem niemand etwas Häßliches nachsagen kann und nachsagt. Seine Geste hat etwas Verzeihendes, Verstehendes.“(2) Dass das Kuriositäten-Kabinett – eine Mischung aus Porträtsammlung und Klatsch mit dem Untertitel Begegnungen mit seltsamen Begebenheiten, Landstreichern, Verbrechern, Artisten, religiös Wahnsinnigen, sexuellen Merkwürdigkeiten, Sozialdemokraten, Syndikalisten, Kommunisten, Anarchisten, Politikern und Künstlern – 1923 im Konstanzer See-Verlag von Oskar Wöhrle erschien, ist ohne Picards Vermittlung kaum denkbar.

In den zwanziger Jahren übernahm Picard die Vertretung von Verlagen wie Jakob Hegner, Lambert Schneider, Bruno Cassirer, E. P. Tal, Die Schmiede, Curt Weller, Oskar Wöhrle und, nach 1933, auch Salman Schocken. Er galt als „Verkaufskanone“ und war im Sortiment allseits geschätzt. Wenn Bruno Cassirer seinen Lektor Max Tau aufziehen wollte, sagte er: „Wir haben das Buch jetzt angenommen, aber der Picard ist noch nicht gefragt worden.“(3)

NS-Zeit: Exil, Internierung und Flucht

1934 rettete Picard den Nachlass Erich Mühsams, der 1925 Trauzeuge bei seiner zweiten Heirat mit der Lyrikerin Elisabeth Greitsch gewesen war, nach Prag. Er selbst konnte sich als Verbindungsmann von Widerstandsgruppen trotz geheimdienstlicher Beobachtung erstaunlicherweise bis 1938 in Deutschland halten – dann schlug auch für ihn die Stunde des Exils. Als er am 10. Mai 1938 von einer Auslandsreise zurückkehrte, wurde sein Pass einbehalten. „,Der ist beschlagnahmt, machen Sie, daß Sie weiterkommen‘. Da saß ich nun ohne Paß und habe einen Kampf geführt bis zum Oktober“, erzählte Picard. „Ich bin nach Berlin gefahren, ich habe wirklich alles Mögliche versucht, schließlich hat mir ein kleiner Beamter in Konstanz gesagt: ,Ich kann Ihnen ganz kurzfristig helfen, ich gebe Ihnen einen Paß, der ist aber nur vier Wochen gültig. Schauen Sie, ob Sie damit rauskommen.‘ Ein Bruder ist dann nach Mannheim oder Karlsruhe gefahren, wo ein französischer Konsul war, und der hat ein Transitvisum reingestempelt in den Paß, 14 Tage Frankreich Transit, ich bin am selben Tag rausgegangen, wieder im kleinen Grenzverkehr nach Kreuzlingen. Ich wußte genau, daß es in der Schweiz keine Aufenthaltsmöglichkeit gab, bin weiter nach Paris. Das war die Emigration.“(4)

In Paris lebte Picard, der 1939 aus dem Deutschen Reich ausgebürgert wurde, von Übersetzungen und war in verschiedenen Lagern interniert, bevor ihm 1942 in der Nähe des Genfer Sees die Flucht in die Schweiz gelang.

Die Antiquariatsbuchhandlung Librairie Calligrammes

Nach dem Krieg kehrte er mit seiner dritten Frau Ruth Fabian umgehend nach Paris zurück, wo er – so bald nach dem Krieg eine kulturelle Pioniertat – einen Vertrieb deutscher Literatur aufbaute. Aus kleinen Anfängen entstand 1951 die deutschsprachige Antiquariatsbuchhandlung Librairie Calligrammes. Kaum irgendwo sonst war das 20. Jahrhundert, voran die Literatur des Expressionismus und des Exils, mit Erstausgaben und signierten Exemplaren so qualitätvoll vertreten wie hier. Mit diesem Angebot, das später auch die deutsche Nachkriegsliteratur einschloss, wurde Picard zu einem wichtigsten Botschafter des deutschen Buches in Frankreich. Picards genuine Erzählergabe und sein Charme prädestinierten seinen Laden zum Treffpunkt der LiteratInnen und FreundInnen von einst.

Anmerkungen

1. Antiquariat Die Silbergäule (Hg.), Sammlung Fritz Picard Librairie Calligrammess Paris. Hannover o. J. S. 4.
2. Emil Szittya, Das Kuriositätenkabinett. Konstanz 1923, S. 251.
3. Max Tau, Das Land, das ich verlassen mußte. Hamburg 1961, S. 172.
4. Wie Anm. 1, S. 24.

Text: Manfred Bosch, Abbildungen: Porträt Fritz Picard © Privat; Hofbuchhandlung Karl Gess © Eberhard Gess

Die Serie wird fortgesetzt. Zuletzt erschienen die Porträts
Karl Hüetlin
Joseph Fickler
Ignaz Vanotti
Karl Zogelmann
Hans und Hermann Venedey
Friedrich Munding
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Weitere Informationen

Zum Autor

Manfred Bosch lebt als Schriftsteller, Literaturhistoriker und Herausgeber in Konstanz. Neben zahlreichen Darstellungen zur südwestdeutschen Zeit- und Literaturgeschichte widmet er sich in Darstellungen (u.a. Bohème am Bodensee. Leben am See von 1900 bis 1950, Lengwil 1997), Herausgaben und Anthologien der neueren Literaturgeschichte des Bodenseeraums.

Zum Buch

Manfred Bosch, Konstanz literarisch. Versuch einer Topografie, UVK Verlag 2019, 351 Seiten, €22,00.

Manfred Boschs literarischer Streifzug durch Konstanz vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ist nicht wie bei Darstellungen dieser Art üblich chronologisch oder nach sachbestimmten Aspekten angeordnet. Sein Stadtrundgang beginnt alphabetisch in der „Alfred Wachtel-Straße“ und endet „Zur Friedrichshöhe“. Er nimmt Straßen, Plätze und Gebäude in den Blick, erzählt welche LiteratInnen, PublizistInnen, VerlegerInnen, Kulturschaffende hier gelebt haben oder als Reisende – sei es als Gast oder auf dem Weg ins Exil – die Stadt passiert haben. Er beschreibt geschichtsträchtige Orte wie das ehemalige Dominikanerkloster (Inselhotel), den Kreuzlinger Zoll, die in den 1960er-Jahren gegründete Universität und bietet einen Überblick über Verlage, Bibliotheken, Lesegesellschaften, Theater und Pressewesen der Stadt. Über 600 Namen umfasst allein das Personenregister.

Erschienen ist das Buch in der von Jürgen Klöckler herausgegebenen „Kleinen Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz“.

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