Ratssaal kratt debatte 2026 06 24© pit wuhrer

Ehre, wem Ehre gebührt?

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Der Radolfzeller Ratssaal vor der Kratt-Debatte

Vor zwei Wochen beschloss der Gemeinderat der Stadt Radolfzell mit großer Mehrheit, auch künftig den früheren Nazi-Bürgermeister August Kratt zu ehren. Angestoßen hatte die Debatte Frida Mühlhoff mit einem seemoz-Artikel. Nun fragt sie sich, wer alles Einfluss nehmen konnte.

Dienstag, 24. Juni. Im Radolfzeller Ratssaal kommt es zur Abstimmung über einen Antrag, der das Ziel hat, die Ehrenbürgerschaft von August Kratt abzuerkennen. Dafür stimmten jedoch lediglich die Fraktion der Freien Grünen Liste sowie die beiden SPD-Gemeinderätinnen Derya Yildirim und Kristina Koch. Gegen die Aberkennung votierten die Fraktionen der CDU und der Freien Wähler, sowie die SPDler Norbert Lumbe und Markus Zähringer, sowie die FDP-Fraktion mit Ausnahme von Richard Atkinson, der sich enthielt. 

Damit behält der (kommissarische) NSDAP-Bürgermeister und Förderer der SS August Kratt seine Ehrenbürgerwürde. Der Abstimmung vorausgegangen war die Veröffentlichung eines umstrittenen Gutachtens über August Kratt – seemoz berichtete.

August Kratt ist seit 1962 Ehrenbürger von Radolfzell. Er gründete 1919 das Kaufhaus Kratt in Radolfzell – nach wie vor eine bekannte Institution in der Stadt. Während der Nazi-Zeit war Kratt NSDAP-Mitglied, förderndes SS-Mitglied, Ratsmitglied und ab 1942 auch (kommissarischer) NSDAP-Bürgermeister. 

Dass Kratt trotz seiner lokalpolitischen Karriere während der NS-Zeit 1962 zum Ehrenbürger ernannt wurde, ist verstörend, aber kein Einzelfall in Radolfzell. 1958 hielt die Stadt es ebenfalls für eine gute Idee, die in Radolfzell stationierten SS-Angehörigen auch als Kriegsopfer in das Kriegerdenkmal am Luisenplatz aufzunehmen; seither stehen hier unter dem Motto „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft und der Toten aller Kriege“ die Namen von Kriegsverbrechern.

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Man kennt die Verbrecher: Denkmalaktion auf dem Luisenplatz am 75. Jahrestag der Befreiung

Man könnte meinen, das war halt damals so, weil die ganzen Täter*innen noch gelebt haben und eine echte Distanzierung von Nazi-Funktionären in der Stadtgesellschaft deswegen schwierig war. Doch anscheinend ist diese Distanzierung dem Radolfzeller Gemeinderat und der Stadtverwaltung auch mehr als achtzig Jahre nach Ende der NS-Zeit immer noch zu heikel. Daher werden jährlich am Volkstrauertag Kränze vor SS-Kriegsverbrechern niedergelegt. Und ein Nazi-Funktionär bleibt weiterhin Ehrenbürger.

Relativierung der NS-Zeit

Auf der Suche nach Gründen für diesen beschämenden Umstand hilft ein Blick auf die Argumente in der Gemeinderatssitzung und das Verhalten der Stadtverwaltung.

Denn dieser Entscheidung vorangegangen war eine rund 75-minütige Diskussion, die auf reges öffentliches Interesse gestoßen war. Der Besucher*innenbereich des Gemeinderats war bis auf den letzten Platz besetzt und viele Menschen standen in der Tür, weil sie keinen Sitzplatz mehr gefunden hatten. 

Der Andrang war gerechtfertigt, denn der Rat bot ein Lehrstück der NS-Verharmlosung und der Entlastungsmythen im Nachkriegsdeutschland: So relativierte Bürgermeisterin Monika Laule in bemühter vermeintlicher Neutralität die NS-Zeit in Radolfzell, indem sie meinte, Kratt sei „ehemaliger Bürgermeister, ehrenamtlicher Bürgermeister und NSDAP-Mitglied“ gewesen, korrekter wäre wohl „eingesetzter NSDAP-Bürgermeister“. Außerdem sei Kratt eine „Person, die sich in der NS-Zeit besonders angreifbar gemacht hat“. Und Anna Fetzer, die durch das NS-Regime zwangssterilisiert wurde, habe ein „schlimmes Schicksal“ erlitten.

Ein kleines Rädchen?

Damit war der Grundton für die Debatte gesetzt. Zum einen gäbe es ja keine Belege, dass Kratt individuell besonders schlimme Gräuel angerichtet hätte und wenn doch (siehe der Fall Anna Fetzer), dann sei er dabei ja nur ein kleines Rädchen gewesen. 

Kratt protest radolfzell 2025 06 24 zwangssterilisierung © pit wuhrer
Protestplakat bei der Aktion vor dem Rathaus am 24. Juni

Hier entgegnete der FGL-Fraktionsvorsitzende Siegfried Lehmann, dass diese „organisierte Verantwortungslosigkeit“ durchaus System gehabt habe in der NS-Zeit. Ansonsten aber stehe es uns als nachfolgenden Generationen gar nicht zu, das Verhalten von Menschen in einer Diktatur zu beurteilen. So sagte der FDP-Fraktionsvorsitzende Jürgen Keck beispielsweise, dass es für die jungen Leute auch einfach sei, zu behaupten, dass sie anders als Kratt gehandelt hätten.

Tatsächlich aber ist das sehr einfach, weil selbst in der NS-Diktatur keine Person gezwungen wurde, Bürgermeister zu werden. Dass diese Aussage von Jürgen Keck kommt, verwundert allerdings nicht, denn dieser äußerte in der Ratssitzung auch die Meinung, dass „viele, die wir heute (NS-)Täter nennen, damals auch Opfer“ gewesen seien. 

Empathie für die Täter

Bemerkenswert auch die Zerstrittenheit der SPD in der Frage der Aberkennung: Anscheinend haben zwei der SPD-Gemeinderäte vergessen, dass das Regime, dass Kratt mitverwaltet hat, ihre damaligen Genoss*innen ermordete oder in Konzentrationslager deportierte. Insgesamt wurde der Kontext des NS-Terrors in Radolfzell mit der SS-Garnison und dem KZ-Außenlager in der Gemeinderatssitzung kaum thematisiert. Die FGL versuchte zumindest darauf hinzuweisen, dass Radolfzell eine besondere Verantwortung trage, weil dort während der NS-Zeit besonderes Gräuel stattgefunden habe. 

Hingegen wurde mehrfach betont, wie nett es sei, dass die Familie Kratt ihr Familienarchiv für die Gutachterin geöffnet habe und dass die aktuellen Diskussionen über August Kratt bestimmt schwer für seine Nachfahren seien. Letzteres ist zumindest fraglich, zum einen weil es auch im Interesse der Familie sein sollte, die NS-Vergangenheit von August Kratt aufzuarbeiten – und wenn nicht, dann wirft das ein so fragwürdiges Licht auf das Verhältnis der Familie Kratt zur NS-Zeit, dass ihre Meinung hierzu eigentlich auch egal sein könnte. 

Jedenfalls wurde erschreckend deutlich, dass es der Stadtverwaltung und vielen Gemeinderäten einfacher fällt, für August Kratt und seinen Nachfahren Empathie zu empfinden als für die Opfer der NS-Zeit in Radolfzell. Das zeigt eine gewisse Kontinuität.

Vorgespräche mit der Familie

Zumindest in Bezug auf Bürgermeisterin Laule könnte ein Grund dafür der enge Austausch sein, den sie mit Familie Kratt rund um die Debatte um die Ehrenbürgerwürde pflegte. Denn noch bevor das Gutachten fertiggestellt und dem Gemeinderat vorgelegt wurde, trafen sich Recherchen von seemoz zufolge die Gutachterin Carmen Scheide, Bürgermeisterin Laule und drei Mitglieder der Familie Kratt, um über die vorläufige Fassung des Gutachtens zu sprechen. 

Monika Laule teilte auf Anfrage von seemoz folgenden zeitlichen Ablauf mit:

• Am 25. Januar 2025 wurde ein 25-seitiger Vor-Entwurf des Gutachtens an den Stadtarchivar gesendet;
• 28. Januar 2025: Antwort Stadtarchivar an Frau Scheide, dass er ihrer Argumentationskette folgen und sie nachvollziehen könne;
• „Die Gutachterin hat in meinem Beisein [Bürgermeisterin Laule, Anm. d. Red.] das Gutachten am 30.01.2025 drei Familienmitgliedern der Familie Kratt vorgestellt“;
• 7. Februar 2025: Finale Fassung mit 51 Seiten an den Stadtarchivar;
• 11. März 2025: Nicht-öffentliche Information des  Gemeinderats durch die Gutachterin, wobei dem Gemeinderat das Gutachten rund sieben Tage vor der Sitzung in vollem Umfang vorlag, danach folgten noch zwei kleine Änderungen in den Fußnoten. 

War Mitsprache möglich?

Nun kann man hoffen, dass es im Gespräch zwischen Bürgermeisterin Laule und der Familie Kratt nur darum ging, den Kratts von Scheides Erkenntnissen zu berichten. Es ist aber zumindest denkbar, dass in diesem Gespräch noch Einfluss auf das Gutachten genommen wurde. Denn das Problem ist, dass es erst danach dem Gemeinderat als Auftraggeber und Finanzierer vorgelegt wurde.

Zu dem Zeitpunkt, als der Gemeinderat das von ihm in Auftrag gegebene Gutachten erstmals zu Gesicht bekam, konnten theoretisch sowohl die Stadtverwaltung als auch die Familie Kratt noch Änderungen daran vornehmen. 

Dass zumindest Teile der Familie Kratt in dieser Sache eigene Interessen verfolgen, wird beispielsweise durch einen Artikel im Südkurier am 11. Juni 2025 deutlich. In ihm wird Enkel Hermann Kratt so zitiert: „Warum es keine Straße mit Kratts Namen gibt, habe ihn immer gewundert, und die Debatte über eine Aberkennung der Ehrenbürgerwürde sei für ihn überraschend gekommen.“

Ein Schelm, wer Böses denkt

Ausdrückliches Ziel des Gutachtens war der Blick von außen auf die Causa Kratt. Dieser Blick ist durch das vorherige Treffen mit Familie Kratt und der Bürgermeisterin nun vielleicht eingetrübt. Genauer lässt sich das leider nicht sagen, denn die Stadt Radolfzell verhält sich in der Causa Kratt nach wie vor intransparent.

Das zeigt die Anfrage, die seemoz am 15. Juni an die Stadt Radolfzell richtete:
„a) Gab es zwischen der Familie Kratt und der Stadt Radolfzell Kommunikation zur Frage der Ehrenbürgerwürde von August Kratt und/oder der Beauftragung des Gutachtens hierzu?
b) Wenn ja, wann, zu welchem Zweck, von wem ausgehend und mit welchem Inhalt?
c) Wurden diese Informationen veraktet?“

Darauf antwortete Bürgermeisterin Laule am 18. Juni:
„a) Ja, es gab zwischen der Familie Kratt und der Stadt Radolfzell eine Kommunikation zur Frage der Ehrenbürgerwürde von August Kratt und der Beauftragung des Gutachtens dazu.
b) Ausgehend von der Stadt mit dem Zweck der Information, dass wir das Gutachten beauftragen werden und mit der Bitte an die Familie Kratt, der Gutachterin das Familienarchiv zugänglich zu machen. Dieser Bitte ist die Familie Kratt nachgekommen, siehe auch Verweis im Gutachten Seite 6, Ziffer 2.3 Quellen.
c) Nein, es war ein persönliches Gespräch zwischen mir und Familie Kratt.“

Erst auf weitere Nachfrage und nachdem der Gemeinderat bereits über den Erhalt der Ehrenbürgerwürde entschieden hatte, erklärte die Stadtverwaltung am 25. Juni 2025, dass es doch noch mindestens ein weiteres Treffen zwischen der Bürgermeisterin und den Kratts gegeben hatte, das oben erwähnte Treffen am 30. Januar 2025, an dem auch Gutachterin Scheide teilgenommen hatte.

Zu den weiteren Fragen, ob es noch andere Treffen gegeben habe und ob die Familie Kratt inhaltlichen Einfluss auf das Gutachten genommen habe, äußert sich die Stadt Radolfzell nach wie vor nicht. Dass Bürgermeisterin Laule vor der Gemeinderatssitzung ein entscheidendes Treffen mit Familie Kratt verschwieg, wirft jedenfalls kein gutes Licht auf die Transparenz und das Demokratieverständnis der Stadt Radolfzell.

Vor dem Eingang des Radolfzeller Rathauses gab es kurz vor der Gemeinderatssitzung eine Protestaktion. Eine Passantin kam vorbei und fragte die Demonstrierenden nach dem Anlass ihres Protests; sie käme nicht aus Deutschland und verstünde nicht ganz, worum es gehe. Ihr Unverständnis wurde eher größer, als Aktionsteilnehmer*innen ihr erklärten, dass ein Nazi-Bürgermeister immer noch Ehrenbürger sei, und der Radolfzeller Gemeinderat das nicht ändern wolle.

Sobald man sich drei Schritte aus dem Sumpf der Radolfzeller Lokalpolitik heraus bewegt, ist dieser Umstand auch wirklich nicht zu begreifen.

Text: Frida Mühlhoff
Fotos: Pit Wuhrer

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