Ehrenbürgertafel rathaus radolfzell @ pit wuhrer

Nazi-Bürgermeister Kratt bleibt Radolfzeller Ehrenbürger

Ehrenbürgertafel rathaus radolfzell @ pit wuhrer
Es ändert sich nichts: Ehrentafel im Radolfzeller Rathaus

Der Radolfzeller Gemeinderat hat auf seiner gestrigen Sitzung entschieden, dem früheren NSDAP-Bürgermeister und NS-Funktionär August Kratt die Ehrenbürgerwürde zu lassen. Für eine Aberkennung stimmten nur die Fraktion der Freien Grünen Liste sowie zwei SPD-Gemeinderätinnen.

Vor der Abstimmung zeigten bei einer kleinen Kundgebung vor dem Rathaus rund vierzig Demonstrant:innen, wie wichtig ihnen das Thema ist: Ein ehemaliges NSDAP- und SS-Fördermitglied wie Kratt dürfe nicht länger Ehrenbürger der Stadt sein, da waren sich die Anwesenden einig – und hatten Plakate auf dem Boden ausgelegt: „Kein Nazi als Ehrenbürger“, „Wer an Zwangssterilisierungen beteiligt ist, kann kein Ehrenbürger sein“.

Dennoch stimmte kurze Zeit später eine große Mehrheit des 26-köpfigen Gemeinderats dafür, die 1962 verliehene Auszeichnung des 1969 verstorbenen Kaufmanns und Lokalpolitikers beizubehalten. 

Der Entscheidung im Gemeinderat ging eine Debatte voraus, in deren Verlauf Siegfried Lehmann (Freie Grüne Liste) darauf hinwies, dass wer, wie Kratt als NSDAP-Bürgermeister, freiwillig in die Verantwortung gegangen sei, auch Verantwortung zu tragen habe. Jürgen Keck (FDP) hingegen merkte an, dass viele der Menschen, die man heute Täter nenne, eigentlich Opfer gewesen seien. Diese Relativierung der NS-Zeit löste im übervollen Zuschauerbereich Raunen aus. 

„Der Gemeinderat hat heute auf die Frage geantwortet, wie viel Nazi ein Ehrenbürger in Radolfzell sein darf – und kam zum Schluss: sehr viel. Er kann sogar NSDAP-Bürgermeister gewesen sein und persönlich an mindestens einem Fall einer Zwangssterilisierung mitgewirkt haben“, kommentierte Jannis Krüßmann, der die Versammlung auf dem Marktplatz geleitet hatte, den Ratsbeschluss. „Dass die Mehrheit im Rat Diskussionen über die NS-Zeit und Aufarbeitung fordert, aber gleichzeitig das auch durch August Kratt verantwortete NS-Unrecht relativiert, ist eine katastrophale Fehlentscheidung – gerade in heutigen Zeiten.“ 

Den Antrag der Freien Grünen Liste, das Jüdische Museum in Gailingen finanziell zu unterstützen, da von der SS-Kaserne in Radolfzell Pogrome in Gailingen ausgegangen waren, hat der Rat ebenso in einen Arbeitskreis verwiesen wie den Vorschlag, die Namen von SS-Kriegsverbrechern auf den Gedenktafeln am Luisenplatz zu löschen.

Über die Debatte im Radolfzeller Gemeinderat und ihre Folgen wird seemoz noch ausführlich berichten.

Text: Pressemitteilung / Fotos: Pit Wuhrer

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6 Kommentare

  1. Christina Herbert-Fischer

    // am:

    Nun, es braucht vieles, konkrete Arbeit vor Ort in Bezug auf das Wohlergehen der Bürger, mehr echte Partizipation weiterer gesellschaftlicher Schichten (jenseits von Akademikern und Unternehmern), bessere Bildungschancen für Kinder aus nicht Akademikerkreisen, Förderung von Demokratieverständnis und politischem Bewusstsein und eben auch in diesem Zusammenhang Aufarbeitung der kommunalen Vergangenheit.
    Wenn Herr Kratt so unbedeutend war, dann verstehe ich nicht, weshalb er Ehrenbürger bleiben sollte. Abgesehen davon, richtig ist, dass die extremen linken und rechten Ränder der Gesellschaft erstarken. Aber nur am rechten Rand der Gesellschaft gibt es eine Partei mit großem Zulauf, die vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft ist. Gegen eine größere Bandbreite politischer Richtungen ist nichts einzuwenden, solange sich die Parteien und Gruppierungen auf dem Boden der demokratischen Grundordnung bewegen. Das tun sie am rechten Rand der Gesellschaft ungleich weniger. Die Entscheidung des Gemeinderates bestärkt diesen rechten Rand, auch wenn das scheinbar keinem dort so wirklich bewusst zu sein scheint.

  2. Stephan Elmson

    // am:

    Sehr geehrte Frau Herbert-Fischer,

    da Sie Bezug auf meinen Kommentar nehmen gerne etwas ausführlicher zu meiner Meinung.
    Sie schreiben „In Anbetracht der politischen Entwicklungen in Deutschland und auch in der Region ist es ein fatales Zeichen“
    Sehe ich nicht so. Letztlich hat der Gemeinderat demokratisch entschieden. Das gilt es jetzt in einer Demokratie auch zu akzeptieren.
    Offensichtlich ist die Mehrheit des GR der Einschätzung, der Historikern Frau Dr. Scheide gefolgt.

    Ich lebe seit etwas mehr als 15 Jahren in Radolfzell. Von Herrn Kratt habe ich erst im Zuge der Berichterstattung gehört.
    Sicherlicht geht es vielen in Radolfzell genauso.
    Sie schreiben: “ In Anbetracht der politischen Entwicklungen in Deutschland […]“
    Wir erleben gerade ein Erstarken der politischen Ränder auf der rechten und etwas moderater auf der linken Seite.
    Die Politik, sowohl auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene muss sich die Frage stellen wieso ist das so. Was sind die Probleme der Menschen? Wie können wir sie lösen? Nur dies, wird das weitere Erstarken der Ränder dämpfen und im besten Falle die Entwicklung umkehren.

    Da hilft aber Symbolpolitik, was letztlich die Diskussion um Herrn Kartt ist, überhaupt nicht. Herr Kratt ist eine im Gesamtkontext verschwindend geringe historische Figur mit minimaler lokaler Bedeutung.
    Daher bin ich weiter der Meinung das die ganze Diskussion eine reine Zeit und Ressourcen Verschwendung ist und diese Symbolpolitik nichts bringt.
    Dadurch werden die Menschen nicht aufhören AfD und Linke zu wählen. Daher fände ich es besser, wenn der GR seine Energie in sinnvolle Dinge steckt, welche den Menschen wirklich helfen, anstatt sich mir Symbolpolitik zu beschäftigen.

  3. Christina Herbert-Fischer

    // am:

    Ich halte die Auseinandersetzung mit der Lokalgeschichte für dringend notwendig und dabei geht es in der Tat nicht um das Ansehen der Familie Kratt. Es geht auch nicht darum zu beurteilen, was für ein Mensch Herr Kratt privat war oder wie er sich nach dem Krieg in der Stadt eingebracht hat. In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg wurde vieles vergessen oder unter den Teppich gekehrt. Anders kann ich mir die Verleihung der Ehrenbürgerwürde für Herrn Kratt nicht erklären. Dass dies in der heutigen Zeit nicht revidiert wird, was gar nicht erst hätte geschehen dürfen, ist beschämend für die Stadt. In Anbetracht der politischen Entwicklungen in Deutschland und auch in der Region ist es ein fatales Zeichen. Es ist ganz sicher keine Verschwendung von Zeit und Ressourcen, es geht letztlich auch um unsere Demokratie heute und genau das betrifft die noch lebende Bevölkerung in der Stadt und im Landkreis.

  4. Libert Grimm

    // am:

    Hallo,
    ich finde, die Familie Kratt sollte den Mut aufbringen und den Antrag auf Löschung der Ehrenbürgerwürde für August Kratt stellen. Das hätte meinen höchsten Respekt verdient.

  5. Uta Schmidt-Neuschwander

    // am:

    Neulich zu Besuch in Dachau habe ich auf der dortigen Tafel entdeckt, dass Dachau eine Aussenstelle in Radolfzell hatte. Ergo musste der damalige Bürgermeister von dort Zwangsarbeiter aktiv angefordert haben, um in Radolfzell einen Schießstand bzw. Übungsplatz für SS Schergen bauen zu lassen. Es geht hier weniger um das Ansehen der Familie Kratt, als um den Umgang mit der Aufarbeitung des Dritten Reichs vor Ort für unsere nächsten Generationen. Es ist schon eine Provinzposse, wenn der aktuelle Gemeinderat es nicht hinbekommt, eine historisch saubere Aufarbeitung anzubieten. Hier zeigt sich noch immer, dass man in der Provinz das Ansehen der Stadt Radolfzell im Nachhinein nicht beschädigen möchte und weiterhin wegschaut. So nach dem Motto“ jetzt ist aber mal endlich genug davon“. Immerhin ist eine ganze jüdische Gemeinde in Gailingen deportiert und vernichtet worden. Den damaligen OB Kratt kann man nicht als Opfer darstellen, wenn hier in den Kasernen SS Garnisionen stationiert waren, die unter anderem die Juden in Gailingen deportiert haben. Man muss also gewusst haben, was hier gelaufen ist und hat nun leider so lange mit der historischen Aufarbeitung gewartet. Eine Schande für Radolfzell-mit Nähe zum Standort Universität Konstanz und entsprechend genügend Historikern vor Ort.

  6. Stephan Elmson

    // am:

    Bei solchen Diskussionen frage ich mich immer, hat eine Gemeinde keine anderen Probleme, als über jemanden der vor 56 Jahren verstorben ist zu diskutieren?
    Wie ich die Causa Kratt hier verfolge, gibt es zwei Historiker, welche zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen.
    Aber mal überspitzt gesagt, wen interessiert noch ein kleiner Provinz Bürgermeister aus der NS Zeit?
    Wie viele Radolfzeller kannten Kratt vor dieser Diskussion?
    Der historische Fußabdruck dieser Person dürfte verschwindet gering sein.

    Ich halte das für eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen. Der Radolfzeller Gemeinderat hat sicherlich wichtigere Dinge zu entscheiden für die noch lebende Bevölkerung.

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