Sonnenuntergang am seerhein

Optimist, Genießer und Freund der Menschheit

Sonnenuntergang am seerhein

Vor vier Wochen starb in Konstanz Tobias Gessl, der fast fünfzehn Jahre lang die Weinhandlung primavino führte, sich stets für eine bessere Welt einsetzte und sich auf seemoz eifrig an Debatten beteiligte.

Am 21. Juni 2025 hat die Menschheit mit Tobias Gessl einen ihrer überzeugtesten Befürworter verloren – und ich meinen besten Freund. Er überlässt nun uns Zurückgebliebenen die Aufgabe, jenen, die sich nicht vorstellen wollen, dass es eine anständige Welt geben kann, den Spiegel vorzuhalten, um ihnen zu zeigen, dass es auch an ihnen selbst liegt. Dass die Dinge nicht so bleiben müssen, wie sie sind, sondern sich zu einem ausgeglichenen und gerechten Ganzen entwickeln können.

Ich erinnere mich tatsächlich noch an den Tag, an dem wir uns das erste Mal wahrgenommen haben. Ein zusammengelegter Schwimmunterricht des Ernst-Mach-Gymnasiums in Haar. Es war 1983, das Jahr der geistig-moralischen Wende, für uns der Beginn der neoliberalen Welt, in der das Materielle wichtiger war als der wirkliche Wert. 

Tobias und ich hatten völlig unterschiedliche Hintergründe. Meine Eltern waren 1977 mit mir aus Hamburg nach München gezogen. Mein Vater hatte am DESY promoviert und erhielt eine Stelle als Physiker am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching, und so zogen wir vom sechsten Stock eines Hochhauses in Steilshoop in eine Haarer Neubausiedlung – mit Föhnblick auf die Alpen. Ich war der Fremde auf dem Spielplatz, wurde in der Hackordnung ganz unten eingeordnet. Körperliche Gewalt war hier, anders als in Hamburg, erzieherischer Alltag – von Eltern und Lehrern. 

Meine Mutter war, wie mein Vater, eine sehr belesene, geduldige Erklärerin, die sich dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit widersetzte, aber weil beide Eltern arbeiten mussten, war ich war früh auf mich allein gestellt.

Gegen Zensur und Autoritätsgläubigkeit

Der Unterschied zu Tobias’ Umfeld hätte auf den ersten Blick nicht größer sein können. Sein Vater war investigativer Journalist, Teil der Münchner Boheme, Zeitzeuge der Befreiung Münchens als Flakhelfer, der Schwabinger Krawalle und des Endes der Kolonialreiche. Tobias’ Mutter Christiane stammte aus einer Lübecker Kaufmannsfamilie, studierte Medizin in Zürich und arbeitete in München als Anästhesistin. Ihre Eltern waren während des Nationalsozialismus verfolgt worden. Sie hat den Deutschen nie verziehen, dass sie den Nazis erlaubt hatten, mit ihrer Verachtung der Menschlichkeit Kultur und Zivilisation zu zerstören. Doch es gab kein Museum, das sie nicht mit Detailversessenheit besuchte – und ihren Sohn daran teilhaben ließ.

Diesen Hintergrund konnte ich damals nicht ahnen, als ich den rotlockigen, sommersprossigen und mit blauen Lippen zitternden Jungen im Schwimmbad das erste Mal traf. Ich wollte der Schnellste sein – Tobias war gelangweilt. Ehrgeiz war ihm schon damals fremd. Er liebte die Bewegung nur, wenn ihm die Schwerkraft zur Seite stand. Er war ein sehr guter Skifahrer, der Schnee war sein Freund.

Freunde wurden wir so im Skilager in Fügen – dem Albtraum von Lehrern und Eltern. Während andere sich über Bravo-Lovestorys unterhielten, stellten wir überrascht fest, dass man Langeweile auch mit Gesprächen über das Weltgeschehen vertreiben konnte. Unsere Eltern hatten beide die Süddeutsche, bei Tobias war Die Zeit Pflichtlektüre, bei uns der Spiegel. Endlich hatten wir einen Gesprächspartner gefunden, mit dem wir unsere eigenen Gedanken teilen konnten. Wir verorteten uns klar in der Opposition – gegen Zensur und gegen Autoritätsgläubigkeit. 

Respekt nur jenen, die es verdient haben

Diese Opposition begleitete ihn auch an einer Schule, die sich das Leistungsprinzip zur Losung gemacht hatte. Von unserem Rektor durften wir uns anhören, dass wir die „künftige Elite“ seien. Ein Blick ins Klassenrund zeigte: tadelloses Elternhaus, geforderte Leistung, angepasste Langweiler. Tobias wollte diese Erwartungen nicht erfüllen – sie waren ihm zutiefst zuwider. Seine mit respektloser Schärfe gewürzte Sprache trieb die Lehrer zu immer schärferen Verweisen und seine Eltern in die Verzweiflung.

Es blieb nur ein Internat für „kompliziertere Fälle“ in Grafing. Doch auch wenn unsere Wege sich trennten – wir blieben verbunden. Zwar hatte er neue Freundeskreise – rebellische Jugendliche und einen echten Prinzen –, doch keinen Resonanzkörper, der ihm wirklich entsprach. Wir sahen uns darum oft an Wochenenden, erschufen in Rollenspielen neue Welten, gegossen aus Fantasie.

Er wechselte erneut das Internat – Biberstein bei Fulda. Auch dort suchte er sich seine Oppositionellen und brach Regeln. Eine Urinprobe leitete seine Rückkehr nach München ein – genau zu dem Zeitpunkt, als ich mein Streben nach Anerkennung aufgab. Ich wollte nicht mehr Teil jener Gesellschaft sein, deren Respekt ich mir zu verdienen versuchte und ersetzte die Schülermütze durch die Baskenmütze – zollte nur noch jenen Respekt, die es verdient hatten. Es war die gleiche Rebellion, die Tobias längst lebte.

Eine Instanz in der Gottfried-Keller-Straße

Wir staunten gemeinsam über das Ende des Kalten Krieges – und wussten doch, dass die Geschichte weiterging. Wir gingen kaum noch zur Schule. Beinahe hätten wir die Abiturprüfungen verpasst. Zum Glück wurden wir daran „erinnert“.

Auf dem Papier durften wir uns von nun an „die Reife“ attestieren lassen. Wir ließen sie lieber, wo sie war, und genossen die Freiheit, die uns die „Ausmusterung“ geschenkt hatte. Es gab Tage, da musste ich Tobias an einem „Zuviel“ der Freiheit hindern. So sorglos war sein Blick auf die Welt – oft ohne Rücksicht auf das Danach.

Tobias verließ München, um in Konstanz ein neues Zuhause zu finden. Ich blieb – und verzweifelte in der Einsamkeit der Großstadt. Konstanz war sein „Restaurant am Ende des Universums“. Es war unmöglich, gestresst dort anzukommen – die Fähre in Meersburg hinderte einen zwangsläufig daran. 

Hier fand Tobias seine erste Ahnung der Utopie, die er sich für die Welt wünschte. Er wurde eine Instanz in der Gottfried-Keller-Straße, dem Studentenwohnheim. Seine Tür stand immer offen. Gesellschaft war ihm wichtiger als jedes Statussymbol – ausgenommen ein gutes Buch, das fertigzulesen ihm am Herzen lag. Tobias hatte viele gute Bücher – und trotzdem immer Platz zwischen den Seiten.

Im Provinznest

Als mein eigenes Zutrauen in die Welt verloren ging, stand Tobias mir als Halt zur Seite. Er wusste, wo ich war, auch wenn ich es selbst nicht wusste. Und so fiel es mir nicht schwer, meine vergeblichen Münchner Mühen nicht als Scheitern, sondern als notwendigen Schritt zu begreifen. Endlich, auf der anderen Seite der Fähre angekommen, konnte ich ein wenig von der Sorglosigkeit spüren, die Tobias am Herzen lag.

Natürlich blieb er jemand, der mit Regeln wenig anfangen konnte – außer, sie konnten sich auf gut begründete Argumente stützen. Es tat ihm weh, wenn examinierte Geschichtslehrer nicht wussten, wann der Zweite Weltkrieg begann. Er wusste es – und kannte Anekdoten und Geschichten, die eben Teil der Geschichte sind.

Er genoss die Bedeutung des mittelalterlichen Konstanz – zumindest bis die Kaiserlichen die Stadt zum Provinznest degradierten. Ein Eindruck, den die Stadt ihm immer wieder unbewusst bestätigte. Auch wenn der Stadtrat sich dieses Urteil verbitten würde: Seine Argumente waren gut begründet.

Es war nie sein Wunsch, Lehrer oder Historiker zu werden – er dachte nur kurz daran, seinen Eltern zuliebe. Er wollte sein eigener Herr sein. Er schleppte Möbel, half in der Pflege, und war glücklich.

Leidenschaftlich für die Leichtigkeit des Seins 

Als er das primavino als Geschäftsinhaber sein Eigen nannte, wurde er endgültig frei. Tobias kämpfte sich durch Businesspläne, schlug sich mit Banken, Versicherungen und dem Zoll herum. Er schärfte seine große Leidenschaft für die Leichtigkeit des Seins. 

Es fiel ihm schwer zu verstehen, warum andere seine Sorglosigkeit nicht teilen konnten – warum sie besorgt um ihn waren.

Auch wenn er kein publizierender Historiker war – sein Wissen über das Werden der Zivilisationen war herausragend. Tobias ließ keine Gelegenheit verstreichen, diesen Schatz zu vergrößern. Er sah die Wunden, die vermeintlich zivilisierte Geister hinterlassen hatten. Er suchte Verbindungen zwischen Kulturen, folgte im Geiste den Spuren Alexander von Humboldts. Vorurteile waren ihm fremd. Und wo er sie bei sich selbst beobachtete, sprach er offen darüber. Es war ihm egal, woher jemand kam oder was jemand besaß – wichtig war ihm, dass man die Freiheit des Willens respektierte.

Er reflektierte das Zeitgeschehen, ordnete es in den Zusammenhang der Vergangenheit ein, und entwickelte Ideen für ein Morgen, das nur eine Menschheit kennt – in der die Bereitschaft zum Geben die einzige Währung ist, die zählt. Er lebte diese Idee im Jetzt. Er gab viel – und erwartete nichts außer gemeinsam verbrachter Zeit.

Leider wurde ihm zu spät bewusst, dass nicht alles, was er zu wollen schien, auch sein Wille war. Genuss ist subjektiv – und nicht alles, was genussvoll erscheint, verweilt. Doch auch dies bereitete ihm keine Sorgen. Tobias akzeptierte, dass er die Folgen seiner Sorglosigkeit erdulden musste.

Wer bei ihm im primavino eine Flasche Wein suchte, ging nicht, ohne einen Blick in den Spiegel geworfen zu haben, den Tobi vorgehalten hatte. Mir fehlen jetzt all die zukünftigen Momente, die ich mit ihm hätte teilen können.

Tobias, du fehlst – als Mensch und als Stimme der Hoffnung.

Text: Boris Brodmann / Fotos: privat

2 Kommentare

  1. Angelique Nuernberger-Llanos

    // am:

    Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Tobi denke. Optimist und Menschenfreund….ja!! Er war mein Freund, Ratgeber, Zuhörer und positiver Betrachter eines jeden mit ihm kommunizierten Problems. Die Gespräche mit ihm fehlen mir unheimlich. Aber er ist noch da!! In unseren Herzen. Und da er mir nun fehlt und ich Dinge, die mich umtreiben nicht mit ihm besprechen kann…. Greife ich in Gedanken darauf zurück „was Tobi wohl dazu gesagt hätte“. Aber wir hatten zusammen auch jede Menge Spaß und Quatsch im Kopf. Ich erinnere mich an ein äußerst erfolgreiches Weinfest. Hinterher haben wir bis in die frühen Morgenstunden in der Turnhalle Saltos geschlagen. Die Sprungkraft des Trampolins getestet und darüber diskutiert, wie wach man doch wieder wird, wenn man sich nach einem Zwanzig Stunden Tag noch mal sportlich betätigt.
    Und so neige ich durchaus dazu, mir vorzustellen dass er angekommen ist. Mit Petrus diskutiert, die Engel an die Wand quatschen und dafür Sorge trägt, dass der mahnende Zeigefinger auf die Menschheit in der Hosentasche bleibt. Und nach getaner Arbeit dann ausgiebig von Wolke zu Wolke hüpft. Immer mit dem Blick darauf, ob der, der da jetzt abgewiesen wird nicht doch aus guten Gründen noch mal eine Chance verdient hat. Unser Leben geht weiter, immer sehr schwer für die Leute, die vermissen und zurückbleiben. Aber ganz sicher werde ich mein Leben lang an ihn denken. Und gelegentlich werde ich mich fragen: wie hätte er die Sache gesehen? Es ist mir ein Glück, ihn kennen gelernt haben zu dürfen.

  2. Tobias Braun

    // am:

    Danke für diesen Nachruf. Tobias wird fehlen, und im Lesen konnte ich der Person nochmal näher kommen, und seine Herzlichkeit noch einmal empfinden.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert