
Regieren in Europa und den USA mittlerweile faschistische Parteien? Man dürfe diesen historischen Begriff nicht überstrapazieren, argumentiert der Ermatinger Schriftsteller Jochen Kelter, stattdessen sollte man genau hinschauen und differenzieren. Eine Übersicht in finsteren Zeiten.
Angesichts der zahlreichen im letzten Jahrzehnt aufgetauchten, politisch rechten oder rechtsradikalen Parteien und Staaten, nicht nur in Europa, ist häufig die Rede davon, dass die Welt in eine längst überwunden geglaubte Vergangenheit des Faschismus und Nationalsozialismus der zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts zurückfällt. Aber es ist angebracht, die historischen Fakten und Erfahrungen, die aus einer Zeit von vor hundert Jahren stammen, auf ihre Gültigkeit in der stark veränderten Realität des 21. Jahrhunderts zu überprüfen.
Denn es hat sich ja vieles verändert: Seither gab es Flüge zum Mond, wir erleben eine völlig veränderte Arbeitswelt, veränderte Sozialstrukturen zumindest in der westlichen Welt (aber auch in Asien oder Lateinamerika), einen durch technischen Fortschritt, billige Waren aller Art, durch den Neoliberalismus erzeugten Massenkonsum in fast allen Bereichen des alltäglichen Lebens.
In Israel verlängert Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit seinem Kabinett aus rechtsreligiösen Fanatikern den Krieg in Gaza, auf den Golanhöhen, im Libanon und sogar in Syrien, um so lange wie möglich an der Macht zu bleiben. Danach nämlich wäre er nicht nur die Macht los, sondern müsste mit einem Prozess unter anderem wegen Bestechlichkeit und Betrug der sehr wohl funktionierenden Justiz rechnen. Netanjahu ist also kein Faschist, vielmehr offensichtlich ein Krimineller. Als Jude kann er ja kein Nazi sein. Aber weiß man, ob er kein Faschist ist?
Strafe für Marine Le Pen
In Frankreich war der Vater von Marine le Pen, der Chef des Front National, ein Kollaborateur und Kriegsverbrecher. Seine Tochter Marine le Pen, Vorsitzende des Rassemblement National, ist bemüht, sich als gemäßigte politische Kraft in der Mitte der Gesellschaft zu etablieren, also auch für gemäßigte Bürgerliche wählbar zu sein. Daher auch die Umbenennung ihrer Partei. Und sie hätte Chancen gehabt, den amtierenden Staatspräsidenten Emmanuel Macron zu beerben.
Nun ist sie kürzlich wegen der Finanzierung von Mitarbeitern in Frankreich, die schon ihr Vater wegen der dazumal stets klammen Parteikasse begonnen hatte, von einem Pariser Gericht mit einem Verbot verurteilt worden: sie darf fünf Jahre lang nicht kandidieren. Sie bekam zwar nicht die Höchststrafe, nämlich zehn Jahre Haft, eine Million Euro Bußgeld, zehn Jahre Nichtwählbarkeit. Aber immerhin vier Jahre Haft, davon zwei Jahre auf Bewährung und 100.000 Euro Geldstrafe. Dabei hatte sie früher solche Finanzierungen selbst betrieben. Dass sie das bestreitet, gehört zu den Lügen von Rechtspopulisten, die heute das Gegenteil von gestern behaupten.
Kritisch sehen dieses Urteil auch konservative Parteien und Milieus aus ureigenem Interesse. Sogar die linke Partei La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon ist nicht einverstanden. Das sind allesamt keine Faschisten, aber zumindest unappetitliche Figuren und Parteien, um es freundlich auszudrücken. Immerhin könnte das Urteil 2026, ein Jahr vor der nächsten Präsidentenwahl, noch aufgehoben werden.
Dem Staat Gehorsam schuldig
In Ungarn herrscht seit mehr als zehn Jahren Viktor Orbán mit der Partei Fidesz. Sie entstand 1988 im Untergrund aus einer Studentenbewegung gegen die damals herrschende Sozialistische Arbeiterpartei, also die Kommunisten. Bereits 1956 war es zu einem Volksaufstand gegen die sowjetische Besatzung gekommen, durch den kommunistischen Ministerpräsidenten Imre Nagy, der nach seiner Erschießung 1958 zum Volksheld wurde. In der Volksschule, heute Grundschule, haben wir – damals herrschte der Kalte Krieg zwischen West (USA) und Ost (Sowjetunion) – Fotos von ihm und den sowjetischen Panzern aus der Zeitung ausgeschnitten und auf Papierbögen geklebt, die dann ausgestellt wurden.
Orbán ist ein rechtsradikaler Politiker mit Machtinstinkt, der eine neue Verfassung installierte und bei den Wahlen 2014 rund 45 Prozent erreichte, vier Jahre später knapp 50 Prozent und im Jahr 2022 54 Prozent. Er errichtete eine „illiberale Demokratie“ („Nur weil ein Staat nicht liberal ist, kann er immer noch eine Demokratie sein“), beschnitt die Befugnisse des Verfassungsgerichts. Und er konnte seine dritte Amtszeit antreten. Ein pro-europäisches Parteienbündnis erzielte lediglich knapp 35 Prozent.
Um die Menschenrechte ist es laut Amnesty International nicht gut bestellt, insbesondere diejenigen von Homosexuellen und der LGBTQ-Community. Aber auch denen von Ausländern. Ungarn sei ein christliches Land, und die Städte würden „islamisiert“. Nach dem 1. Weltkrieg und der Zerschlagung des Kaiserreichs Österreich-Ungarn verlor Ungarn mehr als die Hälfte seines Gebiets. In Transleithanien, so der Ausdruck für die unter ungarischer Verwaltung stehende Reichshälfte, ging es ungleich autokratischer zu als im österreichischen Cisleithanien. Alle Untertanen mussten sich schriftlich und mündlich des Ungarischen bedienen.
Die Wunde ist im heutigen Ungarn noch immer nicht verheilt und stützt möglicherweise die Autokratie Orbáns. Aber Orbán ist kein völkischer Faschist. Privatleute können weißer, brauner oder grüner Hautfarbe sein, Christen oder Atheisten. Nur dem Staat, also Orbán, sind sie Gehorsam schuldig. Der Europäischen Union (EU) tanzt er auf der Nase herum, kann aber wegen der in diesem Punkt falschen Konstruktion der EU nicht ausgeschlossen werden.
Die erste Frau
Und dann ist da Italien. Eher ein etwas besonderer Fall. Die Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ist Chefin der Partei Fratelli d’Italia („Brüder Italiens“), der wohl einzigen explizit postfaschistischen (und nicht nur rechtsextremen) Partei in Westeuropa. Der Name der Partei ist dem Anfang der italienischen Nationalhymne entnommen, die ausgerechnet von den Kämpfern der „Resistenza“ gesungen wurde, also von linken Partisanen, die gegen Ende des 2. Weltkriegs gegen die Truppen Mussolinis und der deutschen Wehrmacht in Norditalien kämpften.
So macht sich Meloni das ihrer Politik entgegengesetzte Erbe des antifaschistischen Widerstands zu eigen, wohl in der Hoffnung, ihre Politik auch Wählern gemäßigter Parteien schmackhaft zumachen. Sie ist seit Oktober 2022 als erste Frau überhaupt Ministerpräsidentin. Länger waren nur der erste „Presidente del Consiglio“ Alcide de Gasperi (1945–1946 und 1947–1953) sowie der Multimillionär Silvio Berlusconi (1994–1995, 2001–2006, 2008–2011) im Amt. Die durchschnittliche Lànge der Amtszeit von italienischen Regierungen beträgt um die achtzehn Monate. Meloni regiert zusammen mit der rechtspopulistischen „Lega“ von Mattteo Salvini und der „Forza Italia“.
Anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2024, der größten der Welt, kam es zum Eklat. Italien war Ehrengast, und der Mafia-Jäger Roberto Saviano, der Meloni in einer Talkshow einen „Bastard“ genannt hatte, wurde ebenso wie andere Autoren, etwa Claudio Magris, nicht von der Regierung eingeladen, sondern nahmen mit eigenen Mitteln teil. Stattdessen wurden Hunderte von angepassten und eher mittelmässigen Schriftstellern von der Regierung alimentiert. Aber die europäischen Nachbarn scheinen Meloni zu brauchen. Die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen benötigt die italienischen Stimmen. Auch der bisherige Bundeskanzler Olaf Scholz sucht wie andere ihre Nähe. Was von dieser Nähe von doch so dezidiert demokratischen Politikern mit einer dezidierten Postfaschistinzu halten ist, darüber mag sich jede und jeder selber seinen Reim machen.
Die CDU rückt nach rechts
„Whatever it takes“: Mit diesen nonchalanten Worten umschrieb der zukünftige deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz salopp das 500 Milliarden Euro schwere „Sondervermögen“, das weniger aus Vermögen als vielmehr aus Schulden besteht, die künftige Generationen über viele Jahrzehnte werden abstottern müssen. Eine Lockerung der Schuldenbremse komme mit ihm nicht in Frage, hatte er noch vor kurzer Zeit gesagt. Dass auch in Deutschland ein weiterer politischer Rechtsruck bevorsteht, zeigt auch der Wille zur massiven Abschiebung von Asylbewerbern, die CDU und AfD gemeinsam beschlossen. Keine Rede mehr von einer „Brandmauer“ zwischen Konservativen und Rechtsradikalen. Die CDU rückt wieder nach rechts, nachdem die Vorgängerin Angela Merkel sie in die Mitte verschoben hatte.
Apropos Abschiebungen: Da sollen Menschen auch gegen europäisches Recht des Landes verwiesen werden – auch in Drittländer, wie es jüngst in Italien versucht wurde. Das passiert beinahe überall in Europa. Selbst in den Niederlanden, mit einem seit dem 17. Jahrhundert durch Handel gewachsenen und im Gegensatz zu Deutschland selbstbewussten Bürgertum, wo jetzt der rechtsradikale Geert Wilders der starke Mann ist. Niemand in Europa interessiert sich dafür, dass die Abgeschobenen nicht aus Abenteuerlust nach Europa kommen, sondern vor Klimawandel, Armut, Hitze und Dauerregen flüchten, den die reichen Industrienationen mit ihren Autos, Heizungen, Kohlekraftwerken, Industrieanlagen und ihrem sonstigen Luxus verursachen.
Nicht alle europäischen Politiker sind zu Faschisten geworden. Sie sind nur nach rechts gerückt, wie das vor zwanzig Jahren nicht vorstellbar war.
US-Gewalt, US-Krieg, US-Diskriminierung
In den USA ist seit kurzem Donald Trump zum zweiten Mal Präsident. Nach einer Schockstarre zu Beginn gehen inzwischen an vielen Orten insgesamt Hunderttausende auf die Straße und protestieren. Das ist noch keine Massenbewegung, aber immerhin. Nur geht darüber vergessen, dass Gewalt, Krieg, Verbote und Rassendiskriminierung schon immer existiert haben, sie gehören gleichsam zur US-amerikanischen DNA.
Das hat mit der Vertreibung und Ausrottung der indianischen Urbevölkerung beim Vordringen der Siedler nach Westen und ihrer Landnahme begonnen. In den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts richtete nach der ideologischen Zweiteilung der Welt zwischen den ehemaligen Kriegsverbündeten USA und Sowjetunion Senator Joseph McCarthy (der Alkoholiker war, und das in Amerika!) die Anhörungen zu sogenannten Un-American Activities ein.
Vor diesem Ausschuss musste neben vielen anderen Bertolt Brecht aussagen und gab zu Protokoll, er sei niemals Mitglied einer kommunistischen Partei gewesen. Bald danach reiste er in die zukünftige DDR aus, in der er auch nicht glücklich wurde: Nach dem Volksaufstand von 1953 gegen die sowjetischen Besatzer sagte er sinngemäss: Und wenn sich die Regierung ein anderes Volk wählen würde … .
MAGA gab’s schon früher
J. Edgar Hoover war fünfzig Jahre lang Chef des FBI. McCarthy konnte er – warum auch immer – nicht ausstehen. Er war homosexuell (in Amerika!), machte seinen Liebhaber zu seinem Stellvertreter und stellte vorzugsweise weiße protestantische Männer ein. Katholiken duldete er, Juden mied er, Frauen ignorierte er, Linke verfolgte er, Schwarze hasste er. Den Bürgerrechtler Martin Luther King demütigte er öffentlich, ließ ihn überwachen und unterschob ihm gefälschte Briefe.
„Make America Great Again“ gab es also schon lange vor Trump. In den sechziger Jahren wurde John F. Kennedy, das (nicht wirklich so glänzende) Idol auf offener Straße in einer offenen Limousine erschossen. Es folgten der Krieg in Vietnam, in Afghanistan, der Golfkrieg. Mindestens 125 Kriege und bewaffnete Konflikte haben die USA seit 1945 geführt. Eine Rekordzahl.
Und nun wieder Trump. Im Schlepptau seinen Joseph Goebbels, den Elon Musk, ein weiterer Gestörter in Trumps Mannschaft, der aus verschiedenen Ehen 14 Kinder hat und mit 369 Milliarden US-Dollar der reichste Mann der Welt ist (gefolgt von Jeff Bezos mit 202 Milliarden, Mark Zuckerberg mit 188 und Larry Ellison mit 166 Milliarden).
Trumps irre Züge
Ihr Reichtum ist Resultat des Neoliberalismus, der von den Chicago Boys im Versuchslabor Chile unter dem Militärmachthaber Augusto Pinochet im September 1973 begonnen hatte, und nun in den USA zur Verarmung eines Großteils der Bevölkerung führt. Trump, der blonde Irre, der die halbe Welt mit Zöllen überzieht, die andauernd wechseln, weist in der Tat Züge des Faschismus auf, indem er (im Unterschied zu Orbán) die Menschen ihrer individuellen Entscheidungen beraubt, wenn er ihnen vorschreibt, was sie zu tun und zu denken haben.
Universitäten, die nicht nach seiner weltanschaulichen Pfeife tanzen, werden die Mittel gekürzt, Diversität wird verboten. Für „People of Colour“, für „Wokeness“ – ursprünglich einer Bewegung gegen Rassendiskriminierung, die an den Universitäten im Sinn eines sehr US-amerikanischen Puritanismus pervertiert wurde, darf nicht mehr geworben werden; Tausende Menschen, etwa Beamte, werden entlassen; Wissenschaftler verlassen das Land (nach Europa), weil sie nicht mehr frei forschen können.
Und wie einst Adolf Hitler, der größte Feldherr aller Zeiten, will er sich fremde Territorien einverleiben: Kanada zum 51. Staat der USA machen, Grönland annektieren, der Ukraine Rohstoffe abpressen, den Panamakanal in „Kanal der USA“ umbenennen. Es ist ein Grauen. Das wohl nicht so bald aufhören wird.
Text: Jochen Kelter
Bild: Filip Andrejevic, auf unsplash.com (gemeinfrei)
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