
Ein Buch berichtet vom ereignisreichen Leben eines linken Arbeiters, der sich stets für eine bessere Gesellschaft einsetzte. Und erzählt nebenbei auch einiges über die Geschichte Oberschwabens, die nicht allen bekannt sein dürfte.
Baienfurt, eine Kleinstadt bei Ravensburg. Einst Endstation der legendären Überland-Straßenbahn im Mittleren Schussental und ein Ort, so katholisch und konservativ wie die umliegenden Gemeinden. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte hier die damals noch fortschrittliche SPD ganze drei Stimmen gewonnen, und doch zeigte sich die lokale Prominenz entsetzt: „Der rote Fuchs hat sich eingeschlichen“, schimpfte der Pfarrer. Dabei kam es noch schlimmer: Nach Kriegsende und dem Sturz der Monarchie holte die Linke bei der Wahl Anfang 1919 ein Drittel aller Stimmen.
Ausschlaggebend für diesen beachtlichen Wandel waren mehrere Faktoren. In den 1860er und 1870er Jahren hatte sich gleich eine Reihe von Großbetrieben im Schussental niedergelassen und allmählich ihre Produktion ausgeweitet: Escher Wyss und die Spinnerei Spohn in Ravensburg, die Maschinenfabrik Weingarten und nicht zuletzt die Papierfabrik Baienfurt. Dadurch entstand ein Proletariat, das eine eigene Kultur entwickelte und das mittlerweile eingeführte allgemeine Wahlrecht zu nutzen wusste.
Und nicht zuletzt lebten hier eine Reihe von Familien, die sich der Ausbeutung und Unterdrückung widersetzten und die Arbeiter:innenpolitik und -kultur mit prägten. Beispielsweise die Thomas. Der Großvater von Alois Thoma, des Antifaschisten und Kommunisten, dessen Leben das Buch „Sie machen weite Reisen, Herr Thoma!“ nachzeichnet, war Maurer, arbeitete zwischendurch auch bei Bauern und gehörte der Sozialdemokratie an. Die Großmutter sortierte in der Papierfabrik Baienfurt Lumpen.
Und der Vater, der ebenfalls Alois hieß und den Beruf des Schlossers gelernt hatte, war 1907 auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart gewesen, wo er Lenin, August Bebel, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin erlebt hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er ebenfalls in der Papierfabrik und trat der KPD bei, die damals in Baienfurt bald zur „mitgliederstärksten politischen Gruppierung“ aufstieg.
Repression und Verfolgung
All dies schildert Werner Heinz zu Beginn seiner Biografie von Alois Thoma. Der Historiker skizziert die turbulenten Zwanzigerjahre, als der Hunger zunahm, die Inflation groteske Ausmaße annahm, die NDSAP einen Putsch versuchte und die Linke sich auf eine Revolution vorbereitete, die nie kommen sollte. Und mittendrin immer wieder die Familie Thoma, in die 1927 Alois hineingeboren wurde.

Der Autor beschreibt die damaligen Ereignisse mitunter skizzenhaft, teilweise aber recht ausführlich, schließlich prägten sie Alois, auf dessen Erinnerungen das Buch basiert: 1932 entließ die Papierfabrik, mittlerweile in Besitz der Grafen von Waldburg-Zeil – den Nachfahren des „Bauernjörgs“ – zahlreiche Arbeiter:innen, darunter alle KPDler:innen, nicht aber die Nazis, die sich im Werk breit machten. 1933 intensivierte sich die Verfolgung der Linken, der Radfahrerverein „Solidarität“, die Naturfreunde und die linke Schalmeienkapelle wurden verboten, Oppositionelle landeten im KZ auf dem Heuberg, darunter auch vier Aktivisten aus Baienfurt, Freunde der Familie Thoma.
An vieles, was damals geschah, erinnerte sich der junge Alois in seinen Gesprächen mit dem Autor nicht, dazu war er zu jung. Aber manches blieb ihm im Gedächtnis haften, beispielsweise die Ohrfeige, die ihm der NSDAP-Ortsgruppenleiter verpasste, weil er ihn nicht perfekt gegrüßt hatte (der Nazi wußte natürlich, dass sein Vater Kommunist). Insgesamt jedoch, so seine Erinnerung, habe man die Lage in Baienfurt während des Dritten Reichs „als nicht so bedrohlich“ empfunden, „weil sich die Nachbarn ja kannten und einander nicht unbedingt schaden wollten“.
„Sei net so frech, sonst kommst ins KZ“
Andererseits erlebte er während seiner Lehrzeit im Ravensburger Werk des Schweizer Unternehmens Escher Wyss, wie das Nazi-Regime etwa mit Zwangsarbeiter:innen umsprang – der Charakter des Systems blieb ihm nicht so verborgen, wie das später viele von sich behaupteten. Man habe von den Konzentrationslagern gewußt, sagt er im Buch, immer wieder seien Sprüche wie „Aus dir wird Seife gemacht“ oder „Sei net so frech, sonst kommst ins KZ“ gefallen.
Ganz so schlimm wie anderen im Umfeld seiner Familie erging es ihm aber nicht: Er wurde kurz vor seinem Lehrabschluss im Alter von 16 Jahren eingezogen, an der Flak ausgebildet und erst im September 1945 aus der Gefangenschaft entlassen. Da hatte der lokale Bäcker bereits den Backofen anheizen müssen, in dem die Unterlagen der NSDAP und der Gemeinde verschwanden.
Nach dem Krieg – Alois beendete seine Lehrzeit 1946 und blieb noch drei Jahre bei Escher Wyss – trat sein Vater wieder der KPD bei (die bei den Wahlen 1947 in Südwürttemberg-Hohenzollern 7,3 Prozent der Stimmen gewann). Alois folgte ihm 1951 in die Partei, schloss sich der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) an und erinnert sich, dass bei der Gründungsversammlung der Ravensburger VVN der KZ-Häftling Rudi Goguel eine Rede hielt – jener Goguel, der das KZ-Lied von den Moorsoldaten komponiert hatte und für kurze Zeit Mitherausgeber des Südkurier gewesenwar
Verfassungsschutz der Alt-Nazis
Auch der Oberbürgermeister von Ravensburg und der Landrat beteiligten sich an der Gründung der VVN-Ortsgruppe. War also alles gut, hatte die Gesellschaft die Lehren gezogen? Von wegen. Alois Thoma ging nach St. Georgen, wo er seine Frau Irmgard kennenlernte (die vor wenigen Tagen, Anfang September, gestorben ist). Doch die verlor ihren Job, weil er für ein kommunistisches Blatt Artikel über die Zustände im Betrieb schrieb.
Beide wechselten nach Waldshut und bald darauf nach Baienfurt, wo Alois in der Gießerei und Pumpenfabrik Stoz zu arbeiten begann. Dort tauchte bald der Verfassungsschutz auf, um vor dem in den Betriebsrat gewählten Thoma zu warnen – allerdings ohne Folgen: Der Unternehmer, so heißt es im Buch, „hatte was gegen Schnüffelei“.
Nicht so auf nationaler Ebene: 1950 erließ die Regierung von Konrad Adenauer (CDU) ein Berufsverbot für KPD-Mitglieder im öffentlichen Dienst. 1951 beantragte sie ein Verbot der KPD, das 1956 vom damals noch von Altfaschisten durchsetzten Bundesverfassungsgericht verfügt wurde. Es folgten Hausdurchsuchungen (auch bei den Thomas) und Verhaftungen, veranlasst von Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz, deren Personal noch 1959 zu drei Vierteln aus ehemaligen NSDAP- und SS-Mitgliedern bestand.
Festnahmen und Inhaftierung
Und doch ließ sich Thoma nicht unterkriegen. Er blieb in der Partei, beteiligte sich an (illegalen) Treffen im Schwarzwald und in Österreich, an Demos gegen die Wiederbewaffnung, an geheimen Sitzungen im Ravensburger „Bärengarten“. Er wurde in der Deutschen Friedensunion aktiv – und stand unter ständiger Beobachtung.
Als er einmal von einem Besuch in Berlin zurückkehrte, nahm ihn der Staatsschutz auf dem Flughafen Stuttgart wegen vermuteter illegaler Tätigkeit fest: „Sie machen weite Reisen, Herr Thoma. Wo waren sie?“, wurde er gefragt (daher der Titel des Buchs).
Anschließend verhörte ihn ein Bundesrichter, der ab 1937 Mitglied der NSDAP gewesen war. Alois Thoma landete im Zentralgefängnis von Karlsruhe, in dem 1944 Mitglieder der französischen Widerstandsorganisation „Réseau Alliance“ hingerichtet worden waren, und verbrachte viereinhalb Monate in einer neun Quadratmeter großen Einzelzelle. Doch der Staatsanwalt konnte ihm nichts nachweisen.

Kooperation mit Partisanen:innen-Komitees
Zurück in Oberschwaben nahm er seine Arbeit bei der MTU Friedrichshafen wieder auf, wo er seit seit einigen Jahrengearbeitet hatte und der Betriebsrat seine Wiedereingliederung unterstützte. Alois Thoma ging auf Ostermärsche, beteiligte sich an Demos gegen den Vietnamkrieg, unterstützte die Aktionen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) – und ließ sich 1968 in den Bezirksvorstand der neu gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) wählen. Er besuchte Fortbildungskurse in der DDR, koordinierte die Aktionen der VVN und engagierte sich für die Zusammenarbeit mit französischen und italienischen Widerstandskämpfer:innen – beispielsweise bei Gedenkanlässen auf dem Colle del Lys im Piemont und auf dem KZ-Friedhof Birnau.
Ein Wechsel in die Selbständigkeit ermöglichten ihm neue Aktionsbereiche: Alois Thoma gründete einen Betrieb als Verfuger (von Fliesen), ließ sich einmal im Auftrag eines Unternehmens in den Irak schicken, engagierte sich beim Bau eines internationalen Jugendbegegnungszentrums in Auschwitz und unterstützte (ehrenamtlich natürlich) den Ausbau des linksalternativen Kulturzentrums „Linse“ in Weingarten.
Dass der„rote Verfuger“, wie er bald genannt wurde, bei allen großen Friedensdemos Anfang der 1980er Jahre gegen die NATO-„Nachrüstung“ dabei war – im Oktober 1981 im Bonner Hofgarten (300.000 Teilnehmer:innen), im Juni 1982 auf den Bonner Rheinwiesen (500.000), im Oktober 1983 bei der Menschenkette Stuttgart-Ulm (300.000) –, überraschte niemanden.
Ein lesenswertes Porträt
Die Starken kämpfen jahrelang, soll Bert Brecht einmal geschrieben haben, die Stärksten aber ihr Leben lang. Dass Alois Thoma, mittlerweile 97 Jahre alt, einer dieser Stärksten ist, zeigt das Buch des Regionalhistorikers Werner Heinz sehr eindrücklich. Und auch wenn dessen Thoma-Biografie mitunter ein bisschen weitschweifig ausfällt mit Exkursen, die den Blick aufs Wesentliche verstellen, einige vermeidbare Fehler enthält und die mitunter fragwürdige Politik der realsozialistischen Parteien und Staaten an keiner Stelle thematisiert: Das Buch ist das Porträt eines kleinen Manns, der mit seiner Familie ein Leben lang für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden kämpfte.
„Es war der Militarismus, der uns ins Unglück gestürzt hat“, sagt Alois Thoma. Also bereitet ihm auch die aktuelle Lage in der Welt Sorgen, wie er der Schwäbischen Zeitung erzählte. Und was wünscht er sich für die Gesellschaft von heute? „Eine Ende der Kriege auf dieser Welt, Frieden und Gerechtigkeit für die jungen Leute“.
Das mag wie ein hoffnungsloser Appell klingen. Aber aufgeben gilt nicht.

Fotos: Die Bilder sind alle dem Buch entnommen. © Sammlung Luginsland/privat und Doris Fuchs / Josef Kaiser (Colle del Lys)
Werner Heinz (Autor), VVN-BdA Ravensburg (Hrsg.): „Sie machen weite Reisen, Herr Thoma!
Alois Thoma – ein politisches Leben in Oberschwaben“. Verlag Druckerei Kleb, Wangen im Allgäu 2023, 122 Seiten, 14,80 Euro. ISBN: ISBN 978-3-9815231-7-1
● SWR-Bericht über das Kriegsende vor 80 Jahren: „Alois Thoma aus Baienfurt kämpfte als Jugendlicher im Zweiten Weltkrieg“
● Buchbesprechung in der Zeitung „Unsere Zeit“ (UZ)
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