
Am 25. und 26. Juni war das Holzwurmtheater aus Wissen bei Hamburg in der Gemeinschaftsschule Gebhardt zu Gast. 270 Schülerinnen und Schüler von drei verschiedenen Schulen sahen das Stück „Amy, Tarik und das Herz-Emoji“ und diskutierten über Cybermobbing.
Als der Applaus abebbt, tritt Jens Heidtmann vor den Spieltisch, auf dem eben noch etwa 40 cm große Puppen die Klasse 6b dargestellt haben, und guckt in die Gesichter der vor ihm sitzenden Schülerinnen und Schüler. „Wer“, will er wissen, „wurde denn in dieser Geschichte als erster gemobbt?“ Sofort schnellen einige Finger nach oben und die Kinder sind sich einig: das war Pavel. Sie hatten also gut aufgepasst.
Pavel hieß nämlich eine Figur, die einen kleinen Jungen im grünen Hoodie, der seine kecke rote Haartolle verbarg, darstellte. Pavel legt sein Smartphone nicht einmal nachts aus der Hand, Pavel ist wie verwachsen mit seinem Computer und, ergo, muss auch er es gewesen sein, der diese ganzen fiesen Videos ins Netz gestellt haben, die schließlich dazu führten, dass Tarik darüber nachdenkt, die Schule zu verlassen. In der dargestellten Geschichte sind sich die Kinder der 6b nämlich genau darüber einig: Pavel war schuld. An den Videos. An dem Schlamassel und dem ganzen Ärger. Einfach an allem.
Das Urteil der Zuschauerinnen und Zuschauer, Schülerinnen der fünften Klassen der Gemeinschaftsschule Gebhardt, der Waldorfschule Konstanz und der Unterseeschule Radolfzell, die sich im Gymnastikraum der Pestalozzihalle versammelt hatten, fiel anders aus. Pavel, das war doch der, dessen Auftritt die Jungs, die da an der Bushaltestelle vor der Schule standen und über Fußball quatschten, mit einem „Vorsicht, Pavelalarm!“ ankündigten. Pavel, das war doch der, der bloß so auf dem Handy Fußball spielen konnte und eben nicht „richtig“.

„Leg Dich nicht im Internet mit mir an“
Tja, und das nahm dieser Pavel diesem arroganten Stürmer – drei Tore, hah, hatte er doch gerade bei Soccer24 VIER, VIER!!! geschossen –, diesem Tarik schwer übel: „Leg Dich nicht im Internet mit mir an“, dachte er, als er ein Video vom letzten Tor, das Tarik geschossen hatte, im Klassenchat fand. Und stellte ein Video ins Netz, das – in offensichtlichem Schein – zeigte, wie Tarik einen Ball an den Kopf kriegte. Fand Oskar witzig. Naja, der hatte ja auch noch ein Hühnchen mit Tarik, diesem Emporkömmling, zu rupfen, war Oskar doch der unumstrittene Stürmerstar der Fußballmannschaft der Schule gewesen, bis dieser blöde Tarik vor einem Jahr kam und ihn verdrängte. Aber wer zuletzt lacht …
Das freilich ist im Stück des Holzwurmtheaters sehr schwer zu sagen. Schließlich zeigt es, wie eine Gemengelage von Gefühlen, verbunden mit Kommunikation über social media, einen sozial fast alle Beteiligten schädigenden Tsunami erzeugt. Jens Heidtmann (Figurenspiel) und Petra Erlemann (Technik) haben ein elegantes Spielszenario entwickelt, um die komplexe Problemlage in großer Klarheit auf die Bühne zu bringen.
Das Ensemble von 10 Charakteren ist so konstruiert, dass es sich leicht von einem Spielenden in klar überschaubaren Konstellationen stellen lässt. Man darf sich das ruhig ein wenig wie das Stellen in therapeutischen Situationen imaginieren. Die Figuren haben genau einen Freiheitsgrad: Auf einem blockhaften Körper sitzt ein mittels eines gebogenen Führungsgriffs beweglicher Kopf. Im Unterschied zum Familienstellen in der Therapie sind die Figuren jedoch nicht schematisiert, sondern bilden durch individuelle Gestaltung von Gesichtern, Frisuren und Kleidung typische Vertreter:innen einer Schulklasse ab. Das Publikum kann sich leicht wiederfinden in diesen Figuren, wie auch die unmittelbaren Reaktionen der zuschauenden Schülerinnen und Schüler beim ersten Auftritt der Figuren deutlich zeigen. Das ist nicht irgendwer. Das sind wir selbst. Auch sprachlich sind die Schülerinnen und Schüler des Stücks klar unterscheidbar.
Die auch für einen einzigen Spielenden einfache Positionierbarkeit der Figuren lässt vor allem wechselnde Gruppenkonstellationen schnell einsichtig werden. Wer steht mit wem zusammen, wer bleibt allein, wer verbündet sich mit wem, wer wird ausgeschlossen? Mobbing wird auf diese Weise als sozialer Prozess, nicht als Tat einzelner Schuldiger gezeigt. Die meisten Figuren sind mal Täter, mal Opfer, mal Mitläufer:innen und mal scheinbar Gleichgültig-Unbeteiligte. „Wer Mobbing beobachtet und nichts tut, ist nicht neutral, sondern macht mit“, betont Jens Heidtmann im Anschluss an das Stück. Und Petra Erlemann ergänzt: „Wendet Euch an unbeteiligte Erwachsene.“

Das sind wir selbst
Die Verschärfung von Mobbing durch Social-media-Plattformen aller Art wird einem zweiten Spielmedium anvertraut: Hinter dem Spieltisch steht eine Projektionsfläche aus zwei verschiebbaren Flächen, die einer schwarzen Schultafel ähnlich sieht. Auf dieser Fläche erscheinen projizierte Kreidezeichnungen: Rechtecke für Bildschirme, Sprechblasen mit Emojis für Reaktionen von Chat- bzw. Forumsteilnehmenden, Videos und Fotos werden in Aquarellform dargestellt.
Radikal reduziert, bleibt jedoch für jeden sofort einsichtig, was hier gemeint ist. Wenn ein Fragezeichen oder ein Smiley von der einen auf die andere Tafelhälfte wandert, dann muss niemand erläutern, dass hier gerade Nachrichten verschickt und empfangen werden. Entsprechende Sounds unterstützen diese Visuals, die ein junger Kommunikationsdesigner für das Holzwurmtheater gestaltet hat. Textnachrichten werden jedoch von Jens Heidtmann gesprochen: so bleiben die Visuals einfach und überschaubar.
Besonders eindrücklich, auch für die sofort darauf reagierenden Schülerinnen und Schüler, ist die Darstellung der netzwerkförmigen Verbreitung von Posts im Netz. Der erste Post erscheint zentral, jede Reaktion auf diesen Post wird wild vom Zentrum her immer weiter an die Ränder der Projektionsfläche und darüber hinauswuchernd durch Linien dargestellt, die Verbindungen zwischen dem zentralen Bild und den als Sprechblasen skizzierten Reaktionen sowie Verknüpfungen der Sprechblasen untereinander herstellen.
Netzwerkförmige Verbreitung von Posts
Das Netz – ursprünglich sind Netze Fallen von Spinnen, Fischer:innen, Jäger:innen – wächst immer rasanter, ein treibender Soundtrack verstärkt den Eindruck eines unaufhaltsam schnellen und in seinen Konsequenzen unabänderlichen Geschehens. „Was einmal im Netz ist“, so der Kommentar der Figurenspielenden im Anschluss, „kriegt man da nur schlecht wieder raus.“

Es war deutlich, dass den Kindern das Thema Cybermobbing sehr naheging. Ein großer Prozentsatz der Zuschauenden beteiligte sich an der Diskussionsrunde, mit der jede der drei Aufführungen abschloss. Dabei ging es um Fragen wie „Wer wurde gemobbt?“ (fast alle), „Wer war Schuld?“ (hmm, schwierig – alle irgendwie ein bisschen und niemand so richtig), „Was hat Britta [die Freundin der Protagonistin Amy] richtig gemacht und was hat sie falsch gemacht?“ (na, vor allem war sie mutig und hat ihre Freundin öffentlich verteidigt).
Dem Gespräch folgten noch ein paar klare Hinweise: „Nackte Menschen ohne ihre Einwilligung zu fotografieren, ist strafbar. Da kriegt auch ihr in Eurem Alter schon richtig Ärger.“ „Wendet Euch an das Team von klicksafe oder ruft 116111, die Nummergegenkummer an.“
Bedauerlich an der für alle beteiligten Schulen herausragenden Veranstaltung war nur, dass nicht noch mehr Schulen vor Ort, daran partizipieren konnten. Ein Dank sei hier der Messmer-Stiftung gezollt, deren schnelle und unbürokratische Unterstützung den Besuch des Holzwurm-Theaters möglich machte, als dieser wegen mangelnder Finanzierung zu scheitern drohte.
Text: Albert Kümmel-Schnur, Bilder: Petra Erlemann
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