
Am Dienstag entscheidet der Gemeinderat in Radolfzell darüber, ob der ehemalige Nazi-Bürgermeister August Kratt seine Ehrenbürgerschaft behalten soll oder nicht. Die Entscheidung könnte als das „Wunder von Radolfzell“ in die Geschichte eingehen.
Radolfzell ist eine ausgesprochen antifaschistische Stadt, die ihren kämpferischen Geist zumindest in den letzten Jahren nicht versteckt, sondern mutig kundgetan hat. Gleich auf der ersten Seite des Bürgerinformationssystems der Stadt ist „Ein deutliches Signal gegen Gewalt und Rassismus“ zu finden, das der Gemeinderat am 4. Oktober 2016 einstimmig in die Welt hinaussandte.
Der Stadtverwaltung ist diese Erklärung bis heute zurecht so wichtig, dass sie im Internet sehr auffällig platziert ist. Damit, so heißt es dort, „positionierte sich der Gemeinderat gegen jede Form von Gewalt, Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus, politischem Extremismus, Faschismus und Antiziganismus.“1
Vorausgegangen waren dieser Erklärung übrigens Aktionen der rechtsextremistischen Kleinst-Partei „Der III. Weg“ in Radolfzell. Da wollte der Gemeinderat gleich klare Kante zeigen, denn, wie er richtig erkannte, „Faschismus ist und bleibt Menschen verachtend“.
Damit setzte der Rat bewusst strenge Maßstäbe für den Umgang Radolfzells mit rechtsradikalen Umtrieben.
Zivilcourage und Fantasie
Natürlich wollte der Gemeinderat es damals nicht bei bloßen, vielleicht nur allzu wohlfeilen Worten belassen, er appellierte vielmehr eindringlich an alle Einwohner*innen Radolfzells, „sich weiterhin in ihrem Wohn- und Arbeitsumfeld mit Zivilcourage einzusetzen und mit vielfältigen und fantasievollen Formen Stellung zu beziehen gegen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Faschismus an Arbeits- und Ausbildungsplätzen, in Schulen, in sozialen Einrichtungen, in der Freizeit, bei Vereinen und Gruppen“ – also immer und überall.
Gut gebrüllt, Ihr Rät*innen, die Ihr den Kampfesmut von Löw*innen habt, wenn es um die Verteidigung der Demokratie, menschlicher Werte und die Geißelung rechter Umtriebe geht! Gut tut Ihr daran, an das gesellschaftliche Leben in Eurer schönen Stadt die allerhöchsten moralischen Maßstäbe anzulegen – und als herausragender Teil der Radolfzeller Bürger*innenschaft auch selbst jederzeit leuchtende Vorbilder zu sein.
Ehre, wem Ehre gebührt
Ein lobenswertes Beispiel für diese Gewissenhaftigkeit und Moral in Radolfzell ist es, mit welch ausgesprochener Sorgfalt die Stadt seit jeher ihre Ehrenbürger auswählt. Bis heute haben es in 158 Jahren gerade einmal 14 Menschen in diesen erlauchten Kreis geschafft. Der erste davon war kein Geringerer als der Ingenieur Robert Gerwig, der allen Dank für „Planung und Bau der ersten Radolfzeller Wasserleitung in Eisenröhren“ verdient, und dem diese hohe Ehre 1867 zuteil wurde.2
Am nächsten Dienstag nun will der Gemeinderat darüber befinden, ob der Kaufhausgründer und ehemalige Bürgermeister August Kratt seine 1962 verliehene Ehrenbürgerschaft behalten darf. Und warum sollte er auch nicht, denn über ihn heißt es auf der Internet-Seite der Stadt Radolfzell kurz und bündig: „Gründer und Seniorchef des Kaufhauses Kratt. Erwarb sich besondere Verdienste für die Stadt, machte u.a. eine Stiftung zu Gunsten eines neuen Altenheimes.“
Das allerdings ist – vornehm formuliert – nicht die ganze Wahrheit, nein, dies ist wahrscheinlich nicht mal die halbe oder auch nur ein Viertel derselben (worauf seemoz hinwies). Dies ist vielmehr, wie wir inzwischen wissen, in etwa so wahr, als notiere man über Adolf Hitler nichts weiter, als dass er seine Schäferhündin „Blondi“ abgöttisch geliebt habe. Aber Hitler taucht in der Liste der Radolfzeller Ehrenbürger heute ja auch gar nicht mehr4 auf, er hat seine 1933 verliehene Radolfzeller Ehrenbürgerwürde irgendwann wieder verloren, als er zur Überraschung aller in den Ruch des Antisemiten, Faschisten und Massenmörders geriet.
Inzwischen hat die Stadt Radolfzell, um alle Zweifel auszuräumen, bei der Historikerin Carmen Scheide ein Gutachten über August Kratt in Auftrag gegeben, das unter anderem folgende nüchterne Tatsachen konstatiert3:
Kratt war demnach
– von 1903 bis 1922 Mitglied des [völkischen und antisemitischen] Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes
– von 1. Mai 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP
– von 1933 bis 1942 förderndes Mitglied der SS in Radolfzell
– ab 1934 Ortswalter Handel der Deutschen Arbeitsfront
– von 1934 bis 1943 Block- und Zellenleiter in der NSDAP Ortsgruppe Radolfzell
– zumindest zeitweise Mitglied der ADEFA (Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Bekleidungsfabrikanten e.V.)
– von 1935 bis 1945 Ratsherr
– von 1942 bis 1945 Stellvertretender Bürgermeister
Fürwahr ein ehrenwerter Mann?
Kratt war freiwillig, bei völliger geistiger Gesundheit bereits 1933 und sehenden Auges (bis an deren Ende 1945) Mitglied der NSDAP und zudem langjähriger Unterstützer der SS gewesen, zweier Organisationen also, die für den Massen- und Völkermord in historisch einmaliger Weise und bis dato ungekanntem Ausmaß verantwortlich sind. Kratt war langjähriger Funktionär einer von Adolf Hitler und Konsorten angeführten Räuber- und Mörderbande, die die „Volksgenossen“ dazu aufrief oder gar mit der Waffe in der Hand dazu zwang, bis zum letzten Atemzug für sie zu kämpfen – und die sich selbst in den letzten Kriegstagen nach Möglichkeit verdünnisierte oder sich kampflos ergab. Dass NSDAP und SS „Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Faschismus“ praktizierten, welche der Radolfzeller Gemeinderat ja ganz ausdrücklich (siehe oben) und aus ganzem Herzen verabscheut, war schon 1933 hinreichend bekannt.
Kurz nach dem Krieg entstand dann – nicht ganz zufällig – in der Bundesrepublik der Mythos vom guten Nazi, der irgendwie in die Sache reingestolpert ist und zunehmend „eigentlich“ und „irgendwie“ dagegen und letztlich selbst kein Schwein war, sondern eher ein freundlicher Familienmensch. (Den Prototyp schuf übrigens schon Albert Speer, der damit seinen leidlich schönen Hals vor dem Strang retten konnte.)
Die wirklich guten Menschen aber wurden vergessen oder aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Diese Menschen gab es ja durchaus, und das zu Tausenden, die bekannten wie Georg Elser oder die Geschwister Scholl, und die vielen ungenannten und bis heute ungeehrten oder bewusst aus der Erinnerung verbannten Widerstandskämpfer*innen, die ihren Kopf unter dem Fallbeil, am Strick oder vor dem Erschießungskommando verloren. Menschen, die Widerstand leisteten, obwohl sie wussten, dass sie damit ihr Leben riskierten, und die ihre Fahne eben nicht nach dem Wind hängten, sondern ihrem Gewissen auf der Spur der Mitmenschlichkeit folgten, bis man sie folterte und tötete.
Allesamt Menschen übrigens, die ebenso wie Kratt die Wahl hatten, auf welche Seite sie sich stellen wollten. August Kratt hat sich anders als sie öffentlich und ohne Not, aus welchen Gründen auch immer – ob aus Überzeugung, Opportunismus, Habgier oder Geltungsbedürfnis, das ist völlig egal – früh auf die schon damals falsche Seite der Diktatur (und letztlich des Massenmordes) geschlagen.
Das Wunder von Radolfzell?
Angesichts der deutlichen Stellungnahme, mit der sich der Radolfzeller Gemeinderat unmissverständlich „gegen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Faschismus“ positionierte und die Radolfzeller*innen dazu aufforderte, es ihm darin mit aller Fantasie und Tatkraft gleichzutun, gibt es für die Rät*innen am Dienstag nur eine mögliche Entscheidung: Dem NS-Funktionär August Kratt die Ehrenbürgerwürde abzuerkennen. Einstimmig, versteht sich.
Alles andere wäre ein Wunder.
Text: O. Pugliese, Bild: Qubes Pictures from Pixabay
Anmerkungen
1 https://www.radolfzell.de/buergerinformationssystem, abgerufen am 18.06.2025, 17:36 Uhr; in den Zitaten aus diesem Dokument wurden minimale Schreibfehler stillschweigend verbessert. Die Erklärung finden Sie übrigens auch hier.
2 Laut Liste der Ehrenbürger von Radolfzell: https://www.radolfzell.de/eu/Buerger-Service/Stadtinfos/Ehrenbuerger-von-Radolfzell/page15726.htm
3 Gutachten August Kratt 1882 – 1969. Im Auftrag der Stadt Radolfzell erstellt von Dr. habil. Carmen Scheide, Februar 2025, S. 12.
4 Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Hitler_als_Ehrenb%C3%BCrger
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