Ulrich khuon © maria sturm photography

Theater in der Zeitenwende. Ein Gespräch mit Ulrich Khuon, Teil 3

Von Peter Conzelmann
Ulrich khuon © maria sturm photography
Ulrich Khuon © Maria Sturm Photography

Im letzten Teil des Gesprächs zwischen Peter Conzelmann und Ulrich Khuon geht es nicht zuletzt um die öffentlichen Finanzen sowie autoritäre Regime in etlichen Ländern der Welt, die ein Wiedererstarken des Nationalismus massiv fördern. Wo ist in einer solchen Welt der Platz des Theaters?

Teil 3/3, Teil 1 lesen Sie hier

Peter Conzelmann: Die öffentlichen Finanzen sind in der Tat aktuell ein großes Problem. Wird denn nicht dadurch auch der politische Raum deutlich enger? Weil es keine finanziellen Spielräume mehr gibt, kann die Kulturpolitik eben nicht mehr wie früher ausweichen und den politischen Druck in neue Bereiche und Projekte umleiten, so wie man zum Beispiel früher neben die etablierte Kulturszene die soziokulturelle Szene setzen konnte. Das Stichwort „Freiwilligkeitsleistungen“ wird gerne dann genannt, wenn bei den Haushaltsberatungen der Rotstift rausgezogen wird.

Ulrich Khuon: So gesehen werden die politischen oder zivilgesellschaftlichen Räume tatsächlich enger. Es sind in den letzten Jahren so viele Dinge geschehen, von denen wir davor keine Vorstellungskraft hatten, von der Pandemie bis zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, zuletzt die Wahl Trumps, und die um sich greifende Sehnsucht nach autoritären und diktatorischen Systemen. Alles Ereignisse oder Phänomene, die so schnell nicht wieder verschwinden werde. Es fehlte uns die Fantasie dafür, dass solche Entwicklungen je möglich wären. Wir waren auf eine bestimmte, naive Art viel zu optimistisch, was universelle Werte und eine weltweite Fortschrittsgläubigkeit anbelangt.

Ich kann aber auf Optimismus und Hoffnung nicht verzichten, denn nur diese Haltung macht mich handlungsfähig. Nicht in dem Sinne, dass schon alles gut gehen wird, sondern weil ich nicht in Lethargie, Passivität, Pessimismus oder Schwermut verfallen will.

Was die finanziellen Engpässe angeht, so hat es in den zurückliegenden 45 Jahren, in denen ich Theater gemacht habe, immer Wellen gegeben, wo es finanziell eng wurde und in solchen Phasen wurden auch Theater bzw. Kulturbetriebe allgemein infrage gestellt. Die Theater haben aber die bisherigen Krisen meist gut überstanden, sie haben sich in der Krise bewährt, haben dagegen gekämpft. Es gab nur sehr wenige Schließungen in den letzten 40 Jahren, und es gab ein paar Fusionen, die mehr oder weniger funktioniert haben. Aber nach der Schließung des Berliner Schillertheaters 1993 gab es keine gravierenden Abwicklungen von Theatern und Opernhäusern mehr.

Eine Entwicklung wie in Polen oder Ungarn zum Beispiel kann ich mir in Deutschland nicht vorstellen. Deutschland ist sehr empfindlich, wenn es um die Freiheit der Kunst geht. Es gibt ein sehr starkes Lernen aus der Geschichte und eine junge Tradition, dass künstlerische Freiheit geschätzt und geschützt wird, und auch entsprechende Gerichtsentscheide.

Ohne Zweifel aber ist der Finanzhebel, der nun an manchen Orten angesetzt wird, eine Gefahr. Da kommt es nun sehr auf die Geschicklichkeit vor Ort an, wie man seine Räume als Theater schützt. Das geht nur, wenn man mit der lokalen Politik, der Bevölkerung und den Medien kommuniziert und sie hinter sich bringt. Und es gibt ohne Frage inzwischen auch Regionen bei uns, zum Beispiel in Sachsen-Anhalt, wo die AfD so viel Macht gewinnen könnte, dass sie großen Einfluss auf die Freiheit der Theater bekommt.

Wenn man insgesamt auf die Geschichte des Theaters zurückblickt, so gab es ständig Zeiten der nach innen und nach außen gerichteten Spannung. Darauf hat das Theater, haben die Autoren und Autorinnen reagiert, haben den spannungsgeladenen Tendenzen etwas entgegengehalten.

Peter Conzelmann: Die politische Rechte will die Kultur nicht abschaffen. Im Gegenteil: sie arbeitet daran, die Kultur für ihre Zwecke einzusetzen bzw. umzufunktionieren. Bestimmte historische und kulturelle Narrative – man kann das vor allem in Russland sehr deutlich sehen, aber auch in den USA und einigen östlichen EU-Ländern – sollen neu justiert oder umgeschrieben werden, insbesondere, um sich von anderen Nationen abzusetzen und das Gefühl für die eigene Nation zu heben. Universelle Werte werden dabei diskreditiert.

Dann ist da auch die wachsende Konfrontation zwischen den liberalen bzw. säkularen Gesellschaften des Westens und den islamisch bis islamistisch geprägten Gesellschaften im Nahen Osten, die sich auf die Bemühungen um Integration von Flüchtlingen bei uns auswirkt.

Insbesondere die historischen Museen und Gedenkstätten, aber auch die öffentlich getragene Theaterszene sind in diesen Ländern durch diese Bestrebungen erheblich unter Druck geraten.

Ulrich Khuon: Was die Idee des Nationalstaats und die Globalisierung auf der anderen Seite anbelangt, da hat man gedacht, wir wären weiter. Doch jetzt kommt das wieder zurück. Auch der Brexit war zum Beispiel ein sehr bitterer Ein- und Rückschritt. Und wir sehen auch, wie Putin und Trump, jeder auf seine Weise, die EU aufs Korn nehmen. Diese Re-Nationalisierung wird sicherlich eine der Baustellen sein, an denen die Theater in Zukunft arbeiten müssen.

Wir müssen auch zeigen, dass Kulturen immer voneinander profitierten, Teil voneinander sind und sich nicht nur abgrenzten. Es gibt überhaupt keine ‚reinen’ Kulturen. Das ist ein Erfahrungsschatz, der auch in der wechselseitigen Beziehung zwischen Islam und Christentum liegt. Es gibt so viele gemeinsame, sich gegenseitig durchdringende Werte, Barmherzigkeit beispielsweise, dass das alles auch in der Zukunft noch tragen könnte.

Es geht darum, dass wir nicht den nationalistischen Fantasien von Leuten wie Putin oder Trump, von „America first“ oder „Russia first“ folgen müssen.

Wir Deutschen haben die negative Erfahrung gemacht, wie man mit solchen Fantasien der Konfrontation, der kulturellen Abgrenzung und der Kultivierung der eigenen vermeintlichen Überlegenheit die Welt in einen globalen Krieg stürzen kann, wie ein Volk zu Tätern und zu Mitläufern bei der Massenvernichtung wurde. Es ist wichtig, dass wir an dem anderen Strang der Verständigung über kulturelle Grenzen hinweg arbeiten, ein Strang, der sich literarisch und theatergeschichtlich abbilden lässt von der Antike bis heute.

Aber nochmal zurück zum Thema der konkreten Erfahrungen. Das Theater hat schon immer, seit der Antike, danach gefragt, wer der Träger des tragischen Geschehens ist. Im klassischen Sinne bedeutet das Tragische schon das Sich-unterlegen-Fühlen, das Gefühl von Schwäche. Oder wie Erich Fromm sagte: „Die biologische Schwäche des Menschen ist die Voraussetzung menschlicher Kultur.“ Wir sind ‚Defektflüchtler‘.

Und ich sehe auch, dass zum Beispiel ein wichtiges religiöses Deutungsmuster, des Christentums wie des Islams, nämlich die Schwäche des einzelnen Menschen, verblasst, auch innerhalb der Religionen, dass dadurch die darauf basierenden Wertesysteme zurücktreten, und das sich selbst isolierende Individuum, der Homo clausus und sein Ego im Vordergrund stehen.

Es sind dann die Entwicklungen bis hin zu modernen ‚Helden’ wie Büchners Woyzeck, oder den Figuren bei Gerhart Hauptmann und später bei Brecht, an denen man ablesen kann, wie das Theater versucht, das Tragische im Sinne des Unterlegenseins des Einzelnen oder der Schwäche des Menschen an sich in seiner jeweiligen Zeit zu bestimmen. Das steht diesen Ideen und Konzepten des sich stark oder überlegen Fühlens in meiner Gruppe, meiner Gemeinschaft, meinem Clan oder meiner Nation entgegen.

Peter Conzelmann: Vielleicht müssen wir auch erkennen, dass die von dir angeführten Wertesysteme Ausdruck einer unipolar verstandenen Welt sind, dass aber verschiedene Teile der Welt, aus unterschiedlichen Gründen, diesen Wertesystemen nicht mehr folgen wollen.

Neulich trafen sich in China die Staatschefs der Gruppe SOZ, was für „Schanghai Organisation für Zusammenarbeit“, bisher eigentlich nur ein loser Staatenverbund, steht. Auf dem Gruppenfoto von diesem Treffen sieht man brav nebeneinander die Diktatoren Putin, Xi Jinping, Lukaschenko und Kim Jong Un sowie die Präsidenten des – immer noch – demokratischen Indiens, der islamischen Republik Iran und einiger autokratisch geführter zentralasiatischer Staaten.

Zentrale Botschaften des Treffens waren: Die Schuld am Krieg in der Ukraine tragen der Westen und die NATO, und die Weltordnung darf nicht von Europa und den USA, sprich: dem Westen dominiert werden.

Die Welt soll nach dem Willen der SOZ multipolar sein. Dahinter stehen entsprechende geopolitische Konzepte, denen zufolge insbesondere die Ukraine zum russischen Einflussbereich gehört.

Menschenrechte, wie wir sie verstehen, darunter Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Freiheit von Kunst und Wissenschaft, werden offen in Abrede gestellt, ebenso Minderheitenrechte. Autokraten wie Putin unterdrücken die LGQBT-Bewegung, erklären sie zu „ausländischen Agenten“.

Aber auch in einer anderen Region der Welt wendet man sich vom westlichen Wertesystem ab. In Afrika wird inzwischen in über 30 Staaten Homosexualität unter Strafe, teilweise sogar Todesstrafe gestellt.

In den USA ist jemand an die Macht gekommen, der die Verfassung seines Landes aushöhlt und der ganz offensichtlich dem Zerfallen der Welt in verschiedene Einflussgebiete nichts entgegenstellen will, sondern dem es im Gegenteil nur darauf ankommt, dass für ihn, seine Clique und vielleicht auch für sein Land Vorteile bei dieser Neuaufteilung herausspringen.

Ist dieses Abrücken von unseren Wertvorstellungen, man kann auch sagen: dieser Angriff auf sie, nicht eine massive Bedrohung der Rahmenbedingungen der kulturellen Arbeit, für die wir stehen, auch bei uns? Die rechts- und linkspopulistischen Kräfte bei uns zeigen ja deutlich ihre Sympathien für die autokratischen Staatsführungen.

Ulrich Khuon: Dieser Beschreibung kann ich mich persönlich anschließen. Aber das sind ja nun wirklich die großen politischen Felder und Bewegungen, an die wir mit unserer Arbeit im Theater nur in Ausnahmefällen herankommen. Wir sollten uns auf unsere Möglichkeiten und unsere theaterspezifischen Fähigkeiten beziehen und versuchen, in unserem direkten Umfeld, in den städtischen Gesellschaften zu wirken. Durchaus auf dem Hintergrund und unter Einbeziehung globaler Entwicklung und Konflikte. Wir könnten uns mit Geopolitik beschäftigen, indem wir als Einzelne und als örtliche Gesellschaft darauf reagieren: Was bedeutet das für uns, wie reagieren wir darauf.

Bis vor wenigen Jahren waren wir der Meinung, Demokratie sei selbstverständlich. Wir hatten im Deutschen Theater vor einigen Jahren die Idee, als Schwerpunkt für eine Spielzeit das Thema ‚Demokratie und Herrschaft‘ zu setzen. Viele reagierten darauf eher gelangweilt und sagten: Was soll das? Demokratie haben wir sowieso. Ist doch selbstverständlich!

Von heute aus gesehen wird klar, dass das eben nicht selbstverständlich ist. Und es wird uns auch klar, dass man auch auf einem abstrakteren Feld etwas beeinflussen kann. Ich neige, wenn es um große politische Fragen geht, wirklich nicht zu einer Überschätzung der Kunst, aber man kann sich am Theater durchaus mit Themen wie dem Erhalt der Demokratiefähigkeit beschäftigen.

Das Gleiche gilt für Europa, ein Thema, das viele noch vor wenigen Jahren für langweilig oder als irrelevant für das Theater empfunden haben. Ich meine, dass es sich lohnt, sich auch im Theater für die Idee eines vereinten Europas einzusetzen. In Europa gibt es starke demokratische Kräfte, für die man kämpfen sollte. Also eben doch eine Zeitenwende, deren Gestaltung wir nicht verpassen sollten.

Peter Conzelmann: Herzlichen Dank für dieses Gespräch!

Das Gespräch fand am 15. September 2025 in Berlin statt. Dieser Beitrag erschien zuvor im Blog „Zeitenwende“.

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