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Theater in der Zeitenwende. Ein Gespräch mit Ulrich Khuon, Teil 2

Von Peter Conzelmann
Ulrich khuon © klaus dyba photography
Ulrich Khuon © Klaus Dyba Photography

Der zweite Teil des Gespräches zwischen Ulrich Khuon und Peter Conzelmann kreist um den Einfluss lokal- wie weltpolitischer Entwicklungen auf das Theater und dessen Reaktion darauf.

Teil 2/3, Teil 1 finden Sie hier.

Peter Conzelmann: Aktuell steigen die Umfragewerte für die AfD kontinuierlich an, sie haben bald, wie es scheint, die der CDU ein- oder überholt, zuletzt im Rahmen der Kommunalwahlen in NRW. Setzt das die Kulturschaffenden nicht unmittelbar unter Druck?

Mal bildhaft gesprochen: Wenn wir uns diesen Trend nach rechts als Pendelschlag vorstellen: Beobachtet die Kultur- bzw. Theaterszene das Pendel von außen und beschreibt lediglich, oder sitzt die Kultur zwangsläufig mit auf dem Pendel, ist also Passagier, oder versucht man aktiv, das Pendel aufzuhalten?

Ulrich Khuon: Die Reflexe auf bundespolitischer Ebene sind meist dieselben. Das ist sehr repetitiv. Jetzt haben die schon wieder mehr Prozente: Was macht ihr dagegen, wie reagiert ihr? Man bekommt Unterschriftenlisten vorgelegt, soll wieder bei irgendetwas mitmachen. Noch eine Petition, noch ein Statement. Dabei wird man sehr genau beobachtet. Sagst du irgendeinen schrägen Satz, dann wird das alles vergrößert und vergröbert rübergebracht, was zusätzlich die Stimmung anheizt. In diesen Zuständen der allgemeinen Erregung kann man kaum in Ruhe arbeiten.

Auf der regionalen, kommunalpolitischen Ebene hingegen kann man als Theater schon eher etwas herausarbeiten, man kann herausbekommen, was vor Ort fehlt, und wo wir uns dem, was fehlt, widmen können. Wie können wir in den Städten und in der Region Gemeinschaft schaffen, die nicht nationalistisch geprägt ist?

Um dein Bild aufzugreifen: Den Pendelschlag von außen lediglich zu beobachten, das wäre eine Haltung wie beispielsweise bei Anton Tschechow. Bei dem, was wir im Moment erleben, sind wir aber wohl Passagier. Wir müssen in diesem Sinne auch die aktuellen Wahlergebnisse als demokratische Entscheidung akzeptieren. Aber uns bleiben immer noch und trotz allem Handlungsmöglichkeiten. Die Wahlergebnisse und die geänderte politische Stimmung bedeuten nicht, dass wir zu schweigsamen Begleitern werden.

Um noch mal auf dein Bild zu sprechen zu kommen: Wir kommen gar nicht drumherum, wir sind notwendigerweise teilnehmende Passagiere auf dem Pendel, doch können wir in jedem Fall dazu beitragen, die Diskussionen zu erweitern, zu verändern, andere Sichtweisen anzubieten.

Ich finde, Kultur oder Künste müssen grundsätzlich immer in der Form und im Inhalt zum Reichtum der Debatte beitragen. Und gerade deswegen sind die Umwege, die die Künste begehen, oft die interessanteren Wege. Du kannst bei jeder Erzählung sagen: Sag doch mal kurz und klar, um was es inhaltlich geht.

Zum Beispiel bei Parzival geht es um die Mitleidsfrage, das kannst du in drei Sätzen zusammenfassen. Aber warum wurde ein umfangreicher Text um die Parzival-Legende geschrieben? Wichtig ist, dass man den Weg durch den umfangreichen Text, durch das Kunstwerk hindurch geht, das ist eine Art Seelenbildung oder auch das Instrument für eine sehr besondere Erfahrung, ein umfassender Bildungsweg eben.

So gesehen würde ich sagen, dass das Theater als bloßer Passagier im Grunde ein zu schwacher Ausdruck ist, denn ich fahre nicht nur mit, sondern ich gestalte mit, aber auf andere Weise, als wenn ich Politik machen würde.

Wenn ich rein politisch agieren wollte, dann muss ich in die Politik gehen, lasse mich für den Gemeinderat aufstellen etc. Daher habe ich schon einen ziemlichen Abstand zu Aktionisten wie den Leuten vom „Zentrum für politische Schönheit“. Du kannst mit solchen Aktionen sicherlich immer noch eins draufsetzen, du kannst eine immer noch stärkere Tabuverletzung begehen und noch mehr Aufmerksamkeit erreichen, aber welche nachhaltige Wirkung das hat, außer dass die Leute sich über mich aufregen – was in einzelnen Fällen durchaus interessant und wichtig sein kann –, das ist sehr fraglich.

Um auf die aktuellen Ereignisse einzugehen, zum Beispiel die Gaza-Krise: Wenn jemand diesen Konflikt anders interpretiert als die aktuelle israelische Regierung Netanyahu, wird er hier – siehe den Fall Omri Boehm – ausgeladen. Herr Weimer konnte sich nicht entschließen, das einen Skandal zu nennen, aber wenn der israelische Dirigent Lahav Shani ausgeladen wird, dann ist es ein Skandal. Ich bin schon der Meinung, dass auch die Ausgrenzung von Omri Boehm ein Skandal ist. Boehm ist ein komplex denkender Philosoph, und ein solcher Vorgang ist schon interessant, das heißt, wo schlagen wir Alarm und wo nicht.

Ich bin stets der Meinung, jemanden seinen Standpunkt vorbringen zu lassen, bevor man irgendwas verbietet. Auf diese Haltung passt das schreckliche Schlagwort von der Cancel Culture.

Peter Conzelmann: Ich komme noch einmal auf die Ausgangsfrage zurück: Welche Auswirkungen haben die aktuellen Krisen und die elementaren Umbrüche, das Sich-Auflösen von Gewissheiten, die wir jahrzehntelang hatten – welche Auswirkungen hat das auf den gesamten Prozess des Theatermachens, die ganze Produktionskette von der Zusammenarbeit mit den Autorinnen und Autoren, der Arbeit in der Dramaturgie mit dem Sichten neuer Themen und Texte, dem Erstellen eines Spielplans usw.? Ist alles so wie immer, oder gibt es da Veränderungen? Du hast zum Beispiel schon sehr früh mit den Autorentheatertagen ein Format geschaffen, das vor allem jungen Stimmen einen Zugang zur Öffentlichkeit verschafft.

Ulrich Khuon: Es ging immer darum, neue Aspekte bzw. Themen reinzubringen, nicht nur neue Stile. Wir wollten neue Stimmen bekommen, die nicht repetitiv sind, die nicht den gewohnten Blickwinkel liefern, sondern die öffnen, bei denen man überrascht wird. Dabei reichte es nicht, dass man das Thema gerade in den Tagesthemen gesehen hat, und das bekomme ich nun noch mal im Stück erzählt.

Klar, wir sollten uns auf die Zeit beziehen, aktuell sein, aber man kann nicht kommandieren und den Autoren und Autorinnen befehlen, jetzt beschäftigt euch mal mit dem Ukraine-Krieg oder mit Gaza. Stücke, die wir am Schauspielhaus Zürich aufführten, zum Beispiel von Dea Loher oder Maria Ursprung, beschäftigten sich mit der KI-Problematik oder mit der umfassenden Einsamkeit in der Gegenwart. Hier erkennen die Menschen etwas wieder von ihrer Gegenwart, was sie selbst verstört und was jetzt gar nichts mit Trump oder mit Putin zu tun hat, sondern mit unserer dauerkommunizierenden Gesellschaft, die aber im Grunde viele bedeutungsvollere Beziehungen beiseitelegt.

Mit dem Stück „Staubfrau“ von Maria Milisavljewitsch hatten wir ein individuelles und hochpolitisches Thema, die Femizide. Wir haben festgestellt, dass über dieses Thema viel zu lange zu wenig debattiert wurde.

Ich bringe mal, etwas bösartig, ein Gegenbeispiel: Da gibt es die Kritik am „Tatort“, der sonntags in der Form des Krimis gern diese gesellschaftlichen Themen direkt verarbeitet, gierige Unternehmer, die sich unsozial verhalten, wo es um Menschenhandel, Menschenschmuggel und um Asylanten geht, alles, was man eher im linksliberalen Mainstream wichtig findet und anschaulich gemacht werden möchte.

Die Frage ist aber letztlich dann doch, welche ästhetische Qualität und Intensität hat eine Aufführung. Es geht nicht in erster Linie darum, welche sozialen Mainstream-Themen aufgegriffen und eins zu eins abarbeitet werden, es kommt vielmehr darauf an, wie sie künstlerisch verdichtet bearbeitet werden. Es kommt auf die Form an und die Balance von Inhalt und Form.

Peter Conzelmann: Das Phänomen dieses Mainstreams ist eine Frage der Gewohnheit. Wir waren es in unserem gesicherten Bereich gewohnt, uns um bestimmte Dinge, die uns wichtig erschienen, zu kümmern. Hier gab der linksliberale Mainstream sicherlich in den letzten Dekaden den Ton an. Denn um uns herum herrschte Frieden, und wir konnten uns ganz auf innergesellschaftliche Problemfelder, global gesehen um Klimawandel und um das Nord-Süd-Gefälle konzentrieren.

Was kriegerische Aggression anbelangt, war es hingegen fast wie in der berühmten Osterspaziergangs-Szene aus Goethes „Faust I“, wo es behaglich heißt: „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei / Wenn hinten, weit, in der Türkei / die Völker aufeinanderschlagen“. Es ging uns praktisch nichts direkt an, berührte unseren Alltag nicht. Menetekel waren allein die Flüchtlingsströme, zuerst in den 1990er Jahren vom Balkan, ab 2015 aus Nahost.

Nun aber heißt es von hoher Stelle angesichts des Kriegs gegen die Ukraine, wir seien nicht „kriegstüchtig“. Niemand von uns hätte je damit gerechnet, dass wir uns mit der Frage der Kriegstüchtigkeit auseinandersetzen müssten. Viele vorher virulente und viel debattierte Themen geraten dabei in den Hintergrund. Für mich ist das eines der markantesten Kennzeichen der Zeitenwende. Schlägt das in irgendeiner Weise auf die Produktionsprozesse der Theater durch?

Ulrich Khuon: Ich persönlich fand dieses Bashing der Bundeswehr schon früher problematisch, weil zu eindimensional. Denn natürlich kann es zu Situationen kommen, wo das Land abwehrbereit sein muss. Darüber hinaus gab es immer schon Notsituationen und Aufgaben, wo die Bundeswehr hilfreich sein konnte. Und es kann durchaus Situationen geben, wo der Pazifismus an eine Grenze kommt. Wir brauchen sicherlich die Möglichkeit der Notwehr. Der Ukraine muss geholfen werden, sonst wird sie von Russland überrannt und das Selbstbestimmungsrecht dieser Nation geht verloren.

Den Impuls, den du beschreibst, finde ich zum Beispiel wichtig, um ihn im Theater zu verhandeln. Es kommt, wie erwähnt, darauf an, wie man es macht, zum Beispiel mit dokumentarischen Recherchestücken. Die Frage ist immer: Schaffst du etwas Anregendes im Theater, das über das Übliche und sowieso schon Durchdiskutierte hinausgeht? Kann man einen Beitrag leisten, der neugierig macht, sodass man zusätzliche Einsichten bekommt?

Peter Conzelmann: Wenn wir auf die letzten 50 Jahre zurückblicken: Ich bin in der Nach-68er-Zeit aufgewachsen, da gab es schon eine ziemliche Politisierung des Theaters. Man ging weg von den Klassiker-Inszenierungen, es gab das Dokumentar-Theater mit Stücken von Heinar Kipphardt und Peter Weiss, Stücke von Brecht wurden sehr politisch interpretiert. Seit dieser Zeit, so mein Eindruck, ist das Theater vielfach politisch klar links von der Mitte positioniert und engagiert. Es vermittelte den Eindruck, dass es immer weiß, wo vorne ist. Dann kamen zuletzt die identitätspolitischen Themen, Homosexualität und Transgender, oder Themen wie Migration und Integration bzw. Inklusion etc., auf die sich dann in letzter Zeit die politische Rechte eingeschossen hat.

Grundsätzlich oder gerade wegen solcher Widerstände von rechts schien das Theater sich doch lange Zeit sehr sicher zu sein, auf der richtigen politischen, der aufklärerischen und emanzipatorischen Seite zu stehen. Und nun kommt mit einem Begriff wie „kriegstüchtig“ eine Art Turning point. Es tauchen auf einmal Themen im Raum auf, die in eine völlig andere Richtung gehen, eine Art Gegenwind.

In den USA können wir zudem gerade beobachten, wie schnell die Trump-Regierung auf die Universitäten und die Kultureinrichtungen losgeht und, wenn sie nicht spuren, den Geldhahn zudreht. Oder wie dort Druck auf Medien ausgeübt wird, die sehr schnell reagieren und Sendungen absetzen und sich von langjährigen Moderatoren trennen. Ist das nicht auch eine Situation, die bei uns eintreten könnte?

Etwas polemischer gefragt: Sind die größten internen Probleme, die die Theater haben und immer wieder artikulieren, die ständigen Sorgen um nicht ausreichende Zuschüsse, nicht genehmigte Personalstellen und marode Häuser? Oder besteht auch Sorge, dass die sich die verändernden Diskurse – der um die Frage der Kriegstüchtigkeit ist nur einer davon – die bisherige Selbstgewissheiten des Theaters tangieren könnten? Wie geht man um mit der wachsenden rechten Szene? Ist es nicht insgesamt gesehen gefährlicher geworden, sich als Künstler in dieser nach rechts driftenden Gesellschaft und angesichts realer Bedrohungen von innen und außen zu positionieren, Haltung zu zeigen? Salopp gefragt: Was macht das alles mit den gewohnten Produktionsverhältnissen?

Ulrich Khuon: Wir müssen uns sicherlich auch mit den Themen beschäftigen, die sogar die AfD aufruft, zum Beispiel Fragen im Zusammenhang mit gescheiterter Integration. Integration ist ein komplexer und schwieriger Vorgang. Wenn man sich die Fälle der sogenannten „Messerstecher“ anschaut, das kann durchaus das Ergebnis von misslungener Integration sein, es kann aber auch viele andere Hintergründe haben, dauerhafte Demütigung beispielsweise, Versagen oder Lust an Gewalt. Wir müssen auf der Komplexität des Geschehens bestehen, wenn wir es deuten. Das Thema, wie auch immer, nur agitatorisch und eindimensional anzupacken, das greift zu kurz in einer Zeit, in der sowieso laufend agitiert wird.

Mit reiner Agitation landest man sowieso meist nur in der eigenen Blase. Aber wir müssen solche Bereiche geöffnet kriegen. Und das geht am besten, wenn man sich, wie vorhin schon erwähnt, auf die lokale Situation einlässt. Man müsste zum Beispiel in Gelsenkirchen, und zwar nicht während des NRW-Wahlkampfs, nachfragen, wenn die Leute sagen, dass da nichts mehr funktioniert. Warum funktioniert es nicht mehr, was können wir dagegen tun? Das würde ich mit und ohne AfD, die das natürlich instrumentalisiert, machen.

Das Theater sollte immer – theoretisch, denn das schafft es nicht immer – die Tür so weit wie möglich und so einladend wie möglich aufmachen, die Leute durch den Reichtum an Erzählungen hereinlocken.

Wenn wir schon, um in deinem Bild zu bleiben, Passagiere auf dem Pendel sind, so haben wir doch die Möglichkeit zur Sensibilisierung und zur Reflektion. Denn als Passagier reflektiere ich im Grunde, was passiert. Und hierin liegt die Hoffnung, dass die Reflexion in den Besuchern etwas bewirkt, dass man genauer drüber nachdenkt, was gerade passiert.

Die Tendenz, die du beschrieben hast, dass im Rahmen der Zeitenwende alles gefährlicher und riskanter geworden ist, das sehe ich nicht so. Da sind wir noch weit davon entfernt. Andererseits muss sich natürlich die kritische linksliberale Seite fragen lassen, warum werden wir als intellektuelle, sich abschottende Besserverdienende wahrgenommen, die dem Rest der Welt ständig erklärt, wie er sich zu verhalten hat?

Warum werben wir nicht für das, was wir richtig finden, im Theater, durch das, was das Theater am besten kann? Dass man einen „Zerbrochenen Krug“, den „Hamlet“ oder eine „Medea“ so inszenieren kann, dass diese Stücke aktuell sind. Das ist doch das Faszinierende an solchen Werken, dass man die Köpfe mit solchen Geschichten besser erreicht als durch besserwisserische Belehrung.

Theater sollte keine Einbahnstraße sein und keine Erziehungsanstalt, sondern im Grunde ein Labor, ein Reflexions- und Spielraum. Wir haben uns am Deutschen Theater und davor um viele Positionen bemüht. Wir machen seit Jahrzehnten Autoren-Theater, das immer wieder neue Positionen präsentiert.

Peter Conzelmann: Dass wir noch weit von solchen Zuständen entfernt sind, wie du sagst, bezweifle ich. Wir sind sicherlich nicht so weit wie die USA unter Trump, wo der Präsident mit ein paar Dekreten renommierte Universitäten und wichtige Kultureinrichtungen wie die Smithsonian Institution in die Knie zu zwingen scheint.

Aber auch in einigen europäischen Ländern weht schon länger ein anderer politischer Wind, und das hat durchaus Einfluss auf den Kulturbetrieb. Ein Blick nach Polen zum Beispiel zeigt, wie dort versucht wird, die Kultur im Sinne der PiS-Partei neu auszurichten.

Wir haben schon angesprochen, dass Vertreter der AfD inzwischen in zahlreichen Ausschüssen und Aufsichtsräten sitzen. Sie werden Forderungen stellen, bzw. sie stellen sie schon. Und es wird von der Seite auch offen über das Streichen von Zuschüssen geredet.

Ulrich Khuon: Ja, da ist sicher etwas dran, und ich würde es zurücknehmen oder relativieren, dass wir noch weit davon entfernt sind. Das ist vielleicht auch eine Art Trotz von mir, etwas nicht sehen zu wollen. Aber es darf in keinem Fall zu einer Schutzbehauptung werden dafür, jetzt gar nichts mehr zu riskieren. Wir dürfen uns auf keinen Fall bevormunden lassen oder mut- und kraftlos werden.

Da gab es die Frage, ob man Leute an sein Haus einladen oder verpflichten darf, die die BDS-Bewegung befürworten. Das Thema BDS – Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen gegen Israel – wurde unter dem aktuellen Druck, der seit dem 7. Oktober entstanden ist, wahnsinnig verkürzt diskutiert. Ich habe mich, obwohl ich nicht die Haltung dieser Bewegung teile, dazu entschlossen, eine Stellungnahme mitzuunterschreiben, dass wir als Leitungspersonen in Kunst und Wissenschaft diese Entscheidungen selbst treffen müssen und nicht vom Staat diktiert bekommen wollen. Und schon bekommt man einen Stempel verpasst, weil man nun sozusagen mit einer bestimmten Gruppe unterwegs ist. Letztlich geht es aber um die Freiheit der Kunst, und es kann nicht sein, dass der Bundestag uns vorschreibt, wen wir einladen dürfen und wen nicht. Die Freiheit der Kunst muss sich gerade in schwierigen Zeiten bewähren. Das ist für mich eine grundsätzliche Frage demokratischer Errungenschaft.

Aber ich gebe Dir insofern recht, dass ich auch schon Situationen erlebt habe, wo man persönlich unter Druck gerät und sich Gedanken macht, wie man sich, insbesondere kommunikativ, verhalten soll.

Ich hatte im Zusammenhang mit der BDS-Petition ein Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung geführt, und da ging es nicht um künstlerische Aspekte meiner Arbeit, sondern wie ich zur Weltoffenheit stehe. Das Gespräch wurde sehr reflektiert geführt und ist auch von der Zeitung so reflektiert verarbeitet worden, dass es das Thema sachlich behandelt und nicht weiter aufgeputscht hat. Letzteres hätte aber passieren können, man hätte es so darstellen können, dass man mit mir einen Vertreter des Antisemitismus zum Intendanten gemacht habe. Das bin ich natürlich nicht, und das wurde in dem Beitrag in der Zeitung auch sichtbar.

Aber wir leben in Zeiten, in denen man sehr schnell abgestempelt werden kann. Das Verhalten gegenüber Omri Boehm ist schon ein bezeichnendes Beispiel dafür. Ich finde es nicht in Ordnung, dass man einen solchen wichtigen deutsch-israelischen Autor und Philosophen gar nicht mehr reden lassen möchte, weil einem dessen Position bzw. Haltung zur aktuellen israelischen Regierung unangenehm ist.

Dem, was du über Amerika gesagt hast, stimme ich zu. Das sind schwer erträgliche Zustände. Ich möchte aber auch noch einmal feststellen, dass auch einige Künstler sich nicht bemühen, ihre Kunst, sagen wir mal, gut zu vermitteln und zu begleiten. Es genügt nicht, wenn man bestimmte Haltungen und Einstellungen einfach nur setzt.

Das ist auch im Theater so. Manche großen und berühmten Künstler können sich das leisten, weil sie einfach eine bestimmte, allseits bekannte Position repräsentieren. Die können sich hinstellen, und wenn’s einen Krach gibt, dann sind sie anschließend noch berühmter. Das ist aber nicht jedem so gegeben. Das Gros der Theatermacher muss sich auf die Leute im konkreten Umfeld zubewegen und sich mit ihnen auseinandersetzen.

Dabei muss ich als Theaterleiter nicht die Mentalität eines Allesverstehers entwickeln. Ich muss nicht den letzten Vertreter von AfD-Positionen auch noch verstehen wollen. Im Gegenteil: Ich bin dafür, und das war auch die Haltung in meiner Zeit als Präsident des Bühnenvereins, dass man sich gegenüber der AfD klar abgrenzt. Aber den Unsicherheiten und der Unzufriedenheit in der Gesellschaft – im Moment sagen ja laut Umfragen in Deutschland rund 90%, dass es ihnen besser geht als früher, aber rund 70% sind skeptisch, was die Zukunft bringt – dieser Skepsis sollten wir auf jeden Fall nachgehen.

Wenn man sich diese allgemeine Skepsis und Unzufriedenheit anschaut, dann muss man als Bürger dieses Landes schon sagen, sie sollen mit dem angekündigten „Herbst der Reformen“ so langsam beginnen und nicht alles gleich wieder in irgendwelche Gremien auslagern. Die Notwendigkeit zu handeln ist im Moment groß. Und das ist übrigens auch wieder ein Punkt, wo wir im Kulturbetrieb etwas dazu beitragen können, dass die Fähigkeit zu gemeinschaftlichem Handeln in der Gesellschaft wieder wächst.

Aus dem Grund halte ich es auch für nicht gut, einen Teil der Gesellschaft zu stigmatisieren, und zu sagen, die will ich schon gar nicht bei mir im Theater haben, das sind alles Nazis. Der Umgang mit dieser Klientel ist allerdings viel komplizierter als mit den Personen, mit denen man sich sozusagen auf einer Wellenlänge befindet. Wir müssen uns dieser Kompliziertheit, die mit den vielfältigen Erfahrungen jedes Einzelnen im Publikum zu tun hat, aber stellen.

Theater ist ein Ort, wo man mit Erfahrungen in der Gesellschaft umgehen kann, wo man Erfahrungen gestalten und Sehnsüchte, wie es anders sein könnte, entwickeln kann, etwas, das wiederum hilft, die Gesellschaft mitgestalten zu können.

Es gibt wohl auch im Theaterbereich oder Kulturbereich so eine Art Zeitenwende, in dem Sinne, dass wir uns unserer Möglichkeiten besser bewusst werden müssen. Ein Unterschied ist auch, dass man früher Freiheiten als selbstverständlich genommen hat. Auch, was die finanzielle Seite anbelangt. Wenn jetzt viele Kommunen als Träger von Theatern vor großen Haushaltsengpässen stehen, dann müssen wir noch engagierter und mit vielfältigen Argumenten um den Erhalt der Stadttheater und einer starken Freien Szene kämpfen und gleichzeitig ein Bewusstsein für die Finanznot der Gemeinden entwickeln.

Das Gespräch fand am 15. September 2025 in Berlin statt. Dieser Beitrag erschien zuvor im Blog „Zeitenwende“.

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