Tanzt, tanzprojekt 2025 bildschirmfoto 2025 07 11 um 16.00.14 © zur verfügung gestellt von judith willkomm

Tanzt!

Tanzt, tanzprojekt 2025 bildschirmfoto 2025 07 11 um 16.00.14 © zur verfügung gestellt von judith willkomm

Auf dem Let‘s Ally-Festival des Stadttheaters trat eine gemischte Gruppe aus Schüler:innen der Regenbogenschule Konstanz und Studierenden der Universität Konstanz auf. Auf dem Plakat wurde ein „ Inklusions-Theater-Projekt“ angekündigt. Unser Autor hat sich die Performance angesehen und mit Menschen gesprochen, die mitgemacht haben.

Prüfend schaut die junge Frau am Eingang zur Spiegelhalle mich an. „Willst Du tanzen?“ fragt sie. „Klar“, sage ich. „Du bekommst einen grünen Stempel“, sagt sie dann. Ich strecke ihr den Rücken meiner linken Hand entgegen und sie drückt einen leuchtend grünen Stempel darauf. Gespannt, was dieser Farbtupfer für den Besuch der Aufführung „Tanzt!“ auf dem Let‘s Ally-Festival wohl bedeuten mag, suche ich mir einen Platz im oberen Drittel des Auditoriums.

Nebel wabert auf die Bühne, Bässe dröhnen und Menschen mit bunten Farben im Gesicht, teils in duftigen, ebenso bunten Röcken, teils in Hosen, betreten die Bühne und beginnen, miteinander und für andere zu tanzen. Man erkennt schnell, dass diese Menschen in ihren körperlichen Fähigkeiten ganz unterschiedlich sind. Manche haben offensichtliche motorische und oder kognitive Einschränkungen, bei anderen kann man das von außen nicht erkennen. Und doch leitet die Kopräsenz dieser so unterschiedlichen Menschen fast automatisch zur Frage, ob wir nicht alle anders für uns selbst und andere sind oder, umgekehrt, ob wir einander nicht jenseits aller Differenzen viel ähnlicher sind, als unsere vorschnellen Urteile zwischen uns und denen das wahrhaben wollen. Knallbunt wie die Schminke in den Gesichtern und das leuchtende Tüll der Röcke.

Tanzt, tanzprojekt 2025 flyer tanzt! 29.06.25 spiegelhalle konstanz © zur verfügung gestellt von judith willkomm

Sind wir einander nicht viel ähnlicher?

Die Choreografie wirkt in dieser Tanzperformance nicht streng disziplinierend wie im klassischen Ballett, sondern eher wie ein Rahmen, der viele Freiheitsgrade lässt. Nach der Hälfte der Aufführung werden alle Menschen im Publikum, die farbige Stempel auf ihrer Haut tragen, auf die Bühne zum Mittanzen gebeten. Die Farben ordnen uns vier Gruppen zu. Ich stelle mich in die Gruppe „Grün“ und versuche, den Bewegungen der vorn in der Gruppe Vortanzenden zu folgen, mich mit ihnen und angeleitet durch sie durch den Bühnenraum zu bewegen.

Dass ich auf einer Bühne stehe, merke ich nach wenigen Schritten nicht mehr. Zu sehr konzentriere ich mich auf meinen Körper, die Musik und die Körper um mich herum. Zu groß ist die Freude, jetzt hier zu sein und nirgendwo anders. Irgendwann bin ich erschöpft und trete aus der Spiegelhalle in die Hitze des Sommertags. Andere tanzen weiter, längst haben die geführten Bewegungen einem offener Raum freien individuellen Tanzens Platz gemacht. Immer wieder öffnet sich die Gruppe, lässt einzelne in den Mittelpunkt treten und schließt sich dann wieder zum Kollektiv.

Initiiert wurde das Projekt durch die an der Universität Konstanz arbeitende Medienwissenschaftlerin Judith Willkomm. Sie interessiert sich für die barrierefreie Nutzung technischer Medien. Das lässt sich aber nicht am Schreibtisch oder im Labor herausfinden. Willkomm ist überzeugt: „Wie und wodurch Menschen mit nicht normgerechten Körpern und Fähigkeiten in der alltäglichen Mediennutzung und der kulturellen Teilhabe ausgeschlossen werden, begreift man erst, wenn man diesen Menschen in ihrer Alltagswirklichkeit begegnet.“ Sie hat deshalb ganz konkret praxisbezogene Forschungsprojekte zu Blindenfußball und barrierefreiem Gaming durchgeführt.

Im letzten Sommersemester wollte Judith Willkomm „noch einen Schritt weiter“ gehen. „Ich wollte ausprobieren, ob sich im Rahmen eines Forschungsseminars tatsächlich auch etwas Gemeinsames entwickelt, also durch das gemeinsame Tanzen etwas entstehen kann, das man zusammen auf die Bühne bringen kann. Mir war wichtig, dass durch dieses Projekt ein Begegnungsraum geschaffen wurde, zwischen den Studierenden und den Jugendlichen, aber auch jeweils untereinander.“

Begegnungsräume schaffen

In der Regenbogenschule Konstanz, einem im Stadtteil Wollmatingen ansässigen sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum mit den Förderschwerpunkten körperliche und motorische sowie geistige Entwicklung, fand sie einen geeigneten Kooperationspartner und bot das Seminar „tanzt! Was uns bewegt. Ein Tanztheaterprojekt“ im Sommersemester 2025 im Studiengang Literatur-Kunst-Medien an. Im Rahmen dieses Seminars sollten Studierende „in der Praxis erleben, was es bedeutet, wenn man zusammen mit Jugendlichen arbeitet, die nicht so ‚funktionieren’, wie es die ‚Gesellschaft’ leider oft verlangt. Vielleicht könnte man es so ausdrücken, dass wir versucht haben, gegen Normvorstellungen von Körpern, von Tanzschritten, von Sehgewohnheiten, von perfekter Performance anzutanzen.“

Tanzt, tanzprojekt 2025 jm rieger begradigt © zur verfügung gestellt von judith willkomm

Gemeinsam mit Schüler:inne:n der Regenbogenschule, Studierenden der Universität und der Seminarleiterin Judith Willkomm reise ich im Zug nach Zürich. Im Tanzhaus tritt Criptonite Kompliz:in auf. Der Projekttitel weckt bei mir Assoziationen an Superman, den mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten Alien vom Planeten Krypton, der sich als normaler Büroangestellter tarnt.

Es ist eine interessante Wendung, denke ich, in dem muskelbepackten fliegenden Übermenschen mit dem großen S auf eng anliegendem blauem Trikot eine Abweichung von der Norm zu sehen. Das dieses ‚Super‘ des ihn bezeichnenden ‚Man‘ vielleicht nicht als Auszeichnung, sondern als Defizit zu sehen. Oder Defizite als Auszeichnungen. Letztlich macht mir das Theaterstück „Bioluminiscence“, das ich dann im Tanzhaus sehe, klar, dass es darum gar nicht geht – und zwar genau dann, während es nur darum zu gehen scheint. Denn alles an dieser Performance erscheint barrierefrei, inklusiv und awareness-getragen: die Ankündigung des Abends, die dazu einlädt, den Raum frei zu betreten oder zu verlassen, die multiplen Übersetzungsebenen – das Stück ist gleichzeitig in englischer wie deutscher Sprache mit auf einem Teil des Bühnenbildes eingeblendeter Übertitelung –, wird von einer auf der Bühne mitten im Geschehen stehenden Übersetzerin in Gebärdensprache übertragen und begleitet von für seheingeschränkte Menschen gedachten Audiodeskriptionen, die als Teil des Stücktextes gesprochen werden.

Keine Freakshow

Hätte mir einer diese Anordnung beschrieben, hätte ich nie geglaubt, dass das funktionieren kann. Ich hätte angenommen, dass ein solches Stück unter dem Anspruch, es allen, jeder und jedem recht zu machen – die auftretende Gruppe versteht sich nicht nur als inklusiv, sondern annonciert sich auch explizit als ‚queer‘ –, schlicht zusammenbrechen muss. Das kann nicht funktionieren. Tut es aber. Ich bin überrascht und begeistert. Und vor allem sehe ich einfach eine sehr berührende Bühnenperformance, die überzeugende und deshalb durchaus Angst machende Darstellung einer postapokalyptischen Welt, und eben keine Freakshow.

Ich fühle mich auch nicht unwohl, weil mir nicht das Gefühl vermittelt wird, mich an diesem Ort gar nicht anders als ‚falsch‘ verhalten zu können. Ich sehe keine Rollstühle, sondern Figuren, die sich halt in Rollstühlen bewegen, ganz selbstverständlich. Die gelingende Inklusion löst Inklusivität als Anspruch sowohl ein wie auf. Sie führt für die Zeit der Aufführung in einen gesellschaftlichen Raum, in der sich die Grenze von ‚anders‘ und ‚nicht-anders‘ schlicht auflöst. Wir sind alle anders, und wir sind es alle nicht. Und manche tragen ihr Anderssein deutlicher nach außen als andere. Was weiß ich schon von Dir? Und Du von mir?

Da lässt sich nur eines tun. Fragen. Die Fahrt nach Zürich nutze ich, um Teilnehmende des kooperativen Seminars nach ihren Erfahrungen zu fragen. Wie war es, bei einem solchen Projekt mitzumachen?

Tanzt, tanzprojekt 2025 bildschirmfoto 2025 07 11 um 15.59.13 © zur verfügung gestellt von judith willkomm

Es ist schwer, die richtigen Worte zu finden

Es stellt sich heraus, dass es gar nicht so einfach ist, diese Erfahrungen angemessen in Worte zu fassen. „Im Nachhinein war es noch viel schöner, als ich es mir vorgestellt habe“, bringt eine Studentin den Zusammenhang von Erwartung und Erfahrung auf den Punkt. Eine Schülerin der Regenbogenschule sagt: „Wir haben uns geschminkt, dann uns fertig gemacht. Es war anstrengend und es hat Spaß gemacht.“ Dem stimmt ein Student zu: „Ingesamt ein sehr tolles Projekt, aber ich fand‘s auch anstrengend teilweise.“

Die Erfahrungen beschränken sich nicht auf den gemeinsamen Probenprozess ergänzt eine Studentin: „Ja, natürlich auch anstrengend, aber das, was man davon mitnimmt, ist doch viel mehr. Ich kannte die Regenbogenschule vorher nicht, aber den Kontakt zu kriegen zu den Schüler*innen und gemeinsam etwas aufzubauen, war so wertvoll, so toll. Das gilt auch für die Zeiten, die wir außerhalb der Proben hatten, also das Abholen und Nachhausebringen, gemeinsam mittagessen gehen.“

Praxisbezogene Seminare werden von vielen Studierenden der Universität sehr geschätzt. „Wissenschaftliches Arbeiten kann man ja auch im Kontext eines coolen Projektes lernen“, findet eine Studentin. Eine andere sagt: „Ich mag einfach Theater und Tanzen sehr und fand es toll, dass es dieses Angebot gab. Ich find es allgemein sehr wichtig, dass man aufeinander zugeht, dass man sich in der Zusammenarbeit unterstützt und einfach auch, dass man praktisch was macht.“ Die Theorie, gerade unter Geisteswissenschaftler:inn:en, scheint einen Platz im Leben zu brauchen.

Vom Taschenbuch geprägt

In meinem Studium war das noch anders. Die 1990er Jahre waren für mich noch Teil jenes „langen Sommers der Theorie“, wie Philipp Felsch das Interesse der deutschen Rezeption französischer Theorie der 1970er und 80er Jahre, Welt auf Begriffe zu bringen und mit diesen Begriffen in virtuos spielerischer Weise umzugehen, beschreibt. Theorie war die Praxis, die ich – und andere mit mir – wollten. Und Theorie hatte ein zentrales Medium: den Text oder, mehr noch, das Buch, genauer: das Taschenbuch. Die Generation der auf diese Weise geprägten Lehrenden wird langsam abgelöst von einer, die offen ist für andere Szenarien und Medien des Lehrens und Lernens.

Gleichzeitig bleibt die Schwierigkeit, wie man dem praktischen Tun im Seminaralltag genügend Raum geben kann und gleichzeitig noch Zeit findet, das so Erlernte sprachlich wieder bewusst zu machen, es anzubinden an wissenschaftliche Diskurse über dieses Tun. Judith Willkomm hat dieses Problem gelöst durch das Angebot zweier aufeinander bezogener Seminare. Die Teilnahme am Tanzseminar war nur in Kombination mit der Teilnahme an dem theoretischen Seminar „It takes three to tango: Medienwissenschaft trifft Theaterwissenschaft trifft Disability Studies“ möglich. Interessanterweise galt das aber auch umgekehrt: Nur wer bereit war, auch zu tanzen und sich der unmittelbaren Begegnung mit denen, die sonst nur Objekte von Forschung sind, auf Augenhöhe zu stellen, konnte auch den Theoriekurs besuchen.

Tanzt, tanzprojekt 2025 bildschirmfoto 2025 07 11 um 15.58.46 © zur verfügung gestellt von judith willkomm

Solche Projekte brauchen aber nicht nur die Bereitschaft von Lehrenden, outside the box zu denken und zu handeln, sondern auch vielfältige Kompetenzen. „Ich selber“, sagt Judith Willkomm, „hätte mich gar nicht getraut, auch die Choreografie zu machen.“ Sie konnte sich hier auf zwei Mitstreiterinnen verlassen: Heike Seehausen, Lehrerin an der Regenbogen-Schule, bereitet für Schulfeste oft Tänze mit Schülerinnen und Schülern vor. Die Psychologin Charlotte Lott, die am Unitheater verschiedene Tanzprojekte realisiert hat, ergänzte ebenfalls das Team und brachte auch eine wissenschaftlich-tänzerische Doppelkompetenz ein. Heike Seehausen und Charlotte Lott haben die Choreografie gemeinsam entwickelt.

Am stolzesten sind alle Beteiligten darauf, dass es gelungen ist, keine Teile des Projektes auszulagern. Es wurde nicht nur gemeinsam getanzt, auch den Flyer, die Kostüme und die Bühnenbeleuchtung haben Studierende und Jugendliche in geteilter Verantwortung entworfen und umgesetzt. Wir haben alles zusammen gemacht, höre ich auf meiner Audioaufnahme des Gesprächs, das ich im Zug geführt habe. Und das Schöne an diesem Satz ist vielleicht, dass ich ihn keiner einzelnen Person klar zuordnen kann. Das Rauschen der Technik interpretiert in diesem Fall völlig korrekt den Geist des Projektes.

Text: Albert Kümmel-Schnur, die Bilder wurden von Judith Willkomm zur Verfügung gestellt

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert