
Lehrende und Studierende von vier europäischen Universitäten (Konstanz, Köln, Kalmar, Birmingham) haben sich in Kooperation mit Amnesty International ein Semester lang in Online-Meetings mit Fragen der Ernährungssicherheit beschäftigt. Anfang Juli haben sie dann gemeinsam ihre Erkenntnisse und Ergebnisse kreativ aufbereitet und an einem Aktionstag in Konstanz vorgestellt.
Hier im reichen Europa fällt es schwer, sich Hunger vorzustellen. Wer zwischen 20 Joghurtsorten wählen kann, kommt kaum auf den Gedanken, wie es wäre, nicht mal eine verlässlich verfügbar zu haben. Und doch ist auch in Europa Ernährungssicherheit ein Thema. Die Hilfsorganisation der Malteser etwa schreibt auf ihrer Website:

„Ernährungsforscher Prof. Dr. Jakob Linseisen, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE), sagt in einem Interview mit dem ZDF, dass Schätzungen zufolge drei Millionen Menschen in Deutschland betroffen sind, also 3,5 Prozent der Bevölkerung. Darunter sind auch viele Kinder. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Jeden Tag eine warme Mahlzeit – das ist für diese Kinder nicht selbstverständlich.“
Hunger ist aber kein Schicksal, sondern eine menschengemachte Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Rohstoffen. Unter Ernährungssicherheit versteht man das Menschenrecht auf sicheren, dauerhaften Zugang zu gesunder, bezahlbarer Nahrung unabhängig von Herkunft, Gender, Klassen- und Religionszugehörigkeit außerhalb und innerhalb von Haushalten. Es reicht also nicht aus, dass unsere Landwirtschaft ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung stellt – das war die alte Perspektive unter der Frage ‚Wie viele Menschen kann die Erde ernähren?‘ Vielmehr muss die Nahrung auch für alle gleichermaßen physisch, sozial und ökonomisch zugänglich sein.
Studierende aus Hochschulen des europäischen Hochschulverbundes EUniWell (European University for Well Being), dem auch die Universität Konstanz zusammen mit 10 anderen europäischen Universitäten angehört, haben sich ein Semester lang nicht nur mit Ernährungssicherheit, sondern auch mit kreativen Methoden, politisch aktiv zu werden, auseinandergesetzt.
Hunger ist kein Schicksal

Unter Anleitung der aus Köln stammenden Dozentin, Sonderpädagogin und Künstlerin Alina Bonitz lernte die Gruppe Konzept und Praxis von Craftivism kennen und konnte diese kreative Protestmethode in einem einwöchigen gemeinsamen Seminar, das auf Schloss Blumenfeld stattfand, selbst erproben. ‚Craftivism‘ ist ein von der US-amerikanischen Soziologin Betsy Greer im Jahr 2003 eingeführter Neologismus, der die Worte ‚craft‘ (Handwerk) und ‚activism‘ (Aktivismus) miteinander verknüpft. Unter ‚craft‘ wird dabei vor allem ‚Handarbeit‘ verstanden, also textile Techniken wie Weben, Stricken, Häkeln, Sticken, die historisch eng als dem Haushalt verknüpft (domestic arts), vor allem von Frauen ausgeübt und deshalb als ‚weiblich‘ definiert werden. Handarbeit aktivistisch zu wenden und zum politischen Werkzeug zu machen, ist deshalb einerseits als Akt der Ermächtigung (empowerment) zu sehen und andererseits als eine Form des verborgenen, trickreichen Protestes. Craftivism ist also vor allem eine feministische und antikapitalistische Praxis. Aus der unterbewerteten, unterschätzten und bloß im Häuslichen verbleibenden Handarbeit unendlich vieler Frauen dieser Erde wird ein Instrument selbstbewussten politischen Protestes.

Wie macht man’s nun? Vier Tage lang arbeiteten dreizehn Studierende intensiv daran, ihre Erkenntnisse und Überlegungen zur Ernährungssicherheit craftivistisch sichtbar zu machen. Aus didaktischer Perspektive ist es außerordentlich wertvoll, wenn Wissen multisensorisch vermittelt und verarbeitet wird, wenn es nicht nur durch den Kopf, sondern auch durch die Hände geht. Auf diese Weise schreibt Wissen sich tiefer ein, es verwurzelt sich besser, weil nachhaltiger im je individuellen Wissensrepertoire. Dabei ist die multisensorische Ansprache der eine Aspekt. Der andere ist das Fehlen von standardisierten Antworten. Was Du mit Nadel und Faden, Eierkartons und Kartoffelnetzen machen willst, musst Du Dir schon selbst ausdenken. Und der Weg, den es braucht, um einen kognitiv gelernten Inhalt in ein Artefakt zu übersetzen, macht der- und demjenigen, die oder der ihn geht, auch sehr handgreiflich klar, was tatsächlich be-griffen wurde. Und was nicht.
Handarbeit zum politischen Werkzeug machen
Statistiken wurden also mithilfe bunter Eierkartons umgesetzt. Was dann auch die Vermittlungsfrage stellt und beantwortet: kapierst Du, was ich mit dieser Eierkartonage sagen will? Wenn nicht, musss nachgearbeitet werden. Obst und Gemüse wurde mit der japanischen Häkeltechnik Amigurumi in beeindruckender Fülle und Vielfalt umgesetzt. Tücher mit Äpfeln und Sprüchen – „Food Security – a Human Right“ oder „Share Fruit“ – bestickt. Aus Klorollen wurden Brokkoli und Möhren.

Die Idee hinter dieser Bastelei war ein Stand, der Menschen über Ernährungssicherheit aufklären sollte, und zwar an einem Samstag in der bestens gefüllten Fußgängerzone von Konstanz, unmittelbar vor dem Rosgartenmuseum. Dort kam das TransferRad (seemoz berichtete) als mobiles Standmöbel zum Einsatz. Gemeinsam mit Amnesty International, die auch das Seminar begleitet haben, wurde ein drehbares Glücksrad aufgebaut. Gewinnen konnte man hier allerdings nichts; stattdessen wählte man mithilfe des Rades ein Thema – „Lebensmittelverschwendung“ oder „4 Säulen“ oder auch „Ausgewogene Ernährung“. Wer auf diese Weise ein Thema gefunden hatte, erhielt eine Frage. Konnte die Person diese Frage beantworten, durfte sie sich ein Objekt – etwa ein gehäkeltes Radieschen oder eine Zitrone – mitnehmen. Blieb sie die Antwort schuldig, konnte sie sie mithilfe der gebastelten Objekte am Stand sowie der vorbereiteten Poster herausfinden und dann nicht nur neues Wissen, sondern auch ein Häkel- oder Stickobjekt mitnehmen. Die Objekte waren ebenso schön wie beliebt und viele Passant:inn:en ließen sich auf das Frage-Antwort-Spiel ein.
Eine Menschenkette aller Beteiligten, bei der ein langes Dekoband aus Verpackungsmüll gehalten wurde, schloss die Aktion ab.
Text & Bilder: Albert Kümmel-Schnur
Schreiben Sie einen Kommentar