
© Stadtarchiv Radolfzell
Der Historiker Markus Wolter hat angesichts der bevorstehenden Entscheidung im Radolfzeller Gemeinderat, ob August Kratt der Ehrenbürgerwürde der Stadt würdig sei, einen offenen Brief geschrieben.
Hier dieser Brief in vollem Wortlaut:
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Gröger, sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Laule, sehr geehrte Damen und Herren Gemeinderäte,
Gestatten Sie mir an dieser Stelle und in Form eines Offenen Briefes eine persönliche Stellungnahme zur aktuell geführten Debatte über August Kratt und dessen 1962 verliehenen Ehrenbürgerwürde.
Spätestens seit meinem Artikel über die „SS-Garnison Radolfzell 1937-1945“ für die Stadtchronik 2017 habe ich mich mit der Kapitulationsgeschichte des 25. April 1945, dem Narrativ von der mehr oder weniger „kampflosen Übergabe“ und „Rettung der Stadt Radolfzell“ vor ihrer Zerstörung, und nicht zuletzt mit der Person August Kratts als kommissarischer Bürgermeister der SS-Garnisonsstadt 1942-1945 kritisch auseinandergesetzt.
Faktenbasiert und durch Archivquellen belegt, kam und komme ich dabei zu einer wesentlich kritischeren Einschätzung über die in Frage stehende NS-Belastung August Kratts als das von Dr. habil. Carmen Scheide im Auftrag der Stadt erstellte und im Mai 2025 veröffentlichte Gutachten.4
Für eine differenzierte, detaillierte und öffentlich zur Diskussion gestellte inhaltliche Kritik des Gutachtens und seiner Lesarten ist, wenige Tage vor der anberaumten GR-Sitzung und dem Antrag der FGL auf Aberkennung der Ehrenbürgerschaft, nicht mehr die Zeit, und dieser Offene Brief nicht die angemessene Form.
Unabhängig davon möchte ich hiermit zum Ausdruck bringen, dass ich das Gutachten von Frau Dr. habil Carmen Scheide für mindestens unvollständig halte, da es die für eine faktenbasierte und quellenkritische Einschätzung von Kratts tatsächlicher NS-Belastung relevante Archivquellen und Sekundärliteratur5 nicht berücksichtigt bzw. auswertet.
Zur Person
Angaben zu meiner Person:
Markus Wolter, geboren 1964 in Radolfzell; Abitur in Singen am Hohentwiel, Studium in Freiburg und Berlin in den Fächern Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaft, Studienabschluss M.A. 1992 in Freiburg. Als freier Historiker und selbständiger Antiquariatsbuchhändler lebe ich mit meiner Familie seit 2017 in Emmendingen, davor 25 Jahre in Freiburg.
Ich forsche und publiziere vorrangig zur Geschichte des Nationalsozialismus, Orts- und Landesgeschichte des Oberrheins und Bodenseeraums und zur Geschichte des Mittelalters. Veröffentlichungen in Jahrbüchern regionaler Geschichtsvereine (Bodensee, Oberrhein), Co- Autor der renommierten Buchreihe „Täter Helfer Trittbrettfahrer. NS-Belastete in Baden- Württemberg und Bayern“, hrsg. von Dr. Wolfgang Proske; ferner bin ich Co-Autor der 2017 erschienenen „Chronik der Stadt Radolfzell“ mit dem Artikel „Die SS-Garnison Radolfzell 1937-1945.“
Meine Recherchen und Veröffentlichungen zur Geschichte des NS behandeln schwerpunktmäßig Fragen der Täter- und Opferforschung, NS-Rassenideologie, Eugenik, Antisemitismus und Holocaust. Seit drei Jahren arbeite ich als wissenschaftliche Honorarkraft für das Archiv der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem. Im Rahmen des Projekts des Aufbaus einer umfassenden Dokumenten- Datenbank in Yad Vashem erschließe und digitalisiere ich in südwestdeutschen Landes- und Kommunalarchiven alle relevanten Bestandsdokumente zum Thema Holocaust einschließlich der juristischen Aufarbeitung nach 1945.
Mein wissenschaftliches Interesse verbindet sich eng mit einem zivilgesellschaftlichen Engagement für die regionale Erinnerungskultur im Bodenseeraum und am Oberrhein. So war ich 2012 Mitbegründer der „Initiative Stolpersteine für Radolfzell“, für die ich bis 2020 die Biographien der mit Stolpersteinen gewürdigten NS-Opfer dieser Stadt recherchierte und veröffentlichte; zuletzt die Biographien der drei Schwestern Josefine, Anna und Agnes Fetzer.1
Ferner gehörte ich 2012 zu den Gründungsmitgliedern der „Projektgruppe Radolfzeller Gedenkstätten“. Nach längerem Vorlauf mit intensiver historischer Recherche und ortgeschichtlicher Dokumentation gelang in Zusammenarbeit mit den Gremien der Stadtverwaltung schließlich die Realisierung zweier Gedenkstätten, die 2014 in der Liste der Gedenkstättenorte Baden-Württembergs (LpB) aufgenommen wurden.2
Dieser Prozess wurde durch eine von mir seit 2012 inhaltlich erarbeitete und bis heute betreute Website in der Tradition historischer Werkstätten „Geschichte von unten“ zur NS- Geschichte und Erinnerungskultur der Stadt Radolfzell vorangebracht und seitdem kritisch begleitet.3 Ich bin aktives Mitglied des Vereins für jüdische Geschichte und Kultur Emmendingen e.V., beteilige mich an seinen Gedenkveranstaltungen und halte dort Vorträge.
Die Rolle der Radolfzeller Stadtverwaltung bei Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuches“ – Zwangssterilisationen in den Krankenhäusern von Konstanz, Radolfzell und Singen 1934-1939
Wie bereits in meinem 2020 veröffentlichten Artikel über die Radolfzeller Ärzteschaft im Nationalsozialismus6 nachgewiesen, war die Stadtverwaltung Radolfzell (als einzige im gesamten Landkreis Konstanz) im Rahmen der Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ eigeninitiativlich und eigenmächtig tätig und brachte mit den Geschwistern Fetzer vermeintlich „erbkranke“ Bürgerinnen beim Gesundheitsamt Konstanz zur Anzeige, was schließlich zu deren Zwangssterilisationen in den Krankenhäusern von Radolfzell, Singen und Konstanz führte.
Bei meiner damaligen Auswertung der einschlägigen Akten des Erbgesundheitsgerichts und des Gesundheitsamts Konstanz im Staatsarchiv Freiburg (StAF) konnte ich in zwei Fällen (Anna Fetzer und Agnes Zimmermann, geb. Fetzer) belegen, dass Bürgermeister Josef Jöhle eigenmächtig vorauseilend deren „erbgesundheitliche“ Anzeige veranlasste und die Zwangssterilisation der beiden Frauen „anregte“, da er sie für „angeboren schwachsinnig“ hielt. (Anhang: „Die Radolfzeller Ärzteschaft“, S. 174 f.) Anna Fetzer wurde in Folge im April 1938 im Krankenhaus von Radolfzell zwangssterilisiert, Agnes Zimmermann ein Jahr später im Krankenhaus von Singen.7
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte habe ich bei nochmaliger Revision der genannten Akten ein von Kratt eigenhändig unterschriebenes Dokument ermittelt, das belegt: Auch Jöhles damaliger Beigeordneter, Aufsichtsrat des Radolfzeller Krankenhauses, August Kratt, war in mindestens einem Fall an Zwangssterilisationen im Landkreis Konstanz beteiligt. Als „Bürgermeister I.V“ und „Beigeordneter“ zeichnend und in Zuarbeit von Bürgermeister Josef Jöhle bearbeitete er am 20. Januar 1938 eine an das Bürgermeisteramt ergangene Anfrage des Amts- bzw. Erbgesundheitsgerichts Konstanz vom 18. Januar 1938 zu der als Putzhilfe in der Radolfzeller Volksschule arbeitenden Anna Fetzer, was zusammen mit einem ärztlichen „Gutachten“ des Hausarztes und der amtsärztlichen Untersuchung im Gesundheitsamt Konstanz dem Gericht letztlich die „Argumente“ lieferte, die „Unfruchtbarmachung“ der Frau 1938 per Gerichtsbeschluss anzuordnen. Die Operation wurde vom damaligen Klinischen Leiter, Dr. Ernst Suren, vorgenommen, der durch Jöhle und Kratt als Nachfolger von Dr. Walter Brömel Ende 1937 installiert wurde, um die „untragbaren Zustände“ am Radolfzeller Krankenhaus vermeintlich zu beenden.
Mit der erweiterten Auswertung dieser lückenlos überlieferten Akten im Staatsarchiv Freiburg lässt sich der konkrete Nachweis einer erheblichen NS-„Belastung“ Kratts erbringen, die eine nachträgliche, symbolische Aberkennung seiner Ehrenbürgerwürde ermöglicht und meiner Ansicht nach erforderlich macht.8
Das Gutachten von Dr. habil. Carmen Scheide erörtert in den detaillierten Ausführungen zum Radolfzeller Krankenhaus bzw. zur Rolle Jöhles und Kratts bei Besetzung der Chefärzte 1937/389 weder die Zwangssterilisationen am Radolfzeller Krankenhaus unter Leitung von Dr. Walter Brömel und Dr. Ernst Suren, noch berücksichtigt es meinen Artikel von 2020 und den dort ausgewerteten Aktenbestand.
Das Entlastungsnarrativ des Spruchkammerurteils von 1948, Kratt habe als Amts- und NSDAP-Funktionsträger „persönlich nie jemanden denunziert“ oder „geschädigt“, lässt sich faktenbasiert und quellenkritisch widerlegen.
Der genannte Sachverhalt soll hiermit noch vor der Abstimmung über die von der FGL beantragte Aberkennung der Ehrenbürgerschaft Kratts am 24. Juni der Stadtverwaltung und dem Gemeinderat von Radolfzell zur Kenntnis gebracht werden.
Ich bin bereit, den genannten Sachverhalt in einem wissenschaftlichen Aufsatz näher darzulegen bzw. darüber in Radolfzell zu referieren. Die Presse wurde vorab bereits informiert.
Sie, geehrte Damen und Herren Gemeinderäte, bitte ich, die mehrheitliche Empfehlung des AK Erinnerungskultur, aufgrund des Gutachtens an einer Ehrenbürgerschaft Kratts festzuhalten, zu überdenken.
Mit freundlichen Grüßen
Markus Wolter, M.A.
Text: Markus Wolter/red.
Anmerkungen
1 Vgl.: SK-Artikel vom 15. Oktober 2020
2 Vgl. die Gedenkorte: „Ehemalige SS-Kaserne/ Dachauer KZ-Außenkommando Radolfzell“ und „Ehemaliger Schießstand der Waffen-SS Radolfzell“ unter: https://www.gedenkstaetten-bw.de.
3 Vgl.: https://radolfzell-ns-geschichte.von-unten.org/tiki-index.php
4 Zu Literaturangaben und Einzelnachweisen vgl. Wikipedia
5 Vgl. grundlegend: Sabine Bade, Roland Didra: „Es konnte alle treffen. Gedenkbuch für die Konstanzer Opfer von NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Verbrechen 1934–1945. Mit einem Vorwort von Aleida Assmann. Konstanz 2024.
6 Markus Wolter: Die Radolfzeller Ärzteschaft im Nationalsozialismus. Das Fallbeispiel Dr. med. Hans Foerster (1894–1970). In: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung. 138 (2020), Thorbecke Verlag, Ostfildern 2020, S. 157–192, hier S. 174 f.; Online hier.
7 Vgl.: https://radolfzell-ns-geschichte.von-unten.org/tiki-download_file.php?fileId=3631
8 Kriterien für die gemäß § 22 Absatz 2 Gemeindeordnung Baden-Württemberg (GemO BW) durch einen demokratisch gefassten Beschluss eines demokratisch gewählten Gemeinderats verliehene Ehrenbürgerwürde posthum symbolisch abzuerkennen, „sind beispielsweise eine posthume, symbolische Aberkennung einer Ehrenbürgerwürde sind beispielsweise die Beteiligung an NS-Kriegsverbrechen, die Verfügung von aus heutiger Sicht ungerechten Gerichtsurteilen gegen politische Gegner oder in den zahlreichen Euthanasie- und Zwangssterilisationsfällen (Hervorhebung des Vfs.), Denunziationen, Antisemitismus, Beteiligung an rassistischer, menschenverachtender Propaganda, Selbstaussagen zur eigenen Verortung im NS-Staat und der Umgang mit der eigenen Rolle nach 1945.“ (Zit. laut Beschlussvorlage Beschlussvorlage – 2025/0010-02 der GR- Sitzung vom 24. Juni 2025; unter: https://www.radolfzell.sitzung-online.de.
9 Dr. habil. Carmen Scheide: Gutachten August Kratt, 2025, S. 20 ff.
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