
Ein Semester lang haben sich 22 Studierende der HTWG unter Leitung ihrer Dozent*innen Myriam Gautschi und Roberto Rossi mit der architektonischen Gestaltung von Nachbarschaft und Gastfreundlichkeit beschäftigt. Ihr Feld ist der alte Dorfkern des lang nach Kreuzlingen eingemeindeten Dorfes Kurzrickenbach. Am 18. Juli stellten sie elf verschiedene Möglichkeiten, das Gelände rund um die alte Dorfkirche neu zu gestalten, vor.
„Nein!“ Myriam Gautschi lacht, bleibt aber ganz bestimmt und klar. Sie erläutert, warum sie gegen eine farbliche Unterscheidung von Neubauten und vorgefundener Architektur bei Architekturmodellen ist. „Ich habe Euch immer gesagt: macht einfarbige Modelle. Da wird dann deutlich, ob das organisch ist oder nicht.“ „Aber“, wendet ein Student zaghaft ein, „es ist doch nur ein Modell.“ „Nur ein Modell? Jedes Modell, jeder Plan ist eine eigene Realität“, antwortet seine Professorin. Und lacht. Dieses Lachen ist ansteckend und mitreißend, voller Energie und Begeisterung.
Die eigene Realität von Plänen und Modellen wird lebendig an diesem allzu heißen Nachmittag draußen auf dem Platz vor der Kirche in Kurzrickenbach. 22 Architekturstudierende haben ein Semester lang in Zweierteams Ideen zur Weiterentwicklung des Areals um die alte Kurzrickenbacher Dorfkirche entwickelt. Nun stellen sie ihre Überlegungen in Modellen und Plänen öffentlich vor. Dazu haben sie ein einfaches Lattengerüst entwickelt, das – wie eine Reaktion auf das Holzgerüst, das den wilden Wein an der Wand eines der zur Kirche gehörigen Wirtschaftsgebäude – an der Wand des Pfarrhauses lehnt. Die Latten sind durchgängig mittels zweier Bretter miteinander verknüpft, an die man Pläne heften kann. Und davor stehen Tische mit Modellen aus Holz, Pappe, Kunststoff und, ja, Beton.

Die eigene Realität von Plänen und Modellen
So kreieren die Pläne und Modelle zunächst eine ganz greifbare physische Realität. Sie sind nicht nur Entwürfe einer ungewissen Zukunft dieses Ortes. Sie verändern vielmehr diesen Ort ganz konkret schon jetzt, machen aus ihm einen Denk- und Vorstellungsraum. Lassen den Ort nur zu einer seiner Möglichkeiten werden. Es könnte doch auch so aussehen? Oder so? Immer wieder wendet man den Blick, denkt, ah, hier könnte ein Garten sein, ein Gebäude, eine Treppe.
Und indem die Modelle und die durchweg glänzenden Vorträge der hoch engagierten Studierenden solcherart die Verhältnisse ins Tanzen bringen, entsteht ein Ort des Diskurses, der Diskussion, eine Agora – der Raum wird Platz, Piazza vielleicht.
Und eben deshalb stört es Myriam Gautschi auch so merklich, dass es die unter der glühenden Sonne schwitzenden und dürstenden Körper der Zuhörer:innen in den Schatten zwischen Kirche und Küche zieht, dorthin, wo eigentlich, plangerecht, erst der zweite Teil des Tages stattfinden soll. „Nein“, sagt sie, „eigentlich sollten hier die Table Talks [also: die offenen Diskussionen mit den präsentierenden Student:inn:en] stattfinden. Dafür war dieser Raum gedacht.“ Ein Seufzen und ein pragmatisches „Also gut!“ und ein lautes, gewinnendes Lachen bringen Bewegung in die Gruppe, die Pläne, die Modelle, die Präsentierenden und die Zuhörenden.
Ungewisse Zukunft dieses Ortes
Ja, es kann, es darf, wenn’s denn sein muss – auch anders sein einmal in dieser perfekt orchestrierten Präsentation. „Aber jetzt ist’s nicht mehr so heiß, oder?“ Mit einem Seufzen bewegen sich Modelle und Menschen wieder auf den Kirchplatz. Dazu zählen neben Studierenden und Gästen auch zwei Architekten, Tobias Schnell aus Feldkirch und Jürgen Oswald aus Kreuzlingen und eine Architektin, Verena Jehle aus Zürich, die den Studierenden nach ihren Präsentationen Feedback geben.

Nein, es ist nicht gleichgültig, wo etwas stattfindet. Alles hat hier seinen ganz klar gegebenen Ort, nicht erst in der Zukunft, nicht erst, wenn Gedanke Stein geworden ist. Nein, hier und jetzt – auch das Aushandeln, das Suchen nach, da Streiten um den richtigen Weg hat seinen Ort und seine Zeit. Indem wir unseren Modellen und Plänen die richtigen Orte geben, werden diese selbst zu Modell-Orten, Ortsmodellen.
Auch das Open Place als Ganzes ist ja ein virtueller Ort, ein Modell für das Zusammenleben und das gute Führen von Konflikten, ein Modell für eine andere Gesellschaft. Vor elf Jahren hat sich die evangelische Kirchgemeinde Kreuzlingen am Standort Kurzrickenbach auf den Weg gemacht, Christentum in einem ganz ursprünglichen Sinn zu leben: als Ort, wo alle willkommen sind, wo es weder um Herkunft, sozialen Status, physische und/oder pychische Un/Versehrtheit, Geschlecht oder auch ‚nur‘ die Religionszugehörigkeit geht. Ein Christentum, das sich nicht erst in einem unbestimmt-paradiesischen Jenseits, sondern im ganz konkreten Jetzt und Hier des Miteinanders: „Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen“, sagt der Auferstandene. Doch was wäre damit anderes gemeint, als dass dieser Auferstandene immer ganz genau dort ist, wo diese zwei oder drei in ‚seinem‘ Namen beisammen sind.
Ein virtueller Ort
Dass er, so könnte man diesen Gedanken vielleicht soziologisch, nicht theologisch rekonstruieren, gar keine außerweltliche Instanz ist, die zu einer Gemeinschaft hinzutritt. Sondern dass er der Geist dieser Zusammenkunft selbst ist, die Energie, die aus dem Sozialen wächst. Zwei oder drei: mehr braucht es dafür nicht. Hier geht es um ein Gegenmodell zu einer Gesellschaft, die spätkapitalistisch ein immer größeres Mehr von Konsum zu organisieren versucht zum immer größeren Nutzen einer immer kleineren Zahl von Menschen. Koste es, was es wolle.

Und eben deshalb ist auch dieser Semesterabschluss unter heißer Sonne ein Fest. Ein Modell guten Miteinanders. All diese Modelle helfen, dieses Miteinander wachsen zu lassen. Erst ein Gedanke, eine Idee, ein vages Gefühl. Und dann eine Richtung, in der dieses Gefühl sich in Diskussionen und Verwaltungsentscheidungen, Erdbewegungen und Pflastersteinen materialisieren kann. Modell und Materialität sind keine unversöhnlichen Gegensätze: sie sind nur unterschiedliche Daseinsformen dessen, was man Realität nennen könnte.
Ziel aller Projekte der Studierenden ist die Neugestaltung des ehemaligen Dorfzentrums von Kurzrickenbach. Rund um die alte Dorfkirche befinden sich einerseits der Kirche gehörende Gebäude – das Pfarrhaus mit Büro, Café und Kunstatelier, ein angrenzendes historisches Wirtschaftsgebäude, das jetzt im Erdgeschoss eine Kleiderbörse beherbergt, im ersten Stock sind Mietwohnungen. Dazu kommt ein Küchenneubau, der auch eine Foodsharingausgabestelle ist. Anders als bei den offiziellen „Tafeln“ muss hier niemand Bedürftigkeit nachweisen. Wenn Du hier bist, bist Du hier. Ohne Belege. Ohne Scham. Ohne Entwürdigung. Das ist das Konzept.
Modell und Materialität sind keine unversöhnlichen Gegensätze

An die Kirche grenzt ein kleiner Kirchhof an, der kleinste von Kreuzlingen, immer wieder von der Schließung bedroht. Neben dem Friedhof ist, nur durch eine Hecke getrennt, ein großer Spiel- und Sportplatz, der zum angrenzenden Schulzentrum gehört. Dieses soll demnächst erweitert werden – die Kirchgemeinde hat der Stadt Kreuzlingen zu diesem Zweck etwas Land unterhalb des Friedhofs, Richtung See, verkauft. Dahinter ist es laut: eine breite Durchgangsstraße führt aus Kreuzlingen heraus, ein großer Migros sorgt für regelmäßigen Einkaufsverkehr. Der kleine Dorfbach, der in den See hineinfließt, ist wieder geöffnet worden. Eigentlich eine schöne Idee, doch leider in der Realisierung eine verpasste Chance. Statt eines belebenden Wasserlaufs mit sanften Ufern, an denen man sitzen oder spielen könnte, ist eine betonierte Wasserrinne mit ein wenig Alibinatur entstanden. Drumherum: ein Wohngebiet.
Man sieht schnell: das Gelände der Kirche ist ein Kreuzungspunkt ganz unterschiedlicher Linien und Bedürfnisse. Anwohner*innen werden möglicherweise durch die regelmäßig läutenden Glocken gestört. Friedhofsbesuchende durch spielende Kinder. Einkaufspassant*innen stören die Stille einer Kirchumgebung durch geschäftiges Treiben und werden umgekehrt im gradlinigen Erreichen von Zielen jenseits der Kirche gestört. Überall werden also Grenzen überschritten, werden Nachbarschaft und Gastfreundlichkeit auf harte Proben gestellt.
Was kann Architektur dazu beitragen, jeder und jedem seinen Platz zu geben, Grenzen klar zu kommunizieren, Nachbarschaft mitzugestalten und Gäste willkommen zu heißen? Nichts Geringeres war den Teilnehmer*innen von Myriam Gautschis Seminar abverlangt. Der Wissenschaftsverbund Vierländerregion Bodensee hat zum zweiten Mal eine Durchführung dieses schon im vergangenen Sommer erfolgreichen Projektes (seemoz berichtete) finanziert. Ging es beim ersten Mal um die Neugestaltung des Innenraums der Kirche und den engen Kontakt zu den Mitgliedern des Open Place, ging es bei diesem Seminar um die Umgebung der Kirche und die Menschen, die diese Umgebung nutzen, diejenigen, die sie gestalten und diejenigen, die für sie verantwortlich sind.

Kreuzungspunkt ganz unterschiedlicher Linien und Bedürfnisse
In der Kirche haben sich die Professorin und ihre Studierenden deshalb mit den Menschen, die das Open Place organisieren und mit Leben erfüllen, aber auch mit Nachbarn und Fachpersonen für unterschiedliche Themen getroffen. Diese Treffen trugen den Namen Table Talks und wurden von Studierenden vorbereitet. Intensiv wurden auf diese Weise Themen erschlossen und die Ergebnisse der Gespräche kreativ sichtbar gemacht.
Genau diese kooperative Form der Planung ist nun den Modellen und Plänen anzusehen. Mal verstreuen sie Gebäude beweglich, dynamisch über den Platz, mal schaffen sie klare, wenn auch durchlässige Grenzen, mal dehnen sich architektonische Gesten in benachbarte Räume hinein, mal wird das Gelände selbst zu einer durchlässigen Form unterschiedlich temporärer Aufenthalte. Modularität und die daraus resultierenden individuellen Anpassungsmöglichkeiten sind für viele Konzepte maßgeblich.
Ganz wichtig war allen Projekten, dass hier nicht nur Bestehendes neu geordnet wird, sondern tatsächlich etwas Neues entsteht. Am eindrücklichsten ist dabei die Vorstellung, das Open Place durch ein Open House zu ergänzen, einen Raum zeitlich begrenzter Wohnangebote für Menschen in Notsituationen. „Ich kann das sehen“, sagt Myriam Gautschi bei der Analyse eines Modells, „wie dieser Raum in die Nacht hineinleuchtet und Schutz anbietet.“
Text & Bilder: Albert Kümmel-Schnur
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