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IHRA oder JDA? Hilfe für die Verwirrten

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Juden und Jüdinnen gegen den Gaza-Krieg: Demonstrationen im Februar 2024 in Kopenhagen

Zwei Antisemitismus-Definitionen prägen immer wieder die Debatte über den Gaza-Krieg: Die auch vom deutschen Staat unterstützte Begriffsbestimmung der International Holocaust Remembrance Alliance. Und die von jüdischen Gelehrten verabschiedete Jerusalem Decleration, an deren Ausarbeitung Aleida Assmann beteiligt war. Hier erläutert die Konstanzer Wissenschaftlerin, wie es dazu kam.

Auf dem Parteitag der Linken fiel eine Entscheidung, die hohe Wellen geschlagen hat. Man wolle anstellte der Antisemitismus-Definition der IHRA die Antisemitismusdefinition der JDA übernehmen. Was es mit diesen Definitionen auf sich hat, war aber nicht für alle Leserinnen und Leser erschließbar.

Während man sich daran gewöhnt hat, dass das Wort „Antisemitismus“ immer häufiger in den Medien vorkommt, bleiben diese beiden Abkürzungen rätselhaft. Es sind Symbole, die polemisch gegeneinander ausgespielt werden, deren Geschichte und Bedeutung aber den meisten verschlossen bleibt. Der folgende Artikel stellt zu diesem Thema deshalb einige Hintergrund-Informationen zusammen, sozusagen als „Hilfe für die Verwirrten“  (eine Anspielung auf einen berühmten Titel des jüdischen Gelehrten Maimonides).

Zur Geschichte der IHRA-Definition 

Die Geschichte der IHRA begann 1998 mit einer Initiative des schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson, der das Bedürfnis hatte, das damals schon schwindende Wissen über den Holocaust an den Schulen und in der Gesellschaft zu stärken. Dabei beriet ihn der berühmte  Holocausthistoriker Yehuda Bauer, Schöpfer und Direktor der Gedenkstätte Yad Vashem.  Aus dieser Zusammenarbeit ging die Idee einer internationalen Organisation hervor, die in Schulen und Museen eine Gedenkkultur an den Holocaust aufbauen sollte. 

Sie nannte sich zunächst „International Task Force für Holocaust Education, Remembrance and Research“, abgekürzt ITF. Nach einemVorbereitungstreffen fand vom 27.-29. Januar 2000 die Gründungskonferenz in Stockholm mit 46 Staatsregierungen statt. Das Ziel dieses einmaligen transnationalen Bündnisses bestand darin, die Erinnerung an den Holocaust über die Millenniumschwelle zu tragen und dafür zu sorgen, dass sie in den verschiedenen Mitgliedstaaten auch über die Generationenschwelle lebendig gehalten wird. 

Bei diesem Treffen wurde als Gründungsurkunde die „Stockholmer Erklärung von 2000“ verabschiedet. Es lohnt, hier an sie zu erinnern, weil sie ein bedeutendes Dokument der Aufklärung, Bildung und Selbstverpflichtung zur Mit-Menschlichkeit ist. Sie enthält folgende Punkte:

– Die Beschreibung des Holocaust als Zivilisationsbruch, verbunden mit der Verpflichtung, für dieses historische Ereignis eine dauerhafte Erinnerung zu schaffen
– die gemeinsame Bekämpfung von Holocaust-Leugnern
– die gemeinsame Bekämpfung weiterer Genozide sowie ethnische Säuberungen sowie Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit
– die Beförderung der Holocaust-Forschung und die Öffnung von Archiven
– die Beförderung der Holocaust-Erziehung
– die Beförderung der Holocaust-Erinnerung unter anderem  durch Einführung des von Roman Herzog vorgeschlagenen neuen Gedenktags, den 27. Januar
– Respekt gegenüber den Überlebenden
– und die Beförderung des Strebens der Menschheit nach gegenseitigem Verstehen und Gerechtigkeit.

2008 benannte sich die ITF um in International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Ihr Ziel bestand weiterhin darin, die Aufklärung, Erforschung und Erinnerung an den Holocaust weltweit zu fördern. Heute umfasst diese Organisation 34 Mitgliedstaaten, darunter sämtliche Staaten der EU. Nichteuropäische Mitgliedstaaten sind Argentinien, Australien, USA, Israel, Schweiz, Norwegen und Großbritannien. 

Die IHRA-Definition (2016)

Zu einem entscheidenden Richtungswechsel kam es im Mai 2016 in Bukarest. Dort verlagerte die IHRA ihren Fokus von der Holocausterinnerung auf die Bekämpfung von Antisemitismus. Zu diesem Zweck verabschiedete das Plenum eine „Arbeitsdefinition Antisemitismus“. Damit reagierte es auf eine veränderte globale politische Lage. Durch Erstarken des islamischen Fundamentalismus entstand das Bedürfnis, den Staat Israel besser zu schützen. Bei der neuen IHRA-Definition wurde auf eine ältere zurückgegriffen, die von dem jüdischen Autor und Rechtsanwalt Kenneth Stern stammt. Der Verfasser dieser Definition allerdings beschwert sich inzwischen, dass seine Definition als politisches Instrument der Zensur und Einschüchterung eingesetzt wird. 

Ihr Kernsatz lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

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Kundgebung im November 2023 in Köln

Erstaunlich an diesem Kernsatz ist die gewisse Vagheit der Formulierung. Es folgt als Ergänzung ein Satz zum israelbezogenen Antisemitismus:  „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. 

Darauf folgen elf Beispiele, von denen sich sieben auf den Staat Israel beziehen.  

Ohne Kommunikation durchgesetzt

Diese Definition wurde in vielen IHRA-Mitgliedsländern mit atemberaubender Geschwindigkeit als verbindliche Richtlinie der Antisemitismusbekämpfung umgesetzt. Das erklärt sich durch den singulären Durchsetzungsmechanismus der IHRA. Hier herrscht „eine Balance von Experten und Diplomaten“ auf der Grundlage des Konsensprinzips. 

Das bedeutet, dass Expert:innen und Politiker:innen ganz eng zusammenarbeiten und ihre Entscheidungen direkt von oben in die Politik ihrer jeweiligen Länder einbringen können. Den neuen Richtlinien gehen in den jeweiligen Ländern deshalb auch keine Diskussionen voraus; es gibt weder mediale Debatten noch eine Aufklärung der Bevölkerung über diese Maßnahmen. Auch der Kurswechsel der IHRA wurde 2016 in den Mitgliedstaaten 2016 nicht kommuniziert, sondern lediglich vollstreckt. 

Bei der Durchsetzung der IHRA-Definition nimmt Deutschland übrigens eine Sonderrolle ein. In der Fassung, die die Bundesregierung  2017 verabschiedete, wurde der Satz über Israelkritik („Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein”) als Erweiterung in die Kerndefinition mit eingeschlossen. Gleichzeitig wurde der folgende Satz: „Kritik an Israel, die der Kritik an anderen Staaten ähnlich ist, kann nicht als Antisemitismus gelten“ ersatzlos gestrichen. (Dieser Satz fehlt auch auf der Website des Antisemitismusbeauftragten.) In Deutschland ist die Waffe gegen Antisemitismus schärfer geschliffen ist als in anderen Ländern.

Arbeit an der JDA 2020–2021

Nach vier Jahren Erfahrung mit der IHRA-Definition setzte sich 2020 eine Gruppe von 25 jüdischen Gelehrten (coronabedingt per Zoom) zusammen, um an einem alternativen Definitions-Vorschlag zu arbeiten. Für ihre Jerusalem Definition on Antisemitism (JDA) nahm sie sich zehn Monate Zeit und veröffentlichte das Ergebnis im März 2021. Das Ziel der JDA war eine Antisemitismus-Definition, die das Recht auf Meinungsfreiheit aufrechterhält und eine größere Vielfalt an Stimmen innerhalb des Judentums abbildet. Die Erstveröffentlichung wurde von 210 internationalen Gelehrten unterschrieben, 370 weitere Unterzeichner folgten.  

Die Kerndefinition der JDA lautet: „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).“

Es folgen Beispiele, die in drei Gruppen gegliedert sind: Die Beispiele 1–5 beschreiben, was allgemein antisemitisch ist, die Beispiele 6–10 beschreiben, was antisemitisch ist mit Blick auf Israel / Palästina, und die Beispiele 11–15 beschreiben, was mit Blick auf Israel / Palästina nicht antisemitisch ist. 

Die meisten Punkte beider Erklärungen sind völlig unstrittig. Warum also der heftige Streit? Die Mitarbeiter der JDA wurden unmittelbar nach Veröffentlichung ihrer Erklärung des Antisemitismus bezichtigt. Woran entzündete sich der Streit? Es sind im Grunde drei Punkte, die dabei eine Rolle spielen. An der JDA wird kritisiert, dass die Formulierung vom „Existenzrecht Israels“ nicht vorkommt. Punkt 10 in der Gruppe der Beispiele lautet jedoch: „Es ist antisemitisch, Juden und Jüdinnen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben.“ Das darauffolgende Beispiel (Punkt 11), lautet: „nicht antisemitisch ist die Unterstützung der palästinensischen Forderung nach Gerechtigkeit und der vollen Gewährung ihrer politischen, nationalen, bürgerlichen und menschlichen Rechte, wie sie im Völkerrecht verankert sind“. Punkt 14 enthält eine weitere Aussage, an der sich die Geister scheiden: „Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.“  

Rückblickende Einordnung

Während die JDA-Definition von den Befürwortern der IHRA als antisemitisch eingestuft wird, beruft sich umgekehrt die JDA explizit auf die Grundlagen der IHRA. Sie schließt sich in einer Präambel explizit der „Erklärung des Stockholmer Internationalen Forums über den Holocaust aus dem Jahr 2000“ an. Hier sind wir noch einmal an einem Punkt, an dem sich die Geister scheiden. 

Der folgende Satz in der Präambel lautet: wir vertreten „die Auffassung, dass Antisemitismus spezifische Besonderheiten aufweist, der Kampf gegen ihn jedoch untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen alle Formen rassistischer, ethnischer, kultureller, religiöser und geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbunden ist“. 

Mit dieser politischen Grundhaltung verhindert die JDA-Definition Formen der politischen Instrumentalisierung und ermöglicht Formen der Solidarisierung. Sie ist das Gegenteil einer Kampfansage, denn sie ist um Differenzierung bemüht und versteht sich als ein „zusätzliches Hilfsmittel“ – nicht mehr und nicht weniger. 

Text: Aleida Assmann
Fotos: Demonstration von Juden und Jüdinnen für gerechten Frieden, Februar 2024 in Kopenhagen (© FunkMonk, Wikimedia Commons) / Demonstration November 2023 in Köln (©Nicola, Wikimedia Commons
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