
Am 27. Mai liest die tschechische Schriftstellerin Radka Denemarková im Astoriasaal aus ihrem Roman „Ein herrlicher Flecken Erde“. Die Lesung ist Teil der Reihe „Lebenswege nach 1945“, die die Universität anlässlich der Erinnerung an 80 Jahre Kriegsende veranstaltet (seemoz berichtete).
Vor über einem Jahr sprach mich, Albert Kümmel-Schnur, Mitarbeiter im Team Transfer Lehre der Universität Konstanz, Miriam Finkelstein, Professorin für Slavische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft, an. Nächstes Jahr, so meinte sie, jähre sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum achtzigsten Mal. Sie fände es wichtig, auf dieses Ereignis eine osteuropäische Perspektive zu werfen. Ich stimmte sofort zu – und stellte mir zunächst etwas ganz anderes vor. Ich dachte an Blicke aus Osteuropa auf Deutschland und hatte, shame on me, einen Moment lang völlig vergessen, dass der Zweite Weltkrieg zwar von Deutschland angezettelt worden war, aber eben nicht ohne Grund „Welt“krieg genannt wurde, weil sehr viele Länder dieser Erde davon betroffen waren. Zu prominent hat sich dieses Ereignis in die eigene Identität eingegraben, dass man fast nicht mehr in der Lage ist, von dieser abzusehen – die Eltern Kriegskinder, die Großeltern Kriegsbeteiligte in der einen oder anderen Weise und man selbst: Kriegsenkel.
„Viele der spezifisch osteuropäischen Kriegserfahrungen, die sich oft wesentlich von jenen im Westen Europas unterscheiden, sind in Deutschland allerdings bis heute nur wenig bekannt: etwa der ‚Holocaust by bullets‘, die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch Erschießungen im Westen der Sowjetunion, die Partisanenbewegung im ehemaligen Jugoslawien, die erzwungene Umsiedlung Hunderttausender Menschen durch die Grenzverschiebungen Polens oder etwa die 900-tägige Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht“, schreibt Miriam Finkelstein im Kommentar zu ihrem Seminar „Wunden, die nie heilen. Osteuropäische Narrative über den Zweiten Weltkrieg“, das im laufenden Sommersemester an der Universität Konstanz stattfindet.
Literatur ermöglicht andere Perspektiven
Es sind die Urenkel:innen des Zweiten Weltkriegs, die Studierenden von heute, die sich mit literarischen Texten auseinandersetzen, die versuchen, dem Grauen und der Zeit danach Namen, Stimmen und Gesichter zu geben. Das kann Literatur wie kaum ein anderes Medium: andere Zeiten, andere Orte, andere Erfahrungen zur Sprache zu bringen, ohne Leserinnen und Leser je vergessen zu lassen, das genau diese Leistung eigentlich unmöglich ist.
Literatur bietet einen doppelten Blick: sie vergegenwärtigt und distanziert. Wenn wir den „Stimmen“ einiger der 33.000 jüdischen Menschen, die in der Schlucht von Babyn Jar bei Kyjiw erschossen wurden, in den Gedichten der ukrainischen Schriftstellerin Marianna Kijanowska lauschen – die letzten Gedanken, Erinnerungen, Gefühle, die diesen Menschen kurz vor ihrer Ermordung durch den Kopf gehen –, dann werden wir zu Zeuginnen und Zeugen ohne Zeug:inn:enschaft und wissen um genau diese paradoxe Situation ebenso wie die Literatur, die uns in diese Situation bringt, genau das weiß. Und eben so und nur so ist es möglich, in Anklang an einen Vers Paul Celans, für den Zeugen zu zeugen.
Es ist diese vermittelte Zeug:inn:enschaft, die Literatur mehr als jedes andere Medium ermöglicht – eine hoch politische Leistung, denn im Unterschied zu den Kühen auf der Weide, sind Menschen, wie Friedrich Nietzsche sagte, eben nicht „an den Pflock des Augenblicks“ gebunden. Gerade weil, wie der große polnische Publizist Adam Michnik meinte, es ebenso schwierig – und manchmal schwieriger – sein kann, die Vergangenheit als die Zukunft vorherzusagen, gilt es, die Kette der Zeugnisse nicht abbrechen zu lassen.
Dreimal vertrieben
Im 2006 erschienenen Roman „Peníze od Hitlera“, der zunächst unter dem Titel „Ein herrlicher Flecken Erde“ ins Deutsche übersetzt und jüngst unter dem (dem tschechischen Original näheren) Titel „Das Geld von Hitler“ neu publiziert wurde, erzählt die vielfach ausgezeichnete tschechische Schriftstellerin Radka Denemarková von der Jüdin Gita Lauschmannová, die dreimal aus Puklice, dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, vertrieben wird: Einmal von den Nazis, die sie als „Jüdin“ in ein Konzentrationslager stecken, ein zweites Mal nach dem Krieg von den Tschechen, die die Heimkehrerin als „Deutsche“ zur Kollaborateurin erklären und ein letztes Mal – nein, dieser Text kennt kein Happy End, kein „Und es war alles, alles gut“ –, als ihr 60 Jahre später, 2005, der Hass der Dorfbewohner:innen als „Großgrundbesitzerin“ entgegenschlägt. Gita bleibt eine Unbehauste, die Wunde schließt sich nicht.
Das Verschränken mehrerer Zeitebenen rund um das Thema „Schuld“ ist ein zentraler Aspekt im Werk der ebenso vielseitigen wie streitbaren Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin, Journalistin und Dramaturgin Radka Denemarková. Sie scheut dabei auch vor sehr drastischen, direkten Darstellungen von Gewalt, die sich den Lesenden geradezu physisch vermittelt, nicht zurück. In ihrer Rede anlässlich ihrer Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung im Jahr 2023 sagt sie: „ich bin nicht Arzt, ich bin Schmerz“. Eine Haltung, die sie in derselben Rede „authentische[n] unsentimentale[n] Humanismus“ nennt.
Den Schmerz fühlbar machen, um nicht in ihm zu verharren – so könnte man vielleicht das Anliegen der Literatur Denemarkovás beschreiben: „Schließlich gibt es wirklich nur eine einzige Grenze: die Grenze zwischen einem Menschen und dem anderen. Ich drücke uns allen die Daumen. Wir machen einfach weiter. Danke.“
Radka Denemarková wird aus ihrem Roman am 27. Mai um 18:30 Uhr auf Tschechisch lesen, Teilnehmerinnen des Seminars „Wunden, die nie heilen“, werden die deutsche Übersetzung vortragen. Der Abend im Astoriasaal (vhs) wird moderiert von Miriam Finkelstein.
Text: Albert Kümmel-Schnur, Bild: Karel Cudlín
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