Replik.A © Figurentheater Meinhardt & Krauss

Durch einen Spiegel in einem dunklen Bild

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Das Stuttgarter Figurentheater Meinhardt & Krauss hat zum 20-jährigen Bühnenjubiläum einen lebensgroßen Roboter gebaut. Unser Autor hat sich angesehen, wie er auf der Bühne agiert.

Das „Hohelied der Liebe“ ist wohl einer der berühmtesten Texte des christlichen Missionars Paulus. Eingesenkt in den Lobpreis der Fülle der Liebe und des Liebens findet man die erkenntniskritische Bemerkung, dass uns Menschen eine vollständige Einsicht der Wahrheit nicht möglich sei: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ (1. Kor 13,12) Ein ebenso attraktiv poetischer wie schwer verständlicher Satz. Wörterbücher schlagen vor, das griechische Wort esoptron mit „Spiegel“, „Schirm“, „Linse“, „Glas“ zu übersetzen. Es entspringt rabbinischer Tradition und bezieht sich auf in der Antike gebräuchliche Spiegel aus poliertem Stein.

Man kann sich das so schemenhafte wie buchstäblich dunkle Bild, das beim Hineinblicken entsteht, gut vorstellen. Die deutsche Übersetzung verweist darüber hinaus in eine Welt hinter dem Spiegel, die durch das Glas des Spiegels hindurch als ein dunkles Bild erkannt werden kann. Hier macht sich die Bedeutungsvariante „Linse“ oder „Glas“ als eines Mediums erkennenden, aber eben in medialer Eigenlogik auch verzerrenden Durchblicks bemerkbar. Ob und inwieweit das Bild tatsächlich eine Vorstellung des Abgebildeten vermittelt, bleibt offen.

Eine Welt hinter dem Spiegel

Replik.A © Figurentheater Meinhardt & Krauss
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4. November 2023, 20 Uhr. Die Bühne des Figurentheaterzentrums in Stuttgart wird durch einen dunklen Schirm aus semitransparentem Stoff in zwei Teile geteilt. Schemenhaft erkennen wir beim Hereinkommen eine Person in rotem Anzug und weißem Hemd, die ebenso stumm wie starr vor dem Schirm auf einem Hocker sitzt. Das Gesicht können wir nicht erkennen. Ich weiß ja aus Gesprächen mit Iris Meinhardt und Michael Krauss, dem Figurentheaterduo, das diesen Abend kreiert hat, dass sich auf der Bühne ein lebensgroßer Androide aus softwaregesteuerten Servomotoren, vielen mechanischen Teilen, bespannt mit einer dem Tänzer Ludger Lamers abgegossenen Silikonhaut, befinden muss. Das ist er. Oder? Oder nicht? Doch nicht?

Musik hebt an, der dunkle Schirm wird transparent. Dahinter das Doppel – oder ist es das Original? – der im Vordergrund sitzenden Person. Die beiden sehen gleich aus – in einem dunklen Bild: Glatze, rotes Steppwams, rote Hose, weit fallendes weißes Hemd. Sie sitzen auf kleinen runden Drehhockern mit runder hölzerner Sitzfläche. Synchron heben sie ihre linken Füße und beginnen mit geschlossenen Augen eine träumerisch-fließende Bewegungsfolge. Wir folgen der Folge, bewegen uns mit unseren Augen mit, vielleicht auch leicht im Oberkörper oder in den Händen, den Füßen schwingend. Und suchen in Adoption der Rolle des sich selbst beobachtenden und für diese Persönlichkeitsspaltung zunehmend blind werdenden Romanhelden Bob Arctor alias Fred aus Philip K. Dicks Drogenroman A Scanner Darkly nach Hinweisen, die uns bei der Unterscheidung von Mensch und Roboter helfen könnten: Dicks Romantitel macht aus dem „glass“ der King-James-Bible einen dunklen „scanner“, einen getrübten Beobachter, der erst in dem Moment erkennt, in dem alle Gewissheit garantierenden Unterscheidungen zusammenbrechen.

Diese Ruhe

Replik.A © Figurentheater Meinhardt & Krauss
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Also doch der – da hinten – nee, der ist irgendwie … Aber ist der da vorne nicht auch und noch viel mehr ‚irgendwie‘? Irgendwie wirkt der dahinten – der ist doch jünger, oder? – lebendiger? Die Haut ist auch heller. Aber diese Ruhe.

„Nach der Premiere“, so erzählt es mir Michael Krauss im Anschluss an die Vorstellung, „kam eine Frau zu mir, die völlig aufgelöst war, weil sie bis zum Schluss geglaubt hatte, der Roboter sei der Tänzer.“ Sie saß wohl so, dass der Roboter ihr direkt in die Augen schaute und sie sich gesehen fühlte – die Pupille ist ja der Ort, an dem wir uns im Auge des anderen in Form einer kleinen Puppe spiegeln. Sein am Ort des anderen – das Grundgesetz der Egogenese nach Jacques Lacan. Es muss eine sehr unangenehme Erkenntnis gewesen sein. Alfred Hitchcock, der selbst oft mit solchen Irreführungen des Zuschauenden gearbeitet hat, warnte davor. Man dürfe nicht im allerletzten Moment die die Illusion garantierende Grundvereinbarung zwischen Spielenden und Publikum aufheben, indem man dem Publikum vermittelt, dass die Welt, die man ihm vorgeführt hat und die es so bereitwillig geglaubt hat, buchstäblich andersherum, nach geradezu gegenteiligen Grundsätzen konstruiert ist. Alles, an was Du bis jetzt gerade geglaubt hast, ist falsch. Und doch, sagt Lacan, ist genau die Verkehrung die Grundlage unseres ganz alltäglichen Weltbezugs. Dort, wo Du glaubst zu sein, bist Du nicht.

Und genauso ergeht es dem Tänzer – ja, es ist doch der dahinter. Spätestens jetzt hilft mir das Vorwissen, dass der ‚echte‘ Roboter nicht laufen kann, weil das die Komplexität des Projektes exponentiell erhöht hätte. Er ist der erste, der die Augen öffnet, steht auf und versucht, dem Rätsel des androiden Doppelgängers auf die Schliche zu kommen. Dabei bemüht er sich immer wieder aktiv um den Kontakt zum Publikum, sucht einen Konsens herbeizuführen, indem er sich seine eben unheimlich oder ungeheuer und deshalb unsicher werdende Wahrnehmung rückversichern lässt durch die Gemeinschaft der Mit-Anwesenden, Mit-Beobachtenden. Und verweist so ex negativo auf jenen von Hitchcock so eindrücklich beschworenen Illusionsvertrag, von dem, selbst noch im Moment seines Bruchs, jede Bühnenshow lebt. Nicht die Akteure auf der Bühne stellen Glaubwürdigkeit her, sondern die Zuschauenden sind aufgefordert, dem nach Selbstvergewisserung suchenden Bühnenmenschen Halt zu vermitteln.

Dort, wo Du glaubst zu sein, bist Du nicht

Replik.A © Figurentheater Meinhardt & Krauss
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Und. Da. Jetzt.

Öffnet auch der Robot die Augen, sanft und tief. Er erscheint älter, weiser, gelassener als sein menschliches Pendant. Willkommen im unheimlichen Tal – in der Robotikliteratur mit dem englischen Fachterminus „uncanny valley“ belegt. Mit diesem Begriff benannte der japanische Robotiker Masahiro Mori die Beobachtung, dass die Glaubwürdigkeit menschenähnlicher Figuren nicht kontinuierlich mit steigender Ähnlichkeit zunimmt, sondern an einem bestimmten Punkt einen plötzlichen Einbruch erleidet. Die jäh nach unten abstürzende und danach wieder steil ansteigende Kurve, die das Verhältnis von Akzeptanz und Ähnlichkeit visualisiert, sieht wie ein Tal aus, ein tiefer Einschnitt in hügeliger Landschaft.

„Damit haben wir uns ausführlich beschäftigt“, sagt Michael Krauss und erläutert, wie er dem Roboter stimmige Bewegungsfolgen einprogrammierte, die dem uncanny-valley-Effekt ein Schnippchen schlagen sollen. Gerade bei den Hand- und Armbewegungen funktioniert das ausgezeichnet. Mit den Gesichtsbewegungen ist Krauss weniger zufrieden. „Die Silikonhaut ist schon eine starke Herausforderung. Augenlider mussten fest vernäht werden, die Lippen schmiegen sich nicht so an den Gaumen, wie es ideal wäre. Die Servos können eigentlich mehr.“ Es ist das erste Mal, dass Meinhardt & Krauss mit einem hautüberzogenen Androiden arbeiten. Frühere Inszenierungen wie Alice in Wonderland oder Eliza – uncanny love ließen die Mechanik unbedeckt. „Die bewegen sich natürlich viel freier.“ Und das uncanny-valley-Problem stellt sich nicht: der Zuschauende weiß immer, dass es sich um eine Puppe handelt. „Aber darum geht es ja gerade!“ Michael Krauss fährt sich über den blank rasierten Schädel, der unheimlich dem haarunbedeckten Kopf der Puppe gleicht.

Ein inniger Tanz

Replik.A © Figurentheater Meinhardt & Krauss
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Auf der Bühne finden der menschliche und der robotische Akteur zu einem innigen Tanz zusammen. Der Tänzer muss hoch präzise agieren, denn letztlich hängt es an ihm, ob man der Puppe die Verlebendigung glaubt. Schließlich geht es – das ist ja das Herz von Puppenspiel und Figurentheater – immer um die Übertragung von Handlungsmacht, agency. Um das Einhauchen einer Seele, einer anima. Und so entwickelt sich auch die Aufführung von Replik/a zu einer kleinen Geschichte von Animation und Illusion auf der Theaterbühne. Wie die Lider die Augen und das Silikon Drähte und Schaltelemente verdecken, so verdeckt als zentrales Medium der Ver- und Enthüllung der rote Vorhang das Bühnengeschehen. Er trennt als sichtbar überwindbare Grenze die Welt der Zuschauenden von der der Spielenden.

Die Geste des Ver- und Enthüllens ist zentral für die Herstellung von Geheimnis und Illusion. Das wussten Schamanen und Priester von Anbeginn der Menschheit: das Heilige wird heilig durch und nur durch seinen Entzug. Nichts als Medien der Verhüllung setzen die Grenze zwischen ‚heilig‘ und ‚profan‘. Das wissen auch Hütchenspieler aller Boulevards dieser Erde. Geschickt machen sie ihr Geschäft mit der Versicherung „Du siehst, Du siehst, Du siehst“, nur um nach monetärem Einsatz des vermeintlich Sehenden eindrucksvoll zu demonstrieren, dass man gar nichts gesehen hat. Und weil die Mitspielenden kaum glauben können, dass man gar nicht sehen kann, deshalb wandern doch mehr Scheine von Hand zu Hand und in die Taschen der Hütchenspieler, die allerdings sehr genau darauf achten müssen, nicht einer recht aggressiv sich artikulierenden Form des unheimlichen Tals zu begegnen. Besser zu wissen, wann Schluss ist.

Ludger Lamers zieht hinter dem Roboter den roten Vorhang zu. Und freilich ist das kein Vorhang. Und freilich zieht Ludger Lamers ihn nicht. Auf dem die Bühne teilenden Projektionsschirm erscheint der Film eines sich schließenden roten Vorhanges, dessen Bewegungen Lamers exakt mit den seinen so synchronisiert, dass die völlig überzeugende Illusion entsteht, Lamers habe soeben einen realen Vorhang geschlossen.

Doch dann bewegt sich’s hinter’m Vorhang. Der sichtbaren Unsichtbarkeit robotischer Mechanik stellt sich der höchst vertraute Eindruck einer hinter einer Stoffbahn agierenden unsichtbaren Sichtbarkeit gegenüber. Und doch ist dahinter – ganz offenbar – nichts. Spuk.

Sichtbare Unsichtbarkeit

Replik.A © Figurentheater Meinhardt & Krauss
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Nach dem Fallen des filmischen Vorhangs, der als höchst greifbare Stoffbahn schließlich real als Bühnenrequisit erscheint, ist dann doch einer da. Ludger Lamers als motion gecapturetes computergraphisches 3D-Modell. Und das schickt sich auch noch an, den realpräsenten Lamers mir nichts, dir nichts und hastunichtgesehen zu erschießen. Der Schuss trifft, der Tänzer fällt und stirbt einen höchst pathetischen Bühnentod, an den die Leute im Zuschauerraum – das kennen wir ja! – einfach so glauben, bis der Tote auf(er)steht, um gestenreich Applaus zu heischen für seine großartige schauspielerische Leistung. Das Publikum macht mit und wundert sich. Ist denn jetzt schon Schluss? Keine Auflösung, keine Erlösung, bloß eine schäbige Schaustellernummer?

Man merkt deutlich, wie der doppelte Bruch der Bühnenillusion – erst soll ich den gespielten Tod doch nur als Spiel bewundern und dadurch meine Aufmerksamkeit von der Semantik auf die Grammatik des Gezeigten verschieben, nur um dann diese Varieténummer auch noch mit jenem Applaus zu würdigen, der eigentlich doch der Vorstellung als ganzer, ihrem Sinn, nicht ihrem Handwerk, gelten sollte.

Uncanny Valley 2.0.

Schlingen und Pfeile des Schicksals

Replik.A © Figurentheater Meinhardt & Krauss
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Es geht weiter. Lamers ficht mit seinem computergraphischen Double ein vor allem in seiner perspektivischen Perfektion beeindruckendes Duell. „Das ist besonders schwierig“, sagt Krauss. „Der Tänzer sieht das projizierte Modell ja aus derselben Perspektive wie der Zuschauer. Er kann nicht auf das Modell direkt reagieren, sondern muss unabhängig von ihm eine Choreographie tanzen und am besten das Bild gar nicht beachten. Er muss darauf vertrauen, dass sich beide Bewegungen in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer zu einer stimmigen Szene zusammenfügen.“

Wieder stirbt der Tänzer. Ich überlege, ob es wohl möglich wäre, die gleichen ambivalenten Effekte zu erzeugen, ließe man die Puppe sterben. Aber der Puppe würde man den Tod ja nicht glauben, es sei denn, man glaubte an ihre Lebendigkeit.

Klassische, sprichwörtliche Shakespeare-Verse – das Leben eine Bühne, die Schlingen und Pfeile des Schicksals – aus Macbeth und Hamlet reflektieren nunmehr sprachlich, was bislang stummes Spiel und Tanz war. Lamers wird zur philosophischsten aller Figuren Shakespeares, zum Narren mit Schellenkappe und doppelgesichtigem Porträtkopf auf mitgetragenem Stöckchen. Kurz blitzt das traditionelle Handpuppentheater auf – lachen, weinen, lachen, weinen. Puppenkopf und Lamerskopf konkurrieren um erstarrte Mimiken. Und der still vorn an der Bühne sitzende Androide beginnt zu sprechen. Etwas blechern, mechanisch, aber – siehe oben – in dieser Form sehr theatralisch und bühnengerecht. Räsonnierend findet das Stück sein Ende. Es war eine Reise, die sich nicht von Ereignis zu Ereignis logisch sequentiell vorarbeitete, sondern eher eine Intensivierung, eine Verdichtung, eine Reise, wenn man so will, ins Innere, ins Selbst, das einem im Verlauf der Reise immer fragwürdiger geworden ist.

Das Publikum reagierte mit begeistertem, langem Applaus, in den sich immer wieder „Bravo“-Rufe mischten.

Sobald es wieder Aufführungstermine gibt, finden Sie diese auf der Website von Meinhardt & Krauss (www.meinhardt-krauss.com).

Replik.A © Figurentheater Meinhardt & Krauss
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Text: Albert Kümmel-Schnur, Bilder: Figurentheater Meinhardt & Krauss

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