Die tiefe 1 luise hipp, odo jergitsch, mark harvey mühlemann in die tiefe am theater konstanz © milena schilling

„Die Tiefe“ im Theater Konstanz

Von Renata von Maydell (Text), Milena Schilling (Fotos)
Die tiefe 1 luise hipp, odo jergitsch, mark harvey mühlemann in die tiefe am theater konstanz © milena schilling
Luise Hipp, Odo Jergitsch, Mark Harvey Mühlemann © Milena Schilling

Der Roman „Die Tiefe“ der 1981 geborenen polnischen Schriftstellerin Ishbel Szatrawska sorgte bei seinem Erscheinen 2023 für Gesprächsstoff und wurde unter die 10 besten polnischen Bücher des Jahres gewählt. Er spannt einen Bogen vom Zweiten Weltkrieg bis zu Konflikten der Gegenwart.

Beide können mit der Nadel umgehen. Max ist ein deutscher Chirurg, der in Königsberg die Verletzten zusammenflickt und die Stadt erst verlässt, als sie bereits in Schutt und Asche liegt. Die siebzehnjährige Janka ist aus Litauen geflohen und wird ihren Lebensunterhalt damit bestreiten, für die Menschen aus der Gegend Kleidung zu nähen. Die Wirren des Kriegs treiben beide unter ein Dach und zueinander. In das abgelegene Haus hat sich auch der Vater von Max, Horst, abgesetzt, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, der seine deutschnationale Gesinnung nicht verbirgt und Janka schikaniert.

75 Jahre später will Jankas Sohn Wolf, der seinen Vater nie kennenlernte, das Haus verkaufen. Seine Tochter Alicja ist dagegen. Sie hat die Sommer ihrer Kindheit bei der Großmutter verbracht und spürt, wie wichtig das Haus für die Frage nach ihrer Herkunft, für ihre Familiengeschichte ist.

Alicja ist Anthropologin und beschäftigt sich mit den Vergewaltigungen von Frauen im Zweiten Weltkrieg in diesem Gebiet, das früher Ostpreußen und jetzt Masuren heißt. Und es erscheint ihr besonders unpassend, das Haus gerade jetzt zu verlieren, im Jahr 2021, in dem ihr die Welt so wenig Halt bietet: durch Corona, die unerträgliche Situation von Geflüchteten, insbesondere an der belorussisch-polnischen Grenze, und die Ankündigung der Universität, ihre Forschungen seien in Polen unerwünscht, wenn sie sich nicht auf eine nationale (nationalistische) Perspektive einlasse.

Es gibt viel Dunkelheit, die Dunkelheit des Waldes und des tiefen Wassers, die Dunkelheit der Gewalt und der von Kämpfen zerfurchten Landschaft, in die sich nicht nur die Schrecken des zweiten Weltkriegs hereingeschrieben haben, auch Reminiszenzen an die Zeit des Deutschen Ordens mischen sich in die Wahrnehmung. Und es gibt die Dunkelheit, die durch das große Schweigen entsteht.

Alicja versucht, ihre Großmutter zum Reden zu bringen, aber diese wiegelte nur ab. „Es war Krieg. Was gibt es da zu erzählen?“, „Mancher hat überlebt, mancher nicht. Das ist die ganze Geschichte. Nichts Besonderes.“ Alicja wird von den Erfahrungen ihrer Großmutter verfolgt, von Erfahrungen, die ihr niemand erzählt, aber die sie doch in sich erlebt. Und es wird nicht nur gezeigt, dass es eine transgenerationale Weitergabe von Traumata gibt, sondern auch, wie diese funktioniert: Die Landschaft, das Haus und die Gegenstände in ihm erfuhren durch die Gräuel des Kriegs eine semantische Aufladung, die sie vermitteln, auch wenn die Geschehnisse verschwiegen werden. Vielleicht sind diese Aufladung und ihre Wirkung sogar dann besonders stark und beunruhigend, wenn die Sprache nicht gefunden wird, in der über das Traumatische hätte gesprochen werden können.

Die tiefe 2 luise hipp, anna eger in die tiefe am theater konstanz © milena schilling
Luise Hipp, Anna Eger © Milena Schilling

Der Roman von Ishbel Szatrawska erschien vor zwei Jahren in Polen und sorgte für viel Gesprächsstoff. Die deutsche Übersetzung von Andreas Volk kam in diesem Herbst heraus. Es ist ein großer Familien- oder auch Anti-Familienroman, packend geschrieben und sensibel und gut lesbar übersetzt. Durch die unterschiedlichen Perspektiven von 1945 und 2021, aber auch durch die Erzählstränge Janka-Wolf-Alicja einerseits und Max-Horst andererseits wird ein Panorama aufgespannt, in dem nationale Sichtweisen obsolet werden.

Für die Theaterfassung von Alek Niemiro, die in Konstanz ihre Uraufführung erlebte, wurde die Handlung gekürzt und verdichtet, auf das Haus und seine Umgebung konzentriert. Das Ensemble hat sich intensiv auf die Fragestellungen des Texts eingelassen und schafft es, das Bedrückende der Kriegs- und Gewalterfahrungen zu vermitteln, aber auch die Hoffnung auf das Menschliche und die Möglichkeit des Menschen, Perspektiven zu erweitern.

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Das Stück wird noch am 17.10., 22.10., 25.10., 11.11. und 22.11.25, jeweils um 20 Uhr in der Werkstattbühne gespielt.
Am 19.10.25 um 11 Uhr findet im Foyer des Stadttheaters der pro.log zum Stück statt.
Am 12.11.25 kommt Ishbel Szatrawska zu einer Lesung und Gespräch in die Werkstatt.
Für mehr Informationen siehe hier die Seite des Theaters.

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