Carola Rackete als Kapitänin an Bord von Seawatch3_(c)Wagner / seawatch

„Der Umgang mit S 21 ist skandalös“

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Carola Rackete als Kapitänin an Bord von Seawatch3_(c)Wagner / seawatch
Carola Rackete als Kapitänin an Bord von Sea-Watch 3

Am heutigen Montag spricht Carola Rackete, Spitzenkandidatin der Linken bei der Europawahl, auf der 700. Montagsdemo gegen S 21 in Stuttgart. Was die ehemalige Kapitänin und Klimaaktivistin vom künftigen Stuttgarter Untergrundbahnhof, vom Streik der Lokführer:innen und von den Bauernprotesten hält, erzählt sie in einem Interview mit der Wochenzeitung kontext.

kontext: Frau Rackete, bei der Jubiläumsdemo am 18. März treten Sie gemeinsam auf mit Jürgen Resch von der Deutschen Umwelthilfe und dem Regisseur Volker Lösch. Was haben Sie mit Stuttgart 21 am Hut?

Carola Rackete: Ich sehe die bewusste Täuschung der Bevölkerung, das Paradebeispiel für die Verschwendung von Milliarden öffentlicher Gelder, die Weigerung, darüber Rechenschaft abzulegen, sprich Transparenz und Aufklärung zu schaffen. Staat und Behörden sind es den Bürgerinnen und Bürger schuldig, vernünftig mit ihrem Geld zu wirtschaften. Wie das bei Stuttgart 21 gehandhabt wurde, ist skandalös.

Ihr Spezialgebiet bleibt aber die Ökologie.

Carola Rackete: Es stellt sich immer die Frage, wie wir es schaffen, eine Verkehrsstruktur in Stadt und Land hinzukriegen, mit der die CO2-Emissionen drastisch reduziert werden können. Dafür brauchen wir natürlich die Bahn, und dafür brauchen wir weiterhin den oberirdischen Bahnhof in Stuttgart, damit genügend Gleise zur Verfügung stehen, um möglichst viel Transport auf die Schiene zu bekommen.

Den Protest gegen das Jahrhundertprojekt haben Sie aus der Ferne wahrgenommen.

Carola Rackete: Ich komme aus Niedersachsen, vom Land. Aber die Berichterstattung darüber ist ja nicht nur in der ganzen Bundesrepublik gelaufen, auch über Österreich und die Schweiz hinaus. Mir sind die Proteste, der zivile Ungehorsam, die Sitzblockaden von den unterschiedlichsten Menschen noch gut in Erinnerung. Junge, Alte, Konservative, Linke, alle waren auf der Straße.

Für viele war der „Schwarze Donnerstag“ im September 2010 der Auslöser. Damals spritzte die Polizei Schüler:innen mit Wasserwerfern von den Bäumen.

Carola Rackete: Mit diesen Bildern verbinde ich Stuttgart 21. Die Polizeigewalt war so eklatant, aber auch so gut dokumentiert, dass das bei mir immer damit verbunden sein wird. Und nicht nur bei mir. Viele Menschen haben sich deswegen mit dem Protest solidarisiert, weil die Bilder gezeigt haben, wie brutal die Polizei gegen friedliche Demonstranten vorgegangen ist.

Der „Spiegel“ schrieb damals von „Bürgerkrieg im Schlossgarten“.

Carola Rackete: Es ist kein Einzelfall, dass die Polizei sehr hart gegen Demonstranten vorgeht. Das haben wir ganz krass im Hambacher Forst und beim G-20-Gipfel in Hamburg gesehen. Verglichen mit der Vielzahl der Fälle geschieht es noch viel zu selten, dass Übergriffe der Polizei sauber verfolgt und aufgeklärt werden. In anderen europäischen Ländern gibt es dafür unabhängige Beschwerde- und Ermittlungsbehörden. Hier hinken wir in Deutschland dem europäischen Standard mal wieder hinterher.

Kommen wir zum Bahnstreik. GDL-Chef Weselsky ist für die einen ein Held, der für gerechte Löhne kämpft, für die anderen der Klimakiller, der die Leute zum Umstieg aufs Auto zwingt. Was ist er für Sie?

Carola Rackete: Das größere Problem scheinen mir die diversen CSU-Politiker zu sein, die sich in den vergangenen Jahrzehnten im Verkehrsministerium die Klinke in die Hand gegeben und Milliarden in den Autoverkehr geschoben haben.

Held oder Klimakiller?

Carola Rackete: Ich finde es total richtig, dass die GdL streikt, weil wir auf die Menschen schauen müssen. Schauen Sie in die Krankenhäuser. Man sagt, wenn die Pfleger streiken, ach, ihr lasst jetzt die Kranken im Stich. Aber das Anliegen ist doch, dass die Arbeitsbedingungen besser werden, dass überhaupt in Zukunft noch jemand diesen Job macht, der so wichtig ist. Das ist bei der Bahn auch so. Wenn wir in Zukunft mehr Bahn und Bus nutzen wollen, dann muss da auch jemand arbeiten wollen. Wie oft hören wir die Durchsage: Wir können nicht losfahren, unser neuer Lokführer sitzt noch in einem verspäteten Zug. Oder das Bordbistro ist geschlossen, weil alle Mitarbeiter krank sind und kein Ersatz da ist.

Claus Weselsky hat also recht, wenn er die 35-Stundenwoche will?

Carola Rackete: Ja. Das müsste in Deutschland noch viel öfter gefordert werden, weil wir generell auf eine Viertagewoche kommen müssen, sowohl aus ökologischen als auch aus sozialen und ökonomischen Gründen. Das fordern nicht nur die GdL, sondern auch die IG Metall und die Linke. Bei VW haben etwa viele Beschäftige eine 35-Stundenwoche schon, warum soll das bei der Bahn nicht gehen? Dass Beschäftigte bei der Bahn das auch wollen, kann ich sehr gut verstehen.

Der Wahlkampf hat für Sie schon begonnen.

Carola Rackete: Offiziell nicht, aber man kann nicht früh genug erklären, wie wichtig der EU-Wahlkampf ist. 80 Prozent der Gesetze, die auch für Stuttgart gelten, werden in Brüssel gemacht. Brüssel ist nach Washington die zweitgrößte Lobbyhauptstadt. Die Konzerne würden ihre Lobbyisten dort nicht hinschicken, wenn es sich nicht für sie lohnen würde. Das bedeutet: Wenn rechte und konservative Parteien im Juni eine Mehrheit im Europaparlament bekommen, wird in den nächsten fünf Jahren kein einziges progressives Gesetz mehr verabschiedet werden.

Sie haben Nautik studiert, sind Klimaaktivistin und haben mit Ihrem Einsatz auf der Sea-Watch 3 weltweite Berühmtheit erlangt. Damit landet man ja nicht unbedingt bei der Linken, eher bei den Grünen.

Carola Rackete: Ich bin Ökologin, ich glaube nicht an das Märchen vom grünen Wachstum. Das unterscheidet die Linke von den Grünen. Die Linke ist die einzige Partei, die sagt, dass es innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems keine soziale und ökologische Zukunft gibt. In diesem System geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Und es ist wissenschaftlich erwiesen, dass wir in einem wachstumsbasierten System die Grenzen der Ökosysteme, der Klimasysteme sprengen.

Sie betonen, kein „verwöhntes Mittelstandskind“ zu sein, und kriegen aus der Partei zu hören, Sie seien ein „Wählerschreck““oder „Geschenk an die AfD“ oder ein „Woker Sargnagel“.

Carola Rackete: Das interessiert mich nicht, das lasse ich nicht an mich ran, warum auch? Es ist ja auch klar, aus welcher Ecke das kam. Diese Menschen sind inzwischen bei Sahra Wagenknecht. Viel interessanter ist, was bei uns passiert. Seit sie weg ist, sind mehr als 2.000 Leute eingetreten, und die Positionen sind klar: zu Migration, zum Klimaschutz, für prekär beschäftigte Menschen, für Verteilungskämpfe von unten gegen oben.

Sind Sie so etwas wie die Anti-Sahra? „Rackete gegen Wagenknecht“ war nicht selten in Überschriften zu finden.

Carola Rackete: Es bringt nichts, ein paar neue Gesichter mitzubringen, es muss sich auch grundsätzlich etwas ändern. Ich fände es spannend, wenn die Linke eine Mandatszeitbegrenzung einführen würde. Viele Menschen haben das Gefühl, Politiker:innen würden oft nur an ihre eigene Karriere denken. Ich fände es auch gut, wenn es Soli-Fonds wie bei der Kommunistischen Partei Österreichs gäbe, wo die Leute aus ihrem Mandatsgehalt Geld abgeben. Es geht eben auch um das Thema Glaubwürdigkeit, bei dem sich alle Parteien an die Nase fassen und sich überlegen müssen, was da falsch läuft, warum die Menschen so verdrossen sind.

Sauer sind auch die Bauern. Sie lassen die Ampel am Galgen baumeln oder schwingen die Kettensägen wie am grünen Aschermittwoch in Biberach.

Carola Rackete: Man muss sehen, dass in den letzten 30 Jahren die Politik darauf ausgerichtet war, eine industrielle Landwirtschaft zu fördern. Das hat dazu geführt, dass die Großen große Subventionen kriegen, die Kleinen kleine. Gleichzeitig haben vier Lebensmittelkonzerne 85 Prozent des Marktanteils im Handel und können dadurch die Bauern zwingen, Lebensmittel unter dem Erzeugerpreis abzugeben. Mein Eindruck ist, dass die meisten Bauern nicht von den Subventionen, sondern von ihren Produkten leben wollen. Die Linke fordert deshalb, die EU-Agrarsubventionen in der Höhe zu erhalten, aber für einen sozial-ökologischen Umbau der Landwirtschaft zu nutzen. Also verstärkt jene Höfe zu unterstützen, die aus der Tierhaltung aussteigen und eine klimafreundliche Produktion anstreben.

Verdrossen sind auch viele Menschen in Brandenburg. Elon Musk will mehr Wasser für seine Tesla-Giga-Factory.

Carola Rackete: Ja. Ich kenne die Leute aus der Bürgerinitiative dort, und ich finde, es gibt extrem gute Gründe, den Ausbau der Giga-Factory abzulehnen. Wir können nicht ein Trinkwasserschutzgebiet einfach beschneiden, weil ein Milliardär wie Elon Musk daherkommt und seine Profite steigern will. Es geht um ein Wasserschutzgebiet, um die Abholzung des Forstes und um den undemokratischen Umgang mit der Entscheidung der Anwohner.

Es gab einen Brandanschlag. Gewalt gegen Sachen?

Carola Rackete: Es gibt keine Gewalt gegen Sachen. Es gibt nur Gewalt gegen Menschen.

Ein legitimes Mittel also?

Carola Rackete: Ich hätte es nicht gemacht. Aber man muss die Kirche auch im Dorf lassen. Es geht hier um Sachbeschädigung und nicht um Gewalt.

Letzte Frage: Hält man die Weltlage nur aus, wenn man so unermüdlich unterwegs ist wie Sie?

Carola Rackete: Als Person mit deutschem Pass, weißer Hautfarbe, kostenlosem Zugang zur Universität habe ich viele Privilegien, die andere nicht haben. Und wenn man sich anschaut, wie schnell die Klimakrise eskaliert – zum ersten Mal ein Jahr, das im Durchschnitt über 1,5 Grad lag, wahnsinnige Naturkatastrophen, letztes Jahr der Staudammbruch in Libyen mit 10.000 Toten, das Ahrtal, die Fluten in Pakistan im Jahr davor –, dann ist das erst der Anfang. Das sind Gründe, etwas zu tun. Das treibt mich um. Es gibt in diesem Sinne auch keine Wahl, denn das hieße ja, dass wir die Konsequenzen des Nichtstuns tragen müssen. Und das geht nicht.

Interview: Susanne Stiefel. Es erschien zuerst in der 676. Ausgabe der Stuttgarter Wochenzeitung konkret / Foto oben: Paul Lovis Wagner/sea-watch.org, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=80185420; Foto unten: Die Linke – CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=141043912

Zur Person: Carola Rackete

Handeln statt Hoffen“ steht auf dem Cover des Buchs, das sie 2019 mit der Autorin Anne Weis veröffentlicht hat. Es ist nicht nur ein Aufruf an die Letzte Generation, sondern auch persönliches Programm. Aufgewachsen ist Rackete auf dem Land in Niedersachsen. Sie studierte Nautik und Naturschutzmanagement und arbeitete auf den Forschungsschiffen Polarstern und Meteor. Wer so oft im Polareis unterwegs war, weiß, was die Klimakatastrophe anrichtet. 

Bekannt wurde sie vor fünf Jahren als Kapitänin des Schiffs „Sea-Watch 3“, das  Geflüchtete vorm Ertrinken rettete; dafür wurde sie von Italiens damaligem Innenminister Matteo Salvini (Lega) vor Gericht gezerrt. Die 35-Jährige unterstützt Extinction Rebellion und ist Gründungsmitglied der Progressiven Internationalen. Im September 2023 hat die Partei Die Linke die parteilose Aktivistin auf Platz 2 ihrer Liste zur EU-Parlamentswahl im Juni 2024 gewählt. (sus)

Unterstützt die Seenotrettung!

Die italienische Regierung hat aktuell alle Schiffe, die vom Bündnis United4Rescue unterstützt werden, an die Kette gelegt! Neben der „Humanity 1“ und der „Sea-Watch5“ ist es auch das Konstanzer Patenschiff, die „Sea-Eye4“.

Für sechzig Tage soll die Crew der „Sea-Eye4“ daran gehindert werden, Menschen aus Seenot zu retten. Die Eskalation von Frau Meloni und ihrer Regierung wird Menschenleben kosten. Der Vorwurf an die Crew der „Sea-Eye4“: Letzten Donnerstag wurden bei einer Rettungsaktion in internationalen Gewässern die Geretteten nicht an die sog. libysche Küstenwache übergeben, die u.a. die Crew mit Waffen bedroht hatte. Wie absurd! Eine Rückführung in ein Bürgerkriegsland und womöglich in libysche Folterkeller, wäre auch nach italienischer Rechtssprechung illegal.

 

Aus der gemeinsamen Presseerklärung: Zusammen mit der 20-tägigen Festsetzung der „Sea-Watch 5“ und „Humanity 1“, werden die Rettungsschiffe für insgesamt 100 Tage aktiv aus dem Mittelmeer ferngehalten. Seit Januar 2023 waren insgesamt neun Schiffe der zivilen Flotte in 19 Festsetzungen durch die italienischen Behörden blockiert.

Jede der drei aktuellen Festsetzungen basiert auf falschen Anschuldigungen und rechtswidrigen Anforderungen. Die italienischen Behörden verweisen fälschlicherweise auf ein unkooperatives Verhalten der Schiffe gegenüber der sogenannten libyschen Küstenwache. Allen Festsetzungen vorangegangen waren Versuche der sogenannten libyschen Küstenwache, Menschen in Seenot völkerrechtswidrig nach Libyen zurückzuzwingen. In zwei Fällen – „Humanity 1“ und „Sea-Eye 4“ – wurden die Schiffscrews mit Waffen bedroht. An Bord der „Sea-Watch 5“ starb ein 17-jähriger Junge, nachdem alle Küstenstaaten eine medizinische Evakuierung verweigerten. (…)

Eine Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache bei illegalen Pullbacks nach Libyen verstößt gegen internationale See- und Menschenrechte. Libyen ist kein sicherer Ort für aus Seenot gerettete Menschen, wie kürzlich vom obersten italienischen Gericht abermals bestätigt wurde. Gleichzeitig machen sich die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten durch ihre Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwache zu Komplizen schwerster Menschenrechtsverletzungen auf See und in libyschen Haftzentren.

Daher ruft die Konstanzer Gruppe von Sea-Eye auf:  Unterstützt das Konstanzer Patenschiff mit einer Spende! Sea-Eye e. V., IBAN: DE06 4306 0967 1311 9422 00, BIC: GENODEM1GLS

1 Kommentar

  1. Thomas Leba

    // am:

    War doch vor ein paar Jahren eine Abstimmung in Baden Württemberg. Ist damals zugestimmt worden. Ich freue mich auf den „Schönsten Bahnhof in Deutschland“ :-).

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