Vorstellung wärmenetz stadt konstanz 2024 03 19 © pit wuhrer

Neubau der KVA Weinfelden: Müll- oder Geldverbrennung?

Von Ralph-Raymond Braun
Vorstellung wärmenetz stadt konstanz 2024 03 19 © pit wuhrer
Wärmenetzprojekt ade? Die erhoffte Abwärme aus dem Thurgau steht auf der Kippe

Der geplante Neubau der Müllverbrennungsanlage Weinfelden wird zunehmend infrage gestellt. Auf der Kippe steht damit auch, ob der Restmüll aus dem Landkreis Konstanz weiter in der Schweiz entsorgt werden darf. Und ob das linksrheinische Konstanz dereinst Fernwärme aus Weinfelden beziehen kann. Da haben offenbar ein paar konservative Politiker gepennt.

Die vom Frauenfelder Architekturbüro Antoniol + Huber konzipierte Kehricht-Verbrennungsanlage (KVA) Weinfelden gilt in Fachkreisen als ein denkmalwürdiger Meilenstein der Industriearchitektur. Betrieben wird das 1996 eröffnete Werk vom Gemeindezweckverband KVA Thurgau, dem außer 66 Thurgauer Gemeinden auch vier Kommunen aus dem Kanton Schaffhausen angehören.

Dieser Verband plant einen Neubau, Fertigstellung 2031, wonach dann die alte Anlage abgerissen werden und verschwinden soll. Kosten für den Neubau: mindestens 500 Millionen, wenn nicht 800 Millionen Franken. Dagegen formiert sich nun Widerstand. 

Vetternwirtschaft und Intransparenz?

Die Zürcher Finanzwebsite Inside Paradeplatz wirft den KVA-Verantwortlichen mangelnde Transparenz und Vetternwirtschaft vor. Der seit 2024 amtierende CEO Dominik Linder versorge ohne Ausschreibungen seine Spezis mit Anstellungen bei der KVA.

Und nicht nur das. In der Jury des Architektenwettbewerbs für den Neubau der KVA saß auch das Beratungs- und Planungsunternehmen TBF+Partner, das dann prompt den Zuschlag als Generalplaner bekam. Worauf Reto Stäheli, Präsident des KVA-Verwaltungsrats entgegnet: Stimmt, aber TBF+Partner hatten nur eine von zwölf Stimmen in der Jury.

Keiner will haften

Den Vorwurf der Vetternwirtschaft und Intransparenz hätte die KVA wohl noch aussitzen können. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Banken verweigern der KVA die für den Neubau nötigen Baukredite, solange nicht die Verbandsgemeinden selbst die finanzielle Haftung mit übernehmen. Einen entsprechenden Passus hatte der Zweckverband 2015 aus seiner Satzung gestrichen.

Dazu meint der Kanton Thurgau, dass sich trotz Satzungsänderung die Verbandsgemeinden nicht aus der Haftung schleichen können: Die Verbandsgemeinden „haften bereits heute unbegrenzt und solidarisch“. Als Eigentümerinnen des Verbands seien die Kommunen auch für die Finanzierung verantwortlich. Abschließend weist die Kantonsregierung jede Mitverantwortung für ein mögliches Scheitern des Neubaus von sich: „Es handelt sich um ein Projekt des Gemeindezweckverbands. Der Regierungsrat respektiert die Gemeindeautonomie.“

Aufgrund der dünnen Eigenkapitaldecke des KVA-Verbands fordern potenzielle Geldgeber über die Haftung der Verbandsgemeinden hinaus zudem, der Verband möge künftig auf die Ertragsauschüttungen an die Verbandsgemeinden verzichten. In den letzten Jahren bekamen diese zwölf Franken pro Einwohner:in.

Ausbleibende Dividende und drohender Haftungsdurchgriff kommen bei den Verbandsgemeinden nicht gut an. Hatten sie bisher jeden Schritt des Projekts bis hin zum bereits eingereichten Bauantrag brav abgenickt, formiert sich nun Widerstand, angeführt vom Bussnanger Gemeindepräsidenten Ruedi Zbinden. Sein Verdacht: Die Anlage ist überdimensioniert und zu teuer. „Wir verlangen, dass eine unabhängige Drittmeinung zum Projekt eingeholt wird.“ Müssten die Gemeinden in die Haftung einsteigen, wäre in allen Gemeinden Volksabstimmungen über die notwendigen Kredite nötig.

Abfall-Gigantismus im Apfelkanton

Kritiker:innen bezweifeln, dass es überhaupt einen Neubau braucht. Im Fokus stehen hier die Prognosen über die künftigen Abfallmengen. KVA-Verwaltungsratspräsident Reto Stäheli argumentiert im Kreuzlinger Anzeiger, aufgrund des Wachstums von Wirtschaft und Bevölkerung im Thurgau würden die Abfallmengen bis 2050 auf das 1,5fache des aktuellen Volumens wachsen. In ihrer Antwort auf eine Anfrage des Frauenfelder Kantonsrats Simon Vogel (Grüne) zum Thema „Kapazitätsplanung KVA Thurgau“ geht die Kantonsregierung gar davon aus, das Abfallaufkommen aus dem Bereich des Zweckverbands werde sich bis 2050 nahezu verdoppeln. Und wenn es anders kommt? Macht nichts, weil die KVA, so Stäheli und der Regierungsrat unisono, „auch unterhalb der nominellen Anlagenkapazität problemlos effizient betrieben werden kann.“

Peter Dransfeld, Kantonsrat der Grünen und Vorstandsmitglied der Thurgauer Sektion des Schweizerischer Ingenieur- und Architektenvereins, hält dagegen: „Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung geht klar in Richtung Abfallvermeidung und Ressourcenschonung.“ Er erwartet, dass das Abfallaufkommen pro Kopf künftig abnimmt.

Mengenprognose hin oder her: Warum wird statt des Neubaus nicht einfach nur die alte Anlage mit ihren zwei Brennöfen erneuert und erweitert? Andere Verbrennungsanlagen, zum Beispiel jene in Buchs (AG), haben dies in der Vergangenheit problemlos gemeistert, und die bestehende KVA Weinfelden wurde seinerzeit so gebaut, dass man sie erweitern könnte. Reto Stäheli argumentiert, Umbauten bei laufendem Betrieb seien unwirtschaftlich, kompliziert und zeitraubend, weshalb man diese Option von vornherein ausgeschlossen habe. 

Der Kreuzlinger Architekt Fabio Frison bemängelt, dass der KVA-Verwaltungsrat, indem er dem Architekturwettbewerb ausschließlich einen Neubau als Aufgabe vorgab, den Teams die Möglichkeit nahm, alternative Konzepte für Sanierung und Erweiterung im Bestand zu erarbeiten. „Die KVA ließe sich grundsätzlich anpassen und modernisieren. Ein Abriss ist kein technisches Muss, sondern eine strategische Entscheidung.“

Dunkle Wolken aus Brüssel

Ungemach droht dem KVA-Neubau nun auch aus Brüssel. Wie das, wo die Schweiz doch kein Mitglied der Europäischen Union ist? Ein gutes Fünftel des in Weinfelden verbrannten Abfalls, rund 35.000 Tonnen/Jahr, stammt aus dem Landkreis Konstanz, der seinen Restmüll per Bahn zum Verbrennen nach Weinfelden bringen lässt. Der entsprechende Vertrag läuft bis in die 2040er Jahre. Daneben entsorgt die KVA Weinfelden ohne langfristige Vertragsbindung weitere 20.000 Tonnen Müll aus der EU, sei es aus Deutschland, Österreich oder gar Italien. 

Auch andere grenznahe Schweizer Müllverbrennungsanlagen verbrennen deutschen Kehricht: Der Landkreis Lörrach exportiert nach Basel, Waldshut nach Buchs (Aargau). Gemäß der Abfallstatistik des Kantons Sankt Gallen importieren die drei im Kanton angesiedelten KVAs 22 Prozent ihrer Abfallmengen aus der EU. Die Anlage in Buchs (SG), auch hier ist ein Neubau geplant, ist für die Entsorgung des Mülls aus Vorarlberg von zentraler Bedeutung.

Von den Betroffenen in der Region offenbar unbemerkt hat die Europäische Kommission im April 2024 die Verordnung 2024/1157 „Über die Verbringung von Abfällen“ verabschiedet. Die EU will damit die ungeregelte Müllentsorgung in Drittstaaten unterbinden. „Ein gut funktionierender Unionsmarkt für Verbringungen von Abfällen sollte den Grundsätzen der Nähe, der Entsorgungsautarkie und des Einsatzes der besten verfügbaren Techniken der Abfallbewirtschaftung als Leitprinzipien Vorrang einräumen.“

Eine EU-Verordnung entspricht einem Gesetz, dass in allen EU-Staaten unmittelbar gilt und gegenüber nationalen Regelungen Vorrang hat. Wie es der Gesetzgebungsprozess vorsieht, wurde der Entwurf vorher unter anderem dem deutschen Bundestag und dem EU-Ausschuss der Regionen zur Stellungnahme zugeleitet, bevor das EU-Parlament und der Ministerrat darüber abstimmten.

Die Vertreter Alemanniens haben’s verschlafen 

In Artikel 44 Abs. 2f bestimmt die Verordnung lapidar: „Die Ausfuhr von Abfällen gemäß Artikel 4 Absatz 3 [nämlich gemischte Siedlungsabfälle, die aus privaten Haushalten eingesammelt wurden] ist verboten.“ Die Vorschrift greift nach einer Übergangsfrist ab Mai 2029 und verbietet ab dann den Export von Restmüll in die Schweiz. Obwohl der ja dem „Grundsatz der Nähe sowie der Materialeffizienz“ folgt „und der Notwendigkeit [dient], den ökologischen Fußabdruck von Abfällen zu verringern“, wie es im Begleittext der EU-Verordnung als Ziel ausgegeben wird.

Andere Länder haben ihre spezifischen regionalen Interessen rechtzeitig angemeldet. So enthält die Verordnung etwa eine Ausnahmebestimmung für die zu Dänemark, aber nicht zur EU gehörenden Färöer-Inseln. Die Vertreter Alemanniens in Brüssel indes haben die Sache schlicht verschlafen. Zu nennen sind hier besonders: Andreas Schwab (CDU), seit 2004 Europaabgeordneter für den deutschen Südwesten; Claudia Gamon (Neos) aus Feldkirch, bis 2024 im EU-Parlament; Markus Wallner (ÖVP), langjähriger Landeshauptmann von Vorarlberg und Chef der österreichischen Fraktion in Brüsseler Ausschuss der Regionen.

Nachdem das Kind schon im Brunnen war, hat der Abgeordnete Schwab im September diesen Jahres endlich eine Anfrage an die Kommission gerichtet. Darauf verweisend, die Verordnung führe „zu Überregulierung, die weder dem Klima- noch dem Umweltschutz dient, sondern zu mehr Massenverkehr, höheren Emissionen und Mehrkosten“, fragt Schwab: „Ist die Kommission bereit, eine Ausnahme für die Schweiz vorzusehen, damit bestehende grenznahe Kooperationen fortgeführt werden können?“ Die Antwort steht noch aus.

Schwab habe sich darüber hinaus mit einem Schreiben direkt an Ursula von der Leyen gewandt und darin die Kommission aufgefordert, eine Lösung für die grenznahe Abfallkooperation zu finden. „Aus Sicht von Herrn Dr. Schwab kann eine solche Klarstellung im Rahmen des neuen Circular Economy Act erfolgen“, schreibt uns sein Brüsseler Büro und verweist damit auf ein für 2026 geplantes EU-Gesetz zur Kreislaufwirtschaft.

Die Folgen für Konstanz

Ein Ende des Hausmüllexports in die Schweiz würde nicht nur die dortigen grenznahen KVAs treffen. Der Landkreis Konstanz müsste seinen Restmüll dann zu den nächstgelegenen deutschen Anlagen in Ulm, Böblingen oder im Breisgau bringen. Ungewiss wäre auch die geplante Versorgung des linksrheinischen Konstanz mit Fernwärme aus der KVA Weinfelden.

seemoz hat das Landratsamt gefragt, ob es denn einen Plan B für den Fall gibt, dass der Restmüllexport in die Schweiz nicht mehr möglich ist. Eine Antwort haben wir nicht bekommen.

Fotos: Infoveranstaltung der Stadt Konstanz zur Fernwärme am 19. März 2024 (© Pit Wuhrer) / Heutige KVA Thurgau (Screenshot von der KVA-Website) / Die geplante KVA bei Weinfelden (aus der Medienmitteilung des KVA-Verbands) / Müllautos der EBK Konstanz (© Pit Wuhrer)

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