
Die Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ und der Zwangssterilisationen fand – wie auch die anderer nationalsozialistischer Verbrechen – in der Bundesrepublik nur sehr zögerlich statt. Jetzt soll in Konstanz an fünf Standorten endlich an Opfer und Täter erinnert werden.
Selbst in der – an Brutalitäten ja nicht gerade armen – Menschheitsgeschichte sind manche nationalsozialistischen Verbrechen einmalig. Sie blieben trotzdem zumeist ungesühnt, und viele Verbrecher und ihre Helfershelfer konnten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Karrieren mehr oder weniger nahtlos fortsetzen, so auch in Konstanz. Dazu zählten nicht zuletzt Ärzte und Juristen, die etwa aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ tatkräftig zum Beispiel an Zwangssterilisationen mitwirkten.
Gedenken nach 80 Jahren
Die Initiative Stolpersteine bewarb sich im letzten Jahr im Rahmen des Bürgerbudgets mit einem Projekt zur Errichtung von fünf Gedenkstelen im Stadtgebiet und erhielt vom Bürger:innenrat den Zuschlag. Wenn der Gemeinderat am Donnerstag zustimmt, woran nicht zu zweifeln ist, werden diese Erinnerungsorte demnächst an markanten Punkten mit einem historischen Bezug zu den Verbrechen eingerichtet.
Folgende Standorte sollen zu Erinnerungsorten werden:
– Das ehemalige Gesundheitsamt, Marktstätte 22
– Das ehemalige Erbgesundheitsgericht, Obere Laube 12
– Die ehemalige Frauenklinik, Goebelbeckerstraße/Friedrichstraße
– Das Klinikum Konstanz
– Das Gemeinschaftsgrab auf dem Hauptfriedhof
Die Gedenkstelen sind mit Texten, Bildern und einem QR-Code ausgestattet. Mit dessen Hilfe können dann vertiefende Informationen zur Ideologie des so genannten „unwerten Lebens“ im nationalsozialistischen Gewaltregime abgerufen werden. Zugrunde liegen den Informationen intensive Recherchen der Stolperstein-Initiative in zahlreichen Archiven in ganz Deutschland, vom Stadtarchiv Konstanz über die Gedenkstätte Grafeneck bis hin zum Bundesarchiv Berlin.
Es gibt allerdings Bedenken der Verwaltung hinsichtlich des Standortes an der Marktstätte 22, weil dort schon Laternenpfähle, Stromkästen, „gewerbliche Sondernutzungsflächen“ (Gastronomie) und anderes viel Platz beanspruchen (von den Ständen des Weihnachtsmarktes ganz zu schweigen). Außerdem herrscht dort ein mächtiger Einkaufsverkehr, da würde eine Stele aus Verwaltungssicht nur im Wege stehen. Deshalb plädiert sie auch „aus gestalterischer Sicht“ dafür, hier statt einer Stele eine Wandtafel anzubringen, die auf die Geschichte und ehemalige Funktion des Gebäudes hinweist.
Sonderfall Marktstätte?
Allerdings kennt man das aus eigener Erfahrung: Wandtafeln, gerade zwischen mit Werbung und Waren zugestellten Schaufenstern, muss man schon ganz bewusst suchen, durch reinen Zufall stößt man nicht darauf und kommt auch nicht auf die Idee, in all dem Trubel einfach mal so vor der Tafel stehenzubleiben und, den Kopf zurückgeworfen wie ein Pianist, einen komplexeren Text zu lesen. Also wäre doch gerade an dieser viel frequentierten Stelle mit einer besonders großen Aufmerksamkeit für eine Stele zu rechnen, man hätte also quasi einen Stolperstein, über den man tatsächlich unwillkürlich „stolpert“. Das alles spricht für die Stele statt der von der Verwaltung gewünschten weniger wirksamen Wandtafel, zumal in der Marktstätte 22, um die es geht, als Publikumsmagnet bekanntlich ein dm-Markt untergebracht ist, so dass die Stele dort auf besonders großes Interesse stoßen könnte.
Die Verwaltung hat aber auch noch einen Plan B für die Marktstätte: „Bleibt es bei einer Stele, die beidseitig informiert und daher vom Gebäude abgerückt stehen muss, wird empfohlen, diese an die bestehenden öffentlichen Infrastruktureinrichtungen bzw. Stadtmöbel anzugliedern, um die Laufwege im Eingangsbereich des Gebäudes nicht einzuschränken.“
Da fragt man sich unwillkürlich, was in Konstanz letztendlich mehr zählt: Eine publikumswirksame Erinnerung an übelste Verbrechen wider die Menschlichkeit und das Gedenken an deren Opfer – oder ein ungestörter Einkaufsbummel.
Quelle: Beschlussvorlage 2025-1194. Hier können Sie auch die Texte und Stelen, die dankenswerterweise auch die Namen von Tätern nicht verschweigen, bereits jetzt anschauen.
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