Brasilien 2013 proteste gegen fahrpreise wikimedia commons

Viele verpasste Chancen: Massenproteste ohne Erfolg

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Vom Kampf gegen hohe Fahrpreise zum Rechtsruck: Protest 2013 in Brasilien

Im vergangenen Jahrzehnt (2010–2020) protestierten weltweit mehr Menschen als jemals zuvor. Und doch blieb der Erfolg weitgehend aus – schlimmer noch: Oft erreichten die Proteste das Gegenteil dessen, was sich die Demonstrant:innen erhofft hatten. Warum?

„If we burn – the mass protest decade and the missing revolution“, so heißt das Buch des US-Journalisten Vincent Bevins, der unter anderem für die britische Financial Times und die US-Zeitungen Los Angeles Times und Washington Post arbeitete. Übersetzt (das Buch ist leider noch nicht auf Deutsch erschienen): „Wenn wir brennen – die Dekade des Massenprotests und die ausbleibende Revolution“. Auf der Grundlage von über 200 Interviews mit Aktivist:innen hat Bevins die Ereignisse rund um zehn der größten Massenproteste in der vergangenen Dekade analysiert und zu verstehen versucht: Was ist eigentlich passiert? Und wieso kam am Ende etwas anderes heraus, als von den Initiant:innen erhofft?

Die Antwort, die er findet, ist altbekannt und doch zu großen Teilen von den heutigen politischen Bewegungen vergessen worden. Bereits 1907, zehn Jahre vor der russischen Oktoberrevolution, schrieb der damals noch weitgehend unbekannte Revolutionär Lenin in „Was tun?“, dass spontane Proteste zwar Ausdruck der Unzufriedenheit der Massen seien, jedoch immer in Gefahr laufen, in Chaos und letztlich in Niederlagen zu enden.

Eine erfolgreiche Revolution brauche daher vor allem eine sehr gute Vorbereitung. Und: „Dieser Kampf muss nach ‚allen Regeln der Kunst‘ von Leuten organisiert werden, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit beschäftigen.“ Das heißt von einer revolutionären Partei mit strikter Organisation, die bereit sei, in günstigen Momenten die Rolle der Vorhut zu übernehmen und in weniger günstigen den geordneten Rückzug anzutreten. 

Vom demokratischen Zentralismus zur Basisdemokratie

Lenins These begründete in den kommunistischen Parteien das Organisationsprinzip des „demokratischen Zentralismus“: Diskussionen und Entscheidungsfindungen sollten demokratisch erfolgen, doch wenn eine Entscheidung einmal getroffen war, galt sie für alle Parteimitglieder. Und wenn die Situation ein schnelles Handeln erforderte, dann entschied die Parteiführung, und ihr Beschluss galt bis zur nächsten Versammlung.

Lenins Ansatz wurde jedoch, so Vincent Bevins, vielerorts abgelehnt – in den USA, wo es andere revolutionäre Bewegungen gab, aber auch in Europa, wo sich in den 1960er und 1970er Jahren eine neue Linke entwickelte. Ihre Vertreter:innen kritisierten die autoritären Strukturen der Sowjetunion und den Stalinismus und lehnten deshalb die revolutionäre Strategie der klassischen marxistisch-leninistischen Linken ab.

Stattdessen folgten sie einem ganz andern Ansatz: Im Protest, so die Idee, solle sich bereits die angestrebte Zukunft widerspiegeln. In der Praxis hieß das vor allem: eine klare Ablehnung von Hierarchien und zumeist auch eine Ablehnung von Strukturen überhaupt. Während der Protest in der traditionell  kommunistischen Linken lediglich ein Mittel zum Zweck war und der Fokus auf dem Erreichen der Ziele lag (mehr oder weniger unabhängig von den Mitteln, die dafür verwendet werden), waren für sie die Mittel auch ein Teilzweck in sich selbst.

Die Anti-Globalisierungsbewegung in den 1990er und frühen 2000er Jahren, die sich beispielsweise mit global organisierten Weltsozialforen oder Massenprotesten bei G-8-Gipfeln dem aufkommenden Neoliberalismus widersetzte, setzte dieses Konzept konsequent um. David Graeber, einer der Intellektuellen der neuen Bewegungen, sah im Protest nicht mehr ein Mittel zum Zweck (etwa die Durchsetzung einer herrschaftsfreien Gesellschaft), sondern das Ziel an sich: die Belebung der Demokratie. 

Diese Entwicklung, die die neue Linke durchlief, führte auch zu einer Verschiebung der Protestmittel – weg von Streiks oder Boykotts, hin zu Demonstrationen und anderen spektakulären Protestformen, die sich über die Massenmedien verbreiten ließen, dem Massenfernsehen, später auch den sozialen Medien.

Das Muster der Proteste

In seinem Buch analysiert Bevins zehn Massenproteste rund um den Globus (in Bahrain, Brasilien, Chile, Ägypten, Hongkong, Südkorea, Tunesien, Türkei, Ukraine und im Jemen). Dabei findet er wiederkehrende Muster und Probleme.

Alle großen Bewegungen, die er untersuchte, entstanden in Reaktion auf den Protest einer kleinen, meist radikaleren Gruppe, die in der Regel versuchte, einen Platz oder eine Straße zu besetzen und dabei starke Bilder anboten. Meist wurden diese Proteste mit Polizeigewalt niedergeschlagen. Mit etwas Glück waren die Proteste zu diesem Zeitpunkt bereits groß genug: Oft gesellten sich Menschen dazu, mit denen – vereinfacht formuliert – viele Leute im Land sympathisierten, besonders dann, wenn es sich zum Beispiel um attraktive junge Frauen, Student:innen von Eliteunis oder Journalist:innen handelte, die das Pech hatten, auch Opfer von Polizeigewalt zu werden.

Die Folge: Die Medien zeigten, wie die Polizei Menschen aus der Mitte der Gesellschaft verprügelten, die Wut kochte hoch, noch mehr Menschen beteiligten sich und zeigten ihre Empörung: Eine Massenprotestbewegung war entstanden.

Zunächst ging es nur um 20 Cent

Doch ab hier wurde es oft diffus. Denn oft stießen Leute – mobilisiert übers Fernsehen oder das Internet – dazu, weil sie die verstörenden Bilder der Polizeigewalt ablehnten, nicht aber unbedingt, weil sie das ursprüngliche Demonstrationsziel teilten. 

So demonstrierte 2013 die brasilianische Bewegung „Movimento Passe Livre“ (MLP) für eine Senkung der Busfahrpreise um 20 Cent mit dem Spruch „Es geht um 20 Cent“. Nachdem die Polizei den Konflikt eskalierte, entwickelten sich die Proteste zur größten Bewegung in Brasilien seit Jahrzehnten – im Juni zogen rund eine Million Menschen durch über hundert Städte des Landes. Dabei nutzten viele Akteur:innen den Moment, um ihre Kritik an der Politik generell zum Ausdruck zu bringen.

Während die MPL-Bewegung versuchte, am ursprünglichen Ziel festzuhalten und auf einer Pressekonferenz von Busfahrpreisen sprach, kursierte bereits ein anderer Slogan: „Es geht nicht mehr nur um 20 Cent“. Doch worum ging es dann? Um alles und nichts.

Gekapert von rechts

Der Protest wurde zur politischen Fläche, auf die alle Beteiligten und Beobachter:innen etwas anderes projizierten. So zeigten beispielsweise die in Brasilien dominanten rechten Medien vor allem Bilder von nationalistischen Kundgebungen, die im Zuge der Proteste mit organisiert worden waren – während, so Bevins, die damalige brasilianische Präsidentin Dilma Roussef von der Arbeiterpartei tagelang vor dem Fernseher saß, die TV-Bilder der Demonstrationen anschaute und herauszufinden versuchte, was genau die Demonstrant:innen eigentlich wollten.

Die diffuse horizontale Organisationsstruktur erschwerte es den ursprünglichen Akteur:innen, effektiv vorzugehen und sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Sie machte es beispielsweise auch schwieriger, Zugeständnis zu erhandeln, denn erstens: Wer spricht für die gesamten Demonstrant:innen? Und zweitens: Haben wenigstens alle Mitglieder der ursprünglichen Gruppe diesem Strategiewechsel zugestimmt?

In revolutionären Situationen ist diese Führungslosigkeit noch gefährlicher, denn im Zweifel nutzen organisierte Kräfte {meist von rechts) entweder das Chaos – oder die Polizei und das Militär, beides ebenfalls extrem gut organisiert, gehen zu einen Gegenangriff über. Und so sorgt der Massenausbruch in nichtrevolutionären Situationen wie in Brasilien nur für eine Destabilisierung der bestehenden Verhältnisse: Dort stürzten die Umfragewerte der linkssozialdemokratischen Präsidentin in den Keller; bei der nächsten Wahl kamen die Kräfte um den rechtsextremen Jair Bolsonaro zum Zuge. 

Es ging also nicht lange um die Senkung der Busfahrpreise (die übrigens in Reaktion auf die Demos tatsächlich reduziert wurden). Wie sagte doch der andere Slogan: Es ging nicht nur um 20 Cent.

Tahrir square february 9, 2011. wikimedia commons
Der besetzte Tahrir-Platz in Kairo 2011

Die Leerstelle nach drei Schritten

Im Falle von revolutionären Situationen wie im Arabischen Frühling gewann nach der Tahrir-Platz-Besetzung in Kairo zunächst die am besten organisierte gesellschaftliche Gruppe die anschließenden Neuwahlen: die Muslimbruderschaft. Allerdings konnte sie ihre Macht nicht festigen und so ergriff das Militär – das noch weitaus besser organisiert war – mithilfe der Golfstaaten schlussendlich die Macht und etablierte die aktuelle Militärdiktatur unter Abdel Fattah al-Sisi.

Bevins fasst den Ablauf der Proteste der letzten Dekade in mehrere Phasen zusammen:

1. Proteste und deren Niederschlagung führten zu positiver Berichterstattung in den (sozialen und traditionellen) Medien
2. Die Medienberichterstattung veranlasste mehr Menschen zum Protest
3. Die Proteste wiederholen sich, bis fast jede:r auf der Straße war
4. ????????
5. Eine bessere Gesellschaft rückt näher

Und stellt fest: In den seltensten Fällen hatten die Aktivist:innen mit einberechnet, was folgt, wenn viele Menschen auf die Straße gehen. Statt alle Phasen durchzuplanen – oder überhaupt eine Vorstellung davon zu haben, wie die Macht von unten genutzt werden kann – konzentrierten sie fast alle Bemühungen und Ideen darauf, möglichst viele Menschen zu mobilisieren in der Hoffnung, dass große Proteste alleine ausreichen um eine bessere Welt zu schaffen. Kurzum: Es fehlte das strategische Verständnis für den vierten Schritt. 

Das Aufkommen von Massenmedien machte es leichter, große Menschenmengen zu mobilisieren. Dabei verschob sich der Fokus – auf letzten Endes ineffektive Protestmethoden. Oder anders formuliert: Wenn es darum geht, wirklich etwas zu verändern, also einen Umsturz der bestehenden Machtverhältnisse zu erzielen, ist die bloße Besetzung eines zentralen Platzes weniger sinnvoll als beispielsweise die Besetzung von Fernseh- und Radiostationen.

Und wenn keine revolutionäre Situation besteht, sind die Kosten für die Gegenseite durch Straßenblockaden deutlich geringer als etwa durch Streiks. In den allermeisten Fällen kann es sich die Regierung einfach erlauben, die Demonstrant:innen zu ignorieren. Und selbst wenn deren Aktionen so sehr zunehmen, dass sie die Wiederwahl der Regierungspartei gefährden, ändert sich an den Klassenverhältnissen kaum etwas..

Und jetzt?

Wie müsste wirksamer Protest also aussehen? Eine fundierte Antwort auf diese Frage liefert Bevins leider nicht. Alles in allem liest sich sein Buch wie ein Appell: Weg von anarchischen Organisationsstrukturen, wieder hin zu marxistisch-leninistischen Organisationsstrategien! Und damit weg von einer Form des Widerstands als Modell dafür, „wie die Gesellschaft, die man schaffen möchte, tatsächlich aussehen könnte“. In Bevins Worten:„Wenn Plünderer dein Dorf angreifen, solltest du nicht so reagieren, wie du hoffst, dass du leben wirst, wenn sie weg sind.“

Neu ist seine Kritik nicht. Kommunist:innen äußern sie seit Jahren. Was Bevins Buch auszeichnet, sind seine Analysen der spannenden Fallstudien, die er zu einer gut leserbaren, spannenden Geschichte verwoben hat (um eine dieser Fallstudien, die ukrainische Euromaidan-Bewegung, geht es in einem weiteren seemoz-Beitrag).

Doch auch wenn die vorliegenden Studien klar zeigen, dass die klassischen Organisationsstrategien der Linken in Massenprotestsituationen und möglichen Revolutionen effektiver sind, stellt sich für mich vor allem die Frage: Was bedeutet das für den Aktivismus heute für uns? 

Denn die einzige Revolution, die in Deutschland momentan vorstellbar ist, ist die einer rechten Machtergreifung. Wie kommen wir also überhaupt erst wieder in eine Richtung, in der die alten revolutionären Theorien wieder an Relevanz gewinnen? Und was bedeutet dies für den Protest in einer kleinen Stadt am Rande des Universums – wie Konstanz? Wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, was genau wir eigentlich tun müssen, um Veränderungen herbeizuführen.

Text: Manuel Oestringer
Fotos: Brasilien 2013, Ägypten 2011 © wikimedia commons 

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