
Heute, am internationalen Tag für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, leuchten wieder Kerzen, Hashtags kursieren, Gedenkreden erklingen, Politiker:innen betonen ihr Mitgefühl. Doch nach zwei Minuten Empörung kehrt der Alltag zurück: Ein patriarchaler Alltag, in dem Frauen täglich bedroht, gedemütigt und getötet werden.
Der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen erinnert an die Schwestern Patria, Minerva und María Mirabal, drei Aktivistinnen in der Dominikanischen Republik, die am 25. November 1960 vom Diktator Rafael Trujillo wegen ihres Widerstands ermordet wurden. 1999 erklärte die UNO ihren Tod zum Symbol für den weltweiten Widerstand gegen patriarchale Gewalt. 26 Jahre später wirkt der Tag oft wie ein leeres Ritual. Und doch ist er nötiger denn je.
Ein Mann schlägt eine Frau – ja, das ist Gewalt. Eine Entführung oder Vergewaltigung ebenso. Doch das deckt nur einen kleinen Teil dessen ab, was Frauen erleben. Gewalt beginnt früher, leiser und meistens in vertrauter Umgebung. Sie spielt sich ab in Wohnungen, Chatverläufen, Lohnabrechnungen. Digitale Übergriffe – Stalking, Doxing (Das Veröffentlichen privater Daten ohne Erlaubnis), Rache-Pornografie – gehören längst zum Alltag vieler Frauen. Wenn ein junger deutscher Streamer vor tausenden Zuschauenden lachend berichtet, wie er „ein Mädchen zum Sex überredet“ hat und es für ihn kein Problem, sondern Normalität ist, dann ist das kein Randphänomen, sondern ein Symptom. Das ist die Realität: Junge Männer konsumieren Gewalt als Unterhaltung, das verändert die Wahrnehmung und Handlungsspielräume von Gewalt gegen Frauen.
Zahlen, Mythen und Strukturen
Laut einer EU-Studie hat jede zweite Frau in Europa psychische oder digitale Gewalt erlebt. Gewalt gegen Frauen nimmt nicht ab, sie steigt. Und in Deutschland zeigt die jüngste Statistik ein neues Rekordhoch: 265.942 Fälle häuslicher Gewalt, rund drei Viertel davon gegen Frauen. Alle zwei Minuten erfährt in diesem Land ein Mensch Gewalt im eigenen Zuhause, drei Viertel davon sind Frauen. Doch das ist nur der sichtbare Teil, die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet.
Weltweit werden jährlich mehr als 80.000 Frauen ermordet, weil sie Frauen sind. Und zwischen diesen Morden liegen Millionen Akte der Erniedrigung, wie Kontrolle, Einschüchterung, Übergriffiges Verhalten und Drohungen. Laut UNICEF wurde jedes achte Mädchen weltweit vor seinem 18. Geburtstag Opfer sexueller Gewalt, rund 370 Millionen Kinder und Jugendliche. In Kriegs- und Krisengebieten trifft es jedes vierte. Vergewaltigung wird dort systematisch als Waffe eingesetzt, um Kontrolle auszuüben und Widerstand zu brechen.
Diese Zahlen sind nur in einer Gesellschaft möglich, die männliche Dominanz entschuldigt und weibliche Verletzbarkeit normalisiert. Eine Gesellschaft, in der Frauen, die über Gewalt sprechen, mehr Rechtfertigung brauchen als die Männer, die sie ausüben. Denn, trotz all dieser Zahlen hält sich hartnäckig das Narrativ, Männer seien die „wahren Opfer“ einer überzogenen Gleichstellungspolitik.
Diese Verdrehung verkehrt Ursache und Wirkung: Nicht Frauen gefährden männliche Karrieren, sondern Männer gefährden Frauenleben. Die Mythen um „Falschbeschuldigungen“ und „Cancel Culture“ dienen vor allem dazu, Aufmerksamkeit umzulenken – weg von struktureller Gewalt, hin zu einer vermeintlichen Opferrolle des Patriarchats. Diese Gewalt ist kein Zufall, sie ist System. Sie entsteht aus denselben Machtstrukturen, die Frauen in ökonomische und emotionale Abhängigkeit halten, ihre Körper kontrollieren und ihr Schweigen erzwingen. Jede Statistik, jedes Prozent steht für eine politische Realität.
Kulturelle Komplizenschaft
Dieses System funktioniert nur, weil Männer sich gegenseitig schützen und abschirmen. Weil Wegsehen leichter ist als Verantwortung. Weil jedes Zugeständnis an die Wahrheit auch eine potenzielle Selbstanklage wäre. Polizist:innen, die Anzeigen abwinken, Freundeskreise, die Täter schützen, Fankollektive, die ihre Idole verteidigen – diese Komplizenschaft zieht sich durch Institutionen und Alltage.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der männliche Gewalt verharmlost, weibliche Wut dämonisiert und Täter zu Opfern ihrer eigenen Triebe erklärt werden. Und jeder Witz, jedes Relativieren, jede „Aber-man-wird-ja-wohl-noch-sagen-dürfen“-Floskel stabilisiert ein System, das Frauen verletzbar hält. Diese Muster sind kein Zufall. Sie zeigen, wie tief Gewalt in Status, Macht und Männlichkeitsbilder eingeschrieben ist.
Wie oft hören wir: „Eine Anschuldigung kann das Leben eines Mannes zerstören“ oder, noch schlimmer: „seine Karriere“? Aber mit der Realität hat das nichts zu tun. Internationale Studien zeige, dass Falschanschuldigungen unter fünf Prozent liegen. Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter: Alle sind hässlich, aber die wenigsten verurteilt.

Popkultur & Politik – wie Täter ästhetisiert oder verharmlost werden
Prominente Männer wie Till Lindemann, Thomas Gottschalk, Jérôme Boateng oder Luke Mockridge hampeln ungestraft auf öffentlichen Bühnen rum, und werden sehr gut dafür bezahlt und bejubelt. Dass sie Frauen „rein dienstlich angefasst haben“ oder beschuldigt wurden, Frauen misshandelt, vergewaltigt, gestalkt, ausgenutzt oder bedroht zu haben, scheint für sie wenig bis keinerlei Konsequenzen zu haben. Selbst wenn Lindemanns Musik von Vergewaltigungsfantasien handelt, Luke Mockridge Witze über K.-o.-Tropfen macht oder Thomas Gottschalk eine Moderation damit beginnt zu sagen, Cher wäre die einzige Frau, die er jemals respektiert habe, dann folgt mit Glück ein kurzer medialer Aufschrei oder, wie sie es nennen, ein „Shitstorm“. Aber kann man das als Konsequenz bezeichnen?
Denn „gecancelt“ wird in Deutschland sicher kein Mann wegen Frauenhass. All diese Männer führen erfolgreiche Karrieren, können von ihrer „Kunst“ leben und müssen sich, im schlimmsten Fall, mit öffentlicher Kritik auseinandersetzten.
Über Lindemann berichten mehrere Frauen, dass sie bei Aftershow-Partys unter Drogen gesetzt und zum Teil von ihm sexuell genötigt und missbraucht wurden. Um eine spezifische Auswahl an Opfern zu gewährleisten, engagierte er Personal, welches nur dafür da war, Frauen für ihn auszusuchen. Ein weiteres Beispiel ist Jérôme Boateng: Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, seine ehemalige Partnerin körperlich verletzt zu haben. In einem Prozess vor dem Landgericht München wurde er schließlich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt: Eine Geldstrafe von 200.000 Euro, die nur fällig wird, wenn er erneut straffällig auffällt, sowie eine Spende von 100.000 Euro an Wohltätigkeitsorganisationen.
Kritiker:innen sehen das Urteil als wenig belastende Konsequenz im Vergleich zur Schwere der Vorwürfe. Zwei Jahre später nahm sich Kasia Lenhardt das Leben. Sie war ebenfalls mit Boateng liiert und wurde nach der Trennung von ihm und seinen Fans so sehr belästigt, gemobbt und bedroht, dass sie keinen anderen Ausweg sah.
Unter horrendem Druck
Während die öffentliche Aufmerksamkeit meist nur auf die prominente Person und die Frage möglicher Image-Schäden gerichtet ist, rückt das Schicksal der betroffenen Frauen schnell in den Hintergrund. Was passiert mit jenen, die tatsächlich Gewalt erleben? Frauen, die Übergriffe durch Männer mit Macht, Status oder öffentlicher Präsenz erlebt haben, kämpfen nicht nur mit den unmittelbaren Folgen, sondern häufig über Jahre mit Angst, Scham, psychischen Belastungen und gesellschaftlicher Stigmatisierung.
Viele berichten, dass sie durch Verschwiegenheitsklauseln, finanzielle Angebote oder Drohungen unter Druck gesetzt wurden, zu schweigen. Und selbst wenn sie sich trauen, über ihre Erlebnisse zu sprechen, stoßen sie oft auf Zweifel, Bagatellisierung oder schlichtes Desinteresse – besonders dann, wenn der Beschuldigte eine große Fanbasis oder wirtschaftliche Bedeutung hat. Auch Kasia Lenhardts Suizid war ein Femizid.
Diese prominenten Fälle korrespondieren mit dem erschreckenden gesellschaftlichen Gesamtbild: Im Jahr 2022 meldete die Polizei in Deutschland über 101.000 Männer wegen so genannter „Partnergewalt“. Und registrierte im gleichen Zeitraum 133 Femizide. 2023 stieg die Zahl der Tötungen auf 360 Frauen.
Die Gewalt kommt nicht von außen
Einzelne Shitstorms und mediale Entrüstung reichen nicht aus. Wenn Männer mit Macht – sei es durch Berühmtheit, Einfluss oder finanziellen Rückhalt – kaum echte berufliche Einbußen erleiden, sendet das ein fatales Signal. Gleichzeitig tragen die Frauen, die berichten, schwer an den Folgen: infrage gestellte Glaubwürdigkeit, emotionale Belastung, das Wiedererzählen ihrer Traumata. Täter mit Status werden nicht geächtet, sondern rehabilitiert. Ihr Genie, ihr Reichtum, ihre Prominenz überstrahlen die Gewalt. Der Täter wird zur Figur, die man verstehen, bewundern, retten soll.
Besonders perfide wird es, wenn konservative Politiker das Thema Frauenschutz als Bühne benutzen. Wenn Friedrich Merz, der in den 1990er Jahren gegen die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe stimmte, heute vor „importierter Gewalt“ warnt, dann geht es nicht um Frauenrechte. Sondern um rassistische Symbolpolitik.
So wird „Schutz“ instrumentalisiert, um Ressentiments zu schüren – während Frauenhäuser um Finanzierung kämpfen und Beratungsstellen überlastet sind. Die Realität: Die meisten Gewalttaten geschehen im eigenen Zuhause. Täter sind Partner, Ex-Partner, Väter, Brüder. Migration oder Herkunft erklären dieses System nicht – patriarchale Machtverhältnisse schon.
Gesundheitliche Nebenwirkungen des Patriarchats
Patriarchale Strukturen, die wir als Gesellschaft tragen, da wir sie normalisieren, erzeugen vielfach Gewalt, die wir auf den ersten Blick nicht als solche erkennen – die aber Frauen systematisch ausbremst, benachteiligt oder krank macht. Zum Beispiel zeigt der Gender Health Gap, wie tief patriarchale Strukturen in unsere Gesundheit greifen. Krankheiten, die Cis-Männer nicht betreffen wie Endometriose, werden systematisch vernachlässigt: Die Diagnose dauert im Schnitt bis zu zehn Jahre, die Forschung konzentriert sich kaum auf Heilung oder Ursachen.
Stattdessen wurden bizarre Studien publiziert, die etwa die Attraktivität von Frauen mit Endometriose für Männer untersuchten, während ihre Schmerzen, Lebensqualität und reproduktive Gesundheit weitgehend ignoriert blieben. Die Folgen sind drastisch: Betroffene berichten von stark eingeschränkter Lebensqualität und enormer psychischer Belastung sowie wachsenden Symptomen. Unbehandelt kann Endometriose sämtliche Organe massiv angreifen und die Gesundheit dauerhaft beeinträchtigen.
Der Gender Health Gap kann global Millionen verlorene Lebensjahre bedeuten und wirtschaftliche Kosten in Billionenhöhe verursachen. Frauen werden später diagnostiziert, erhalten seltener wirksame Medikamente und werden in der ärztlichen Versorgung oft nicht ernst genommen.
Demo heute
Wir müssen aufhören, Gewalt als unvermeidliche Begleiterscheinung von Männlichkeit zu akzeptieren. Wir brauchen politische Konsequenzen: Finanzierung von Frauenhäusern, klare gesetzliche Definitionen sexualisierter Gewalt, feministische Bildung, digitale Verantwortung. Wir müssen aufhören, Täter zu romantisieren, Gewalt zu normalisieren und Opfer zu isolieren. Wir – als Frauen – haben keine Lust mehr, still zu bleiben, höflich zu argumentieren oder um Glaubwürdigkeit zu bitten.

Wir wollen eine Welt, in der Schutz kein Privileg ist, sondern Voraussetzung. In der Männer Verantwortung übernehmen, statt sich hinter Brüderschaften zu verstecken. Denn Gewalt gegen Frauen ist kein Schicksal. Sie ist ein System, in dem Männer immer auch entschuldigt werden. Und Systeme kann man stürzen.
Bilder: privat
Am 25. November stehen wir gemeinsam gegen patriarchale Gewalt auf – um 18 Uhr auf dem Konstanzer Münsterplatz. Wir sind laut, wir sind viele, und wir zeigen: Keine von uns ist allein. Kommt vorbei, bringt eure Freund:innen mit und lasst uns zusammen klar und unüberhörbar sein!
Wie seemoz berichtete, sind für den 25. November und die Tage danach zahlreiche weitere Aktionen und Veranstaltungen geplant. Hier der Überblick.


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