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Wem steht das Recht auf Selbstverteidigung zu?

Mohamed Badawi

Mohamed Badawi, ein ehemaliges Mitglied des Konstanzer Gemeinderats, hält ein Plädoyer gegen doppelte Standards in der deutschen Nahostpolitik.

Nach fünf Jahren im Gemeinderat der Stadt Konstanz endete vergangenes Jahr mein kommunalpolitisches Mandat – doch meine politische Verantwortung endete nicht. (Anm. d. Red. – Badawi war Stadtrat für die Freie Grüne Liste). Denn gerade angesichts der fortdauernden humanitären Katastrophe in Gaza sehe ich mich verpflichtet, Stellung zu beziehen. Es geht nicht nur um politische Interessen, sondern um eine grundlegende Frage von Menschlichkeit und Völkerrecht: Wem steht eigentlich das Recht auf Selbstverteidigung zu?

Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, der zweifellos schwerwiegende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht beinhaltete und zahlreiche zivile Opfer forderte, wiederholen politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger – insbesondere in Deutschland – nahezu reflexhaft denselben Satz: „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen.“

Diese Aussage ist völkerrechtlich korrekt – doch sie greift zu kurz. Sie blendet die komplexe Vorgeschichte des Konflikts aus. Was ist mit den Palästinenserinnen und Palästinensern, die seit Jahrzehnten unter Besatzung, Siedlungsbau, Vertreibung, Blockade und systematischer Entrechtung leiden? Haben sie nicht ebenfalls ein Recht auf Sicherheit, Würde und Schutz?

Doppelte Standards schwächen das Völkerrecht

Während Deutschland der Ukraine mit klarer Haltung militärisch, wirtschaftlich und politisch zur Seite steht – und so aus Überzeugung für das Völkerrecht und die territoriale Integrität eines angegriffenen Staates einsteht –, bleibt dieselbe Regierung gegenüber Palästina auffallend zurückhaltend. Dabei sollte gerade die deutsche Außenpolitik im Bewusstsein ihrer historischen Verantwortung auf der konsequenten Achtung von Menschenrechten und Völkerrecht bestehen, für alle Menschen.

Die nahezu einseitige Rhetorik der Bundesregierung, die das Leid der palästinensischen Bevölkerung entweder relativiert oder verschweigt, führt zu einer gefährlichen Erosion des normativen Fundaments deutscher Außenpolitik. Menschenrechte gelten universell – oder sie gelten gar nicht.

Nicht trotz, sondern wegen der Geschichte: Deutschland muss handeln

Oft wird das besondere Verhältnis Deutschlands zu Israel als Begründung für politische Zurückhaltung herangezogen. Doch wahre Verantwortung bedeutet, Unrecht zu benennen – auch dann, wenn es unbequem ist. Nicht trotz der deutschen Geschichte, sondern gerade deshalb muss Deutschland sich heute ernsthaft mit dem Leid des palästinensischen Volkes auseinandersetzen.

Es geht nicht darum, sich einseitig zu positionieren, sondern um Prinzipientreue: Deutschland darf nicht länger mit zweierlei Maß messen, wenn es um den Schutz von Zivilist:innen, das Völkerrecht und das Recht auf ein Leben in Würde geht.

Haltung und Handlung: Für einen gerechten Frieden

Ein glaubwürdiger außenpolitischer Kurs muss mehr beinhalten als symbolische Formeln. Er verlangt konkrete Schritte:
– Die offizielle Anerkennung eines souveränen palästinensischen Staates,
– einen sofortigen Stopp deutscher Rüstungsexporte in das Kriegsgebiet,
– und aktiven diplomatischen Druck auf alle Konfliktparteien – inklusive Israel –, um internationales Recht durchzusetzen.

Mehr als 20 europäische Staaten – darunter Irland, Norwegen und Spanien – haben sich kürzlich zur Anerkennung Palästinas bekannt. Deutschland hingegen schweigt. Dieses Schweigen wirkt nicht neutral – es wird weltweit als Parteinahme wahrgenommen.

Gaza ist nicht fern – es ist unsere moralische Realität

Dass nun erstmals von einem deutschen Luftbrückeneinsatz zur Versorgung der notleidenden Bevölkerung in Gaza gesprochen wird, ist ein erster Schritt. Doch ohne eine grundsätzliche politische Neuausrichtung bleibt jede humanitäre Geste letztlich symptomatisch und nicht ursachenorientiert.

Ein dauerhafter Frieden im Nahen Osten wird nicht durch Waffenlieferungen oder diplomatische Höflichkeitsfloskeln erreicht, sondern durch Gerechtigkeit, Empathie und die Anerkennung des gleichen Werts jedes menschlichen Lebens.

Zum Schluss erinnere ich an die Worte des tunesischen Dichters Abou El-Qacem El-Shabbi  – sie klingen heute wie ein moralischer Appell:

Wenn ein Volk das Leben ersehnt,
beugt sich das Schicksal seinem Willen.
Dann schwindet die dunkle Nacht –
und die Ketten zerreißen im Morgenlicht.

Deutschland steht heute vor einer Entscheidung: Wird es Teil der Lösung – oder bleibt es durch sein Schweigen Teil des Problems?

Text & Bild: Mohamed Badawi

9 Antworten

  1. Jürgen Weber

    // am:

    »Ich bin der festen Überzeugung, dass es nur eine legitime Lehre aus dem Holocaust gibt, und das ist die absolute und bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle. Punkt.«, so die jüdische Schriftstellerin Deborah Feldman.
    Danke, Mohamed Badawi, für deinen wichtigen und mutigen Beitrag für Menschenrechte für alle. Egal welcher Hautfarbe, welcher Herkunft und welcher Religion. Das sind doch angeblich „die europäischen Werte“, an die sich alle hier halten sollen?
    Auch in der Kommentarspalte unten kaum Empathie für die unschuldigen palästinensischen Opfer, überwiegend Kinder. Tausende und Abertausende. Ja, es wird mit zweierlei Maß gemessen.
    Ich bin beschämt über Politik und eine Zivilgesellschaft, ausgerechnet in Deutschland, die sich nicht traut, eine kraftvolle Stimme zu erheben: Für Menschenrechte für alle und gegen Kriegsverbrechen. Jeder Mensch hat ein Existenzrecht und ein Recht auf Unversehrtheit. Punkt.
    Schimpft mich naiv, schimpft mich Antisemit. Ich kämpfe seit ich denken und fühlen kann gegen Antisemitismus, gegen Rassismus und gegen Faschisten – auch in der israelischen Regierung oder als Hamas!
    Seid mutig, wie Mohamed Badawi und macht den Mund auf für Menschenrechte, nicht nur dort wo es schick ist, sondern auch da, wo es unbequem wird. Wir dürfen bei keinem Verbrechen wegsehen.

  2. Robert Schwarz

    // am:

    Liebe Frau Herbert-Fischer, eine Verharmlosung der Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 verdient keine Relativierung. Da erübrigt sich jede weitere Diskussion.
    Doch Sie meinen vielleicht, wer A sagt muss auch B sagen, und dem will ich mich nicht entziehen.
    Das Vorgehen Israels gegenüber den Palästinensern im Gazastreifen hat in den vergangenen Jahrzehnten auch mich oft genug empört. Zuletzt habe ich mir jedoch zudem die Frage gestellt, warum die Menschen dort solange in dieser Opferrolle bleiben mussten. (Selbst die absurd erscheinende Vision Trumps von einer „Riviera des Nahen Ostens“ ist doch gar nicht so fernliegend.)
    Tausende Israelis, die gegen ihre Regierung demonstrieren, sind noch zu wenige. Und die Hamas beherrscht noch immer den Gazastreifen.
    Schuldzuweisungen und Relativierungen (auch: „Für diese Not ist die Hamas nicht weniger verantwortlich, wie die israelische Regierung.“) spiegeln bestenfalls den Konflikt. Doch sind sie nicht im Kern der Krieg?
    Rache ist genauso verabscheuenswürdig wie Hass. Doch wie umgehen mit der Not?
    Was machen Sie mit einem Nachbarn, der Sie töten will? Sie rufen vermutlich zunächst die Polizei (was richtig ist). Und dann entführt er ihre Kinder, eins tötet er, ein anderes gibt er nicht wieder her. Vielleicht haben Sie noch weitere Kinder. Wann hört Ihre Sorge auf, wann endet Ihre Not, wann fangen Sie wieder an zu vertrauen?
    Unterstützen Sie, wenn Sie wollen. Doch lassen Sie uns den Frieden wahren.

  3. Robert Becker

    // am:

    Stellt sich jetzt nur die Frage, wie man mit der Hamas umgeht. Runder Tisch scheidet ja wohl aus bei soviel religiösem Mittelalterwahn.

    Und mit einer Staatsgründung Palistina wird der Konflikt bestimmt auch nicht aufhören. Staatsdoktrin Irans ist ja bekanntlich die Auslöschung Israels. (Finde den Fehler)

  4. Gerhard Detzel

    // am:

    Mohamed Badawi war in dieser Amtszeit der Gemeinderat mit den meisten Stimmen der Konstanzer Bürger, 25.166, um genau zu sein.
    Ein Leserbrief von Ruth Frenk und Joachim Salomon in der Tageszeitung am 2.Nov 2023 irritierten mich: Sie schreiben zur Resolution des Gemeinderats: „Ein Stadtrat, der sich dem nicht anschließen kann, gehört nicht in dieses Gremium.“
    Dr. Mohamed Badawi namentlich genannt.
    Wer will denn nun entscheiden, wer in den Gemeinderat gehört?

  5. Christina Herbert-Fischer

    // am:

    Danke Herr Schwarz, genauso ist es.
    Unabhängig von der Unterstützung Deutschlands für Israel muss jedoch auch klar gestellt werden, dass echte Verbündete Grenzen aufzeigen und nicht Komplizen von Unrecht bleiben, wenn sie dies erkannt haben. Nicht der Staat Israel und seine Existenzberechtigung ist in Frage zu stellen, sehr wohl aber die derzeitige Regierung. In Israel demonstrieren Tausende gegen diese Regierung, sie haben Unterstützung verdient. Dabei denke ich auch an die Familien der Verschleppten.
    Die Art, wie Herr Badawi hier schreibt erweist den Menschen im Gazastreifen einen Bärendienst und das ist bedauerlich. Die Not dort raubt mir den Schlaf. Für diese Not ist die Hamas nicht weniger verantwortlich, wie die israelische Regierung. Mit Befreiungskampf und Menschenrechte hat diese kriminelle Organisation nichts gemein, die ihre eigenen Leute opfert. Schaut die Menschenrechte und die Frauenrechte im Iran an, dann wisst ihr für was die Hamas steht.

  6. Robert Schwarz

    // am:

    „Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, der zweifellos schwerwiegende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht beinhaltete und zahlreiche zivile Opfer forderte, …“
    Das ist unerträglich! Und das ist eine grundlegende Frage der Menschlichkeit.

    Genauso unerträglich ist diese Gleichsetzung („angegriffener Staaten“), die zugleich eine grundlegende Frage des Völkerrechts betrifft:
    „Während Deutschland der Ukraine mit klarer Haltung militärisch, wirtschaftlich und politisch zur Seite steht – und so aus Überzeugung für das Völkerrecht und die territoriale Integrität eines angegriffenen Staates einsteht –, bleibt dieselbe Regierung gegenüber Palästina auffallend zurückhaltend.“
    Die Ukraine wurde angegriffen – und Israel.

    Das ist ein schlechter moralischer Appell, der weiteres Unrecht zu allem Unrecht hinzufügt, welches dort schon geschehen ist. Damit verliert auch, was zutreffend oder gut gemeint ist, jegliches Gewicht.

  7. Werner Volk

    // am:

    Der Nahe Osten war kein rein palästinensisches Gebiet. Es war eine Region vieler Völker. Als die Osmanen kamen, gab es sogar Modernisierung in der Region.
    Ich könnte zornig über Netanjahu und über die Siedler sein und verärgert über die Koalition, deren Anführer Netanjahu ist.
    Aber dann würde ich im lauten Chor der internationalen Antisemiten brüllen, die sonst so leise sind, geht es um Hunger anderswo oder um die Rechte der Kurden. Aus diesem Grund bin ich parteiisch an der Seite des israelischen Volkes, die ein Recht haben, in Frieden zu leben – ohne Raketen und Luftschutzbunker. Und ich bin Gegner der Träumer, die die Hamas als Befreiungsbewegung beschreiben, aber nie eine Freiheit wollen, die die Gleichheit von Mann & Frau, und den Respekt vor der Meinung anders Denkender beinhaltet.

  8. Robert Becker

    // am:

    Zugegeben etwas weit hergeholt, aber trotzdem: dieser Tage liest man ja, dass der Hauptunterstützer der Hamas, Iran, wahrscheinlich dazu gezwungen wird, seine Hauptstadt Teheran wegen akutem Wassermangel in eine andere Region zu verlegen. Das muss man sich mal vorstellen, fast 9 Millionen Bewohner müßten umgesiedelt werden. Grund hierfür ist wohl massives organisatorisches und planerisches Versagen der Regierung.

    Ganz ketzerisch könnte man ja jetzt dazu kommentieren, dass man doch lieber seine Hausaufgaben machen sollte, als seine Ressourcen damit zu verschwenden, Nachbarn zu Todfeinden zu erklären und zu massakrieren.

  9. Christina Herbert-fischer

    // am:

    „Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, der zweifellos schwerwiegende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht beinhaltete und zahlreiche zivile Opfer forderte, …“
    Im Ernst?
    Ich begrüße, dass die Regierung Waffenlieferungen an Israel jetzt einstellen will. Das Vorgehen der derzeitigen israelischen Regierung ist auch in meinen Augen schon lange nicht mehr zu rechtfertigen. Diese Regierung handelt verbrecherisch, um an der Macht zu bleiben, schürt sie den Krieg. Dieses Sterben im Gazastreifen muss aufhören.
    Unabhängig davon, ist die oben zitierte Äußerung für mich schwer erträglich. Eine derartige Beschönigung eines brutalen Massakers, selbst Kleinkinder und Säuglinge wurden bestialisch ermordet, macht mich fassungslos und wütend, mir stehen die Haare zu Berg.

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