
Christoph Buchfink ist Figurenspieler aus Göttingen. Er hat ein Kinderbuch über Klimawandel, Vorurteile gegenüber allem, was anders ist, als wir denken oder uns vorstellen, und die Kraft der Kleinen geschrieben: „Lykke Eira. Zwergenreise“. Unser Autor hat das Buch gelesen und dessen Autor getroffen.
So richtig vorstellen kann man sich eine menschenleere Eislandschaft gerade nicht. Es ist brüllend heiß, der Schweiß läuft in Strömen. Hemd und Hose kleben unangenehm an der Haut. Christoph Buchfink und ich sitzen vor dem Café des Seilerhauses in Stockach in einem kleinen Fleckchen Schatten. Der Figurenspieler aus Göttingen erzählt von der Faszination, die von Gletschern ausgeht. Auf einem Familienurlaub in Norwegen hat es ihn gepackt. Da in der Ferne glitzerte und thronte er, der Folgefonngletscher. „Mehrfach habe ich versucht, dahin zu kommen und auch darüber zu laufen. Es hat nicht geklappt.“ Doch dann kamen Corona und ein Künstlerstipendium des Landes Niedersachsen. „Figurentheater konnte ich grad eh nicht machen. Also dachte ich, ich nutze das Geld für eine Recherchereise.“
Er fuhr nach Norwegen, um etwas über Gletscher zu lernen. Bei dieser Reise purzelten tagträumerisch immer mehr merkwürdige Gestalten durch seine Gedanken und als Bleistiftzeichnungen in das Skizzenheft, das er immer mit sich führt: Twerke und Dwarge, Wassergnome und Grashälmchen, Moosmoffen und Schabernöcke. Ein Gletscher und eine Vielfalt an Wesen, die seine Eisfläche und die Landschaft um sie herum bewohnen. So fing es an. „Ich mag ja Geschichten, wo Figuren irgendwie anders sind“, sagt Christoph Buchfink und spricht von dem Igel ohne Stacheln, den er sich mal ausgedacht hat. Elisa-Bib heißt das erschöpfte kleine Tierchen und Christoph Buchfink erzählt in einem Figurentheaterstück davon, wie es sich so lebt, ganz ungeschützt, so ohne Stacheln, gefährdet von Hunden und Autos. Und vielleicht, so denke ich, wäre es schön, auch Politikerinnen und Politikern heute davon zu erzählen, „warum Stacheln auch nicht immer helfen“.
Nicht zugehört
Und so ist es auch in Lykke Eira keineswegs ein heldenhafter Jungzwerg in schimmernder Wehr, Axt im Gürtel, auf strahlendem Ross reitend, sondern ein kleines Zwergenmädchen, dem man im Zwergenrat nicht nur nicht zuhört, sondern den Mund verbietet. „Als ich die Geschichte zunächst meinem Sohn als Gutenachtgeschichte erzählte, war die Hauptfigur noch ein Junge. Beim Schreiben merkte ich jedoch, dass das ein Mädchen sein muss“, erzählt Christoph Buchfink.
Gleich zu Anfang der Geschichte tritt es sehr selbstbewusst, verantwortungsvoll und mutig auf. Das kleine Zwergenkind Tinna ist ganz allein draußen, als der Gletscher der Dwarge, den Eiszwergen, von Menschen heimgesucht wird. Ein großer orangefarbener Hubschrauber landet – alle Dwarge fliehen panisch. Nur Klein-Tinna bleibt zurück. Und nur Lykke Eira bemerkt das Kind und kümmert sich darum. Dafür gibt‘s nachher dann zwar erstmal Ärger, der zwar schnell Erleichterung weicht, doch Anerkennung für ihre Rettungsaktion bekommt Lykke Eira nicht. Nein, vielmehr will man ihr im Großen Rat das Wort verwehren. Schließlich ist sie ja kein Mann und obendrein noch ein Kind, und einen großen weißen Bart hat sie auch nicht.
… nur die Bärtigen
„Zum Großen Rat“, so echauffiert sich einer, als er vernimmt, dass Zwergenfrauen diesmal auch geladen sind, „gehören seit Jahrhunderten nur die alten Bärtigen.“ Nun ja. Torke, der Vater von Eira, ist Oberhaupt aller Dwarge und kommt bei der Festsetzung des Mindestalters für Teilnehmer:innen den Mufflern, Nörgler und Ewiggestrigen entgegen: „mindestens fünfzehn Winter“. Tja, und so alt ist Eira, wie ihr ihr Bruder Kyrre genüsslich vorrechnet, eben noch nicht.
So ein Mist! Dabei ist das, was da besprochen wird, so wichtig. Es geht um nichts weniger als die Zukunft der Dwarge. Ihr Gletscher schmilzt, und mit dem schmelzenden Eis kommen bedrohliche Frettchen und angsteinflößende Menschen. Die Gefahr, entdeckt zu werden, steigt. Drumherum aber, in der Umgebung des Gletschers, sieht es auch nicht besser aus: Hinterlist und Heimtücke, wohin man nur blickt. Trolle – oh weh! Breenbrekker – och nö! Und die Gebirgswichte erst – ach je! Alle Wesen, die in angrenzenden Gegenden, Wäldern, Sümpfen, Seen, leben, machen den Dwargen Angst. Schließlich wissen sie ja Bescheid. Dem Großen Rat kann niemand was vormachen. Alle, aber auch wirklich alle anderen haben Übles im Sinn.
Lykke Eira jedoch lässt sich nicht abwimmeln. Sie will reden. Schließlich hat sie eine Idee für die Zukunft. Da sollte man doch zuhören, findet sie, „tief in ihrem Innern, sie… sie hatte es gespürt, eine Idee, dass es sich vielleicht lohnen würde, mit anderen Völkern gemeinsam …“ Eira ist wütend. „Noch einmal holte sie tief Luft und stieß ihren Fuß in den Grund, da löste sich ein Schneebrett unter ihr. Die Welt stürzte in die Tiefe. Und mit ihr Lykke Eira.“
Ihre Welt stürzt
Und mit diesem Sturz beginnt eine lange Reise. Das Vorsatz zeigt die Landschaft, die Lykke Eira durchwandert vom Gletschersturz bis zur glücklichen Heimkehr. Auf dem hinteren Vorsatz ist rot ihr Weg eingetragen, Orte, teils auch Wesen, denen sie begegnet, benannt. „Das hilft Kindern immens“, sagt Buchfink, der findet, dass sein Buch mit 360 Seiten ganz schön lang geworden ist. „Da können sie dann gucken, aha, jetzt ist Eira schon hier und so viele Abenteuer kommen noch.“
Als Figurenspieler hat er gelernt, Spannungsbögen gut aufzubauen: „Nach etwa 35 Minuten kommt meist ein Loch, da muss man dann nochmal eine Wendung einbauen, deren Auflösung die Kinder unbedingt wissen wollen.“ Doch als Figurenspieler begegnet er seinem Publikum auch direkt. „Ich wurde oft nach Aufführungen gefragt, ob man das irgendwo nachlesen kann. Und so habe ich begonnen, meine Geschichten aufzuschreiben. Aber dies ist der erste Roman. Da merkte ich, das kann ich jetzt nicht einfach in kleine Abschnitte auftrennen, das ist ein Ganzes.“ Und es ist auch das erste Mal, dass das Buch vor dem Puppenstück entstand, das Buchfink ebenfalls aus dem Stoff entwickelte. „Mit Schaumstoff. Das ist ein blödes Material, ich weiß, aber es lässt sich hervorragend formen. Hände können sich anlegen und Gesichter zerknautschen. Das habe ich bei statischen Materialien nicht.“
Viel Raum
Weich und leicht ist auch die Linienführung der Zeichnungen, die Lykke Eiras Reise begleiten. Buchfink illustriert seine Bücher selbst. Er verwendet gern Blei- und Buntstifte – damit kann man sowohl klare Flächen und Konturen zeichnen als auch sanfte Verläufe und Übergänge. Diese Technik, fürs Buch dann nochmal digital überarbeitet und angepasst, bietet auch viele Möglichkeiten zur Differenzierung innerhalb von Farbflächen. Oft umranden Linien aus schwarzer Tinte seine Gestalten, ganz so als müsse dem zart ineinander Verlaufenden eine Klarheit zur Seite gestellt werden. Als müssten die Formen aus zarten Farbflächen am Verlaufen ins Vage gehindert werden.

Buchfinks Bilder lassen viel Raum. Nicht alles ist definiert und abgeschlossen, manches bleibt skizzenhaft oder angedeutet. Das gilt für die Bilder, die größere Landschaftsausschnitte zeigen, aber auch für die fein schattierten Gestaltungen von Haut oder Fell der verschiedenen Wesen, die dieses Buch bevölkern. Mit großer Liebe zum skurrilen Detail werden sie dargestellt: Dwarge haben blaue Flecken im Gesicht, Griesgramkrabben drei Stielaugen und Folgefonn-Frettchen sehen ein wenig wie geschrumpfte und mit weißen Kaninchen gekreuzte Versionen von Rudolf, dem rotnasigen Rentier, aus.
Die Dwarge haben einen Entschluss gefasst: jede und jeder nimmt, was sie oder er tragen kann, und dann gehen sie eine neue Heimat suchen. Klimamigrant:inn:en. Aber, ach, Lykke Eira ist fort. Das entdecken sie erst jetzt. Was tun? Sie kann, da ist Torke sich sicher, nur in eine von drei möglichen Richtungen gegangen sein, denn die Schneespitze, die ist ja verboten, klar. Und dass seine Tochter so klare Verbote einfach übertreten könnte, kommt dem Vater nicht in den Sinn. Ebenso klar ist: ohne Eira geht‘s nicht.
Toxische Männlichkeit
Vater, Mutter und Bruder machen sich in drei verschiedenen Richtungen auf die Suche. Mit dieser Entscheidung erhält der Haupterzählstrang drei Nebenstränge, drei weitere Möglichkeiten, diese Geschichte vom Fall aus dem Paradies (auch wenn anklingt, dass auch die Gletscherheimat nicht immer Wohnort der Dwarge war) und dem, was daraus möglicherweise folgt, zu erzählen. Und deutlich wird: Die Entwicklungen, die die vier Wandernden machen, sind ganz unterschiedlich. Torke, der Vater, macht eigentlich keine Entwicklung durch. Er bleibt sich, for better or worse, treu. „Das männliche Modell hat ausgedient“, kommentiert Buchfink die Veränderungsverweigerung oder vielleicht auch Unfähigkeit, sich zu wandeln. Angesichts der weltweiten Renaissance unterschiedlicher Formen toxischer Männlichkeit wünscht man inständig, er möge recht haben.
Aber auch das kleine Zwergenkind muss tief, tief stürzen, um Wandlung zu erleben. „Warum eigentlich fällt immer alles nach unten, fragte sie sich. Ich bin noch nie nach oben gestürzt, das Wasser auch nicht. Dieses ‚Unten‘ muss eine ganz eigene Kraft haben, wenn es alle Dinge dazu bringt, hinunterzuwollen.“ Die Welt, so lernt Lykke Eira, ganz hart und konkret, ist alles, was der Fall ist. Sie fällt nicht nur vom Gletscher, sie stürzt durchs Geröll, holt sich Prellungen, Quetschungen und Schürfwunden, sie bleibt in spitzen Dornen hängen und muss erst vom Schabernöck lernen, sich weich und geschmeidig zu machen, um diesem Gestrüpp zu entkommen. Sie fällt von Bäumen und sie fällt Wasserfälle hinunter. Sie fällt und fällt und fällt. Von kleinen eichhörnchenartigen Wesen, die der Nöck „Fallstaffs“ nennt (nein, für einen gepflegten Kalauer ist Buchfink sich nicht zu schade), lernt sie, dass Fallen auch Spaß machen kann. Andere Wesen zeigen ihr, wie man – Lykke Eira befindet sich grad auf der Flucht vor bedrohlichen Twerken ein Holzfloß gewinn- und spaßbringend in ein Surfbrett – „Mit dem Strom, nicht gegen den Strom!“ – verwandeln und sich so vor dem todbringenden Sturz in einen malstromartigen Wasserwirbel retten kann.
Werte ändern sich
Die hohe Qualität von Buchfinks Roman liegt darin, dass sich Lykke Eiras eingeübte Zwergenwerte nicht einfach umwerten – was vorher weiß war, ist jetzt schwarz -, sondern dass die Welt zunehmend vielfarbiger wird: nicht jede Begegnung ist glücklich, nicht alle Wesen immer nett, manches bleibt unverständlich. Als die Eiszwergin auf die Waldzwerge trifft, muss sie sich nicht nur mit komischem Humor – „Wir wollen Dich braten!“ -, sondern auch anderen Sitten – Mützen, die so wichtig sind wie die eigene Haut – und körperlichen Eigenschaften – Waldzwerginnen haben auch Bärte, nur pflegen sie sie besser als ihre männlichen Pendants – auseinandersetzen, sondern rührt auch durch unvorsichtiges Singen eines alten Eiszwergenliedes an alte Wunden und alten Hass. Beides lässt sich nicht auflösen. Pogromstimmung kommt auf. Das Zwergenmädchen muss fliehen, aber eine Waldzwergin hilft ihr dabei.
Eindeutig scheint mit zunehmender Dauer der Zwerginnenreise nur eines: alle Wesen und Gestalten, die Eira trifft, leiden unter den Umweltveränderungen, die der Mensch ohne jede Rücksicht auf seine Um- und Mitwelt vornimmt. „Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“, heißt es bei Sophokles. Der Gletscher schmilzt durch den menschengemachten Klimawandel, das Wasser der Wassergnome wird weniger, weil Menschen einen Staudamm bauen, der Wald wird in großem Stil abgeholzt und Seen werden durch Einleitung von Abwasser verschmutzt.
Utopie tut not
Gegen Ende des Buches lernen Eira und ihre Mutter Halla jedoch auch hier zu differenzieren: nicht alle Menschen sind böse und zerstörerisch. Doch da ist es fast zu spät. In wilder Wut greifen Gnome, Niederzwerge, Moffen, Grashälmchen, Halbflinger und viele, viele andere – „fliehende Völker“, wie Buchfink schreibt – die Menschen an. Lykke Eira hat sie zum Widerstand aufgestachelt: „‚Wir müssen kämpfen! Wir müssen sie verjagen! Die Menschen haben euch alles weggenommen, euer Zuhause zerstört. Das … das …‘ Sie rang nach Worten. ‚Das darf einfach nicht geschehen!’“

So zieht man in die Schlacht – zu spät lernt Lykke Eira Quirm kennen, der wie sie selbst vom Gletscher stürzte, aber von Menschen gefunden und gepflegt wurde und nun bei ihnen lebt. Zu spät versteht Eira, dass Kampf niemals etwas löst. Und anders als in unserer politischen Gegenwart, entfaltet sich in dem Moment, als alles verloren scheint, die Kraft der Kleinsten. Mitten im Kampfgetümmel beginnt Lykke Eira zu singen. „Eira saß mit einer eigentümlichen Ruhe auf ihrem kleinen Grashügel und sang. Wie eine Insel im Sturm, eine Insel des Friedens. Eine Beseeltheit, die dieser Sturm nicht mehr durchdringen konnte.“
Und so wird zu guter Letzt tatsächlich alles wieder gut. Naja, vielleicht nicht alles, aber doch so manches. Ein Vertrag wird geschlossen zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen. Eine Utopie, die das Märchen verbreiten darf. Eine Utopie, ohne die Kinderbücher nicht enden sollten. Eine Utopie, die Erwachsenen hilft, allen Widrigkeiten und Wahrscheinlichkeiten zum Trotz an kontrafaktischen Hoffnungen festzuhalten.
Christoph Buchfink: Lykke Eira. Zwergenreise, Ingelheim am Rhein 2025, 18,– Euro, ISBN 978-3986411800.
Text: Albert Kümmel-Schnur, Bilder: Christoph Buchfink
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