
Der Soziologe Ansgar Hudde hat ein Buch über deutsches Wahlverhalten geschrieben: „Wo wir wie wählen. Politische Muster in Deutschlands Nachbarschaften“. Grundlage seiner Untersuchung sind sämtliche 94.000 Wahlkreise. Ein Teil davon wählt „typischdeutsch“, also wie der Bundesdurchschnitt. Drei andere weichen von diesem Muster ab. Huddes Buch lehrt viel über die politische Kultur in diesem Land.
Das Ergebnis der vorgezogenen Bundestagswahl von 2025 war niederschmetternd. Alle konnten es auf den als Infografiken aufbereiteten Karten sehen: der Westen schwarz, der Osten blau. Und da wir kurz zuvor noch das Desaster eines CDU-Kanzlerkandidaten erlebt hatten, der kein Problem damit hatte, mit den Stimmen der rechtsextremen AfD eine Abstimmung zu gewinnen, sah die Zukunft noch düsterer aus.
Aber ist Pessimismus auf dieser Grundlage berechtigt oder doch eher ein, wie man so sagt, ‚medialer’ Effekt? Wenige Tage nach der Bundestagswahl verbreitete das Kampagnenportal Campact eine Karte, die ganz anders aussah: bunt. Und zwar überall. Das Motto: „Fläche wählt nicht“. Campact stellte der verbreiteten Visualisierung des Wahlverhaltens eine andere entgegen. Diese „Karte stellt stattdessen einzelne Menschen als bunte Symbole dar, verteilt nach Bevölkerungsdichte. Der Titel ‚Fläche wählt nicht’ betont, dass Wahlergebnisse verzerrt wirken können, wenn nur nach Fläche visualisiert wird.“ So konnte man es auf verschiedenen Social-Media-Kanälen lesen. Dass nebenher auf diese Weise nicht nur bunte Vielfalt, sondern sehr viele blaue Figürchen auch im angeblich schwarz-mittigen Westen zu sehen waren, war ein bitterer Nebeneffekt. Frau und man möchte deshalb gern mehr wissen. Dieses Wissen liefert nun der Kölner Soziologe Andreas Hudde.

Fläche wählt nicht
Wie alle anderen auch wurde Andreas Hudde von der vorgezogenen Bundestagswahl überrascht. Sein Buch, das doch noch vor der Wahl erscheinen sollte, konnte potenziellen Käufer:innen als veraltet erscheinen, denn es basierte noch auf statistischen Daten der Bundestagswahl von 2021. Irgendwie musste ein Text über das Wahlverhalten doch der Situation Anfang des Jahres 2025 gerecht werden, sie wenigstens berücksichtigen. Schwierig, weil verwendbare Daten erst Monate nach einer Wahl erscheinen.

Aber gottlob sind einige Wahlkreise doch schneller, „und die Ergebnisse auf gröberer geografischer Ebene liegen ebenfalls sehr früh vor“. So entschloss sich Hudde, diese Daten zur Grundlage einer Analyse der Wahlmuster von 2025 zu nehmen. Trotz „interessante[r] Veränderungen oder überraschender Stabilitäten“ bleiben „die zentralen Muster der politischen Landkarte […] über die Zeit relativ stabil“.
Huddes Analyse liegt das Konzept der Nachbarschaft zugrunde. Nachbarschaft ist eine mittlere Ebene menschlicher Nähe und gesellschaftlicher Verknüpfung. Sie ist loser als Familie und Freundschaften, prägt aber unseren Alltag signifikant mit. Nachbarinnen und Nachbarn – das sind die Menschen von nebenan. Die Leute, bei denen man mal ein fehlendes Ei oder eine Tüte Milch erbittet, wenn beim sonntäglichen Kuchenbacken die Zutaten ausgehen. Die Leute, denen frau und man auf der Straße beim Müllrunterbringen begegnet oder beim Einkauf.
Zwischen ‚Small Talk’ und ‚politischem Gespräch’
Wir wissen manches über unsere Nachbar:innen und diese über uns. Nachbarschaft prägt, ohne eine eigene Identität auszubilden. Oder doch? Immerhin kommt man ja, beim Warten an der Ampel, beim Abholen der Kinder aus der Kita, beim Spiel des lokalen Sportvereins miteinander ins Gespräch.
Wie das Wetter, so ist auch die Politik ein kommunikativ leicht erreichbares Thema. „Die Grenze zwischen ‚Small Talk’ und ‚politischem Gespräch’ ist […] fließend. Man beschwert sich über hohe Spritpreise oder über unzureichende Fahrradwege – und ist schon mit einem Bein in einer hochpolitischen Diskussion rund um Klimawandel, Energiewende, nachhaltige Mobilität, Verbotspolitik, Wirtschaftsförderung und so weiter. Solche Gespräche ergeben sich eher beiläufig, es geht oft gar nicht darum, dass man jemanden politisch überzeugen und überreden will.“

So schnell und intuitiv es einleuchtet, dass Nachbarschaften unsere politische Kultur prägen und unser Wahlverhalten mitbestimmen, so schwierig ist es doch, sie als Analysegrößen zu fassen. Wo fängt eine Nachbarschaft an, wo hört sie auf? Gehört diese Straße, dieser Kiosk, dieser Baum noch dazu? Oder ist das schon: woanders, wer anders, fremd?
Nachbarschaft ist kein scharf umrissener Begriff – vielleicht bezeichnet er ja tatsächlich eine Art mittelvertrauter Nebenmenschlichkeit. Nähe zur eigenen Wohnung ist wichtig. Aber sie ist nicht das einzige Kriterium, rein geografisch wird man ihn nicht stabilisieren können. Schließlich ist auch der Nahraum, in dem man Leute trifft, immer nur in Beziehung zum gesamten Raum, den man mit anderen teilt, definierbar. In Siedlungen, in denen das Eigenheim als Lebensmodell vorherrscht, sind Nachbar:innen tatsächlich nur diejenigen, die unmittelbar angrenzend wohnen. Die Straße mag in Kleinstädten einen Bezugsrahmen darstellen, und wer über „europäische Nachbarn“ redet, meint die Länder, mit denen Deutschland Grenzen teilt, Frankreich etwa oder Polen.
Wo fängt eine Nachbarschaft an, wo hört sie auf?
Um Nachbarschaft zur Analysekategorie zu machen, muss man also pragmatisch vorgehen. Hudde nimmt trotz allen willkürlichen Zuschnitts die Wahlbezirke als Basis und ergänzt die für diese verfügbaren Zahlen durch persönliche Gespräche und Ortsbegehungen – besonders aufschlussreich sind hier die Fotostrecken, die dem Buch beigegeben sind und Städte wie Gera oder Herford in Straßenzügen und Plätzen dokumentieren. Schnell wird auf diese Weise deutlich, wie vielfältig das Gesicht einer einzigen Stadt sein kann, über wie viele (oder auch: wie wenige) Nachbarschaften, mithin Angebote des ganz konkret-alltäglichen Miteinanders, sie verfügt.

Zentral ist dabei Huddes Befund, dass die westdeutschen Kleinstädte am ehesten das Wahlverhalten im gesamten Bundesgebiet wiedergeben. Diese Beziehung bezeichnet Hudde als „typischdeutsch“. „Etwa zwei Drittel der Menschen leben in Typischdeutschland-Nachbarschaften, die meisten davon in westdeutschen Klein- und Mittelstädten.“ Typischdeutsch ist also für ihn ein Begriff, der einen statistischen Befund wiedergibt, keine Norm, kein Ideal. Gleichzeitig verweist er darauf, dass das in jeder (also z.B. auch in der Sozialstruktur) Durchschnittliche und dadurch Unauffällige der westdeutschen Kleinstädte zum impliziten Referenzpunkt politischer Diskurse in Deutschland geworden ist. Er bestätigt damit die Befunde des Soziologen Steffen Mau, der gezeigt hat, „wie nach der Wiedervereinigung westdeutsche Verhältnisse stillschweigend als Normalfall und Maßstab gesetzt wurden“.
Die Perspektive Huddes ist also, das bundesdeutsche Gesamtwahlverhalten in der Spiegelung konkreter Wahlbezirke wiederzufinden und so Muster des Abweichens definieren zu können.
Es handelt sich um drei andere Muster.
Da gibt es das konservative Muster, das eine Bevorzugung von Parteien der rechten Mitte (v.a. Union und Freie Wähler), aber jenseits der AfD, dokumentiert. Beim Betrachten der entsprechenden Verteilungskarte fällt auf: das ist im Wesentlichen Bayern, genauer noch Altbayern.
In den fünf ostdeutschen Ländern (wenn man Berlin als Sonderfall ausklammert) herrscht ein Muster des Fehlens sogenannter ‚Mitte‘. Hudde nennt es das „AfD-trifft-Linke-Wahlmuster“ und schreibt, dass es an Orten dieses Musters besonders schwierig sei, Regierungen zu bestimmen und Mehrheiten zu organisieren.
Schließlich gibt es noch das „Grün-Links-Wahlmuster“, das ausschließlich Städte mit Universitäten betrifft. Diese Nachbarschaften sind zwar für auch für bestimmte Gegenden von Metropolen wie Hamburg oder Berlin typisch. Die „Top-Ten-Liste an Orten mit dem höchsten Anteil an Grün-Links-Nachbarschaften“ liest sich jedoch anders: „Tübingen, Freiburg im Breisgau, Heidelberg, Göttingen, Darmstadt, Marburg, Oldenburg, Konstanz, Gießen und Münster“.

Heißt ‚konservativ‘ noch ‚wertbeständig‘
Angesichts der zunehmenden Orientierung fast aller Parteien an aktuellen politischen Dynamiken anstelle von längerfristigen politischer Programmatik hätte ich mir gewünscht, noch etwas mehr zu erfahren, was Wählerinnen und Wähler auf lokaler Ebene eigentlich unter der durch den Wahlentscheid (also nicht durch ein Parteibuch) dokumentierten Parteienpräferenz verstehen. Heißt ‚konservativ‘ noch ‚wertbeständig‘ oder heißt ‚konservativ‘ irgendetwas zwischen ‚neoliberal‘ und ‚rechtsradikal‘ und wenn dem so sein sollte, wie verteilen sich dann diese Auffassungen quer durch die Nachbarschaften? Repräsentieren die Parteien überhaupt noch, was ihnen Bürgerinnen und Bürger an Werten und gewünschtem politischem Verhalten unterstellen? Oder sind sie bloß noch taktisch an Machterhalt interessiert und orientieren ihre politische Positionierung entsprechend? So war es doch auffällig, dass bei der letzten Bundestagswahl nur die Linke sich konsequent dem Migrationswahlkampf von rechts verweigert hat.
Interessant in diesem Zusammenhang ist die Beobachtung Huddes, dass konservative Wähler:innen sich eher als „bodenständig“ und „traditionsbewusst“ denn als „konservativ“ einschätzen. Das lässt sich angesichts der zunehmenden Unklarheit, was „konservativ“ eigentlich noch heißen soll, durchaus verstehen. Bodenständig bedeutet, einen Bezug zu haben zu der ganz konkreten Region, die man bewohnt, bedeutet aber eben deshalb auch, durchaus umweltbewusster und technologieoffener zu leben, als das konservative Parteien auf Bundesebene propagieren. Man will eben das, was man schätzt, auch tatsächlich erhalten. Grüne Themen haben hier also eine Chance, die Grünen eher nicht. Eben deshalb schätzt man wohl auch das Marktschreierische der AfD nicht. Das gilt für konservative Gegenden NRWs und Niedersachsens sogar stärker noch als in Bayern: hier „landet die AfD […] nur im Bereich von 5 Prozent“.

Das wiederum ist in den ostdeutschen Bundesländern anders: Radikalisierung ist hier eher üblich. 66 Prozent der ostdeutschen Wahlbezirke zählt Hudde zum AfD-trifft-Linke-Wahlmuster, „in Dörfern, Klein- und Mittelstädten ohne Universität sind es dagegen 84 Prozent“. Die Typologie des „AfD-trifft-Linke-Wahlmusters“ muss erläutert werden, denn auch sie ist – genau wie beim „Typischdeutschen“ – eine rein statistische. So suggeriert zwar der Titel, dass hier Linke und Rechtsradikale einander etwa gleichstark gegenüberstehen (Weimar lässt grüßen!), aber so ist es nicht (und auch nicht gemeint). Die Linkspartei wie die AfD erhalten nur mehr Prozentpunkte als im Bundesdurchschnitt – und die anderen weniger, was Koalitionen sehr schwierig macht. Das heißt konkret, dass auf der linken Seite etwa (Erinnerung: Stand 2021!) 14 Prozent der Wähler:innen stehen, während ca. 27 Prozent auf der rechtsradikalen stehen. Ebenfalls erwähnenswert ist das im Bundesvergleich höhere Durchschnittsalter in solchen Bezirken. Das Entscheidende solcher Nachbarschaften scheint jedoch die geringere Bereitschaft zur Kommunikation untereinander und die hohe Schwierigkeit bei der Bildung tragfähiger Kompromisse.
Schurke Großstadt
„Ein besonders populärer Schurke in rechtspopulistischen Narrativen ist die große Stadt“, zitiert Ansgar Hudde Lukas Hafferts Buch „Stadt Land Frust“. Die große Stadt ist seit biblischen Zeiten gleichermaßen Gegenstand der Faszination wie der massiven Abwehr – im biblischen Fall durch die in den Steppen des fruchtbaren Halbmonds lebenden Hirtennomaden. Die Verkommenheit der großen Stadt als Verkörperung der „Hure Babylon“ finden die Rechtsradikalen von heute gerade nicht in Rotlichtmilieu und Kriminalität, sondern eben dort, wo beides eher abwesend ist: bei den wohlhabenden ‚Woken‘, die links oder, schlimmer noch, grün wählen. Dabei finde ich interessant, dass Hudde auch die SPD zu den „Parteien links der Mitte“ zählt, obwohl die Sozialdemokratie seit dem Brioni-Basta-Kanzler in einer Dauerkrise ist und ihre Stammklientel bereits größtenteils verloren hat. Wahrscheinlich ist es jedoch sehr schwierig, ein Auseinandertreten zwischen programmatischen Behauptungen und realer politischer Praxis analytisch einzufangen.

Ein typisches grün-linkes Wahlmuster entdeckt Hudde in Köln-Ehrenfeld: „45 Prozent an die Grünen, 19 Prozent an die SPD und 10 Prozent an die Linke“. Der Stadtteil wird genauso charakterisiert, wie man sich ihn vorstellt: noch nicht durchgängig gentrifiziert, eher jung, gut gebildet, kinderreich und migrantisch. Selbst die Stadt Köln bewirbt diesen Stadtteil als „multikulti“. Aber hier streut Hudde eine erhellende Information ein: Ehrenfeld ist, statistisch gesehen, für Kölner Verhältnisse eher unterdurchschnittlich migrantisch geprägt. Vielleicht, so vermutet Hudde, können viele der in Ehrenfeld Arbeitenden sich die steigenden Mieten des ‚hippen‘ Stadtviertels nicht mehr leisten. Gerade diese kleinen Aha-Momente machen Huddes Buch so lesenswert.
Und so bleibt Hudde auch nicht bei der Analyse von Köln-Ehrenfeld stehen, sondern nimmt zum Vergleich noch die Viertel Sülz und Kalk hinzu, die sozialstrukturell verschiedener nicht sein könnten und dennoch beide dem grün-linken Wahlmuster folgen. Mit kleinen Abweichungen: „Je privilegierter die Sozialstruktur, desto höher der Anteil der Grünen; je weniger privilegiert, desto höher der Anteil der Linken.“ Und auch bei dieser nicht ganz überraschenden Schlussfolgerung belässt es Hudde nicht, sondern korreliert sie mit der Wahlgänger:innenstatistik: „In Sülz liegt die Wahlbeteiligung bei 88 Prozent, in Kalk nur bei 64 Prozent.“

Es sind diese aufschlussreichen Ergänzungen und Korrekturen an den selbstentwickelten Deutungsmustern, die Huddes Analysen nie schematisch werden lassen. Intensiv arbeitet er sich etwa am Kölner Promiviertel Hahnwald ab, einem von Patrouillen eines privaten Sicherheitsunternehmens geschützten Villenviertel der Reichen und Berühmten. Eine Zahl genügt, um zu erläutern, warum sich Hahnwald tatsächlich von 99,9 Prozent aller anderen Wahlbezirke unterscheidet: 27 Prozent wählten 2021 die FDP. Hudde will den Hahnwaldern keine eigene Kategorie zubilligen und schlägt sie deshalb – aus meiner Sicht unbegründet – Typischdeutschland zu. Nun ja – das aber ist ja das Problem mit den Reichen und Berühmten: dass sie eben doch eine leider ernst zu nehmende eigene Kategorie darstellen.
Von Hahnwald nach Chorweiler
Es gehört zu den Stärken des Buches, dass auf den Besuch in Hahnwald einer in Chorweiler folgt und dass das dort beobachtete Wahlmuster – „AfD-trifft-Linke“ – in Beziehung zur mit 40 Prozent extrem unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung gesetzt wird. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass vielen Bewohner:innen ihr Staatsbürgerschaftsstatus eine Beteiligung an der Wahl unmöglich macht.

Für das Chorweiler-Kapitel wird auch die Bedeutung des scheinbar Anekdotischen einer persönlichen Begegnung klar: ein älterer Herr lädt Ansgar Hudde spontan zu einem Stadtrundgang ein. Diese Führung korrigiert manches Klischee. Und man erhält, ganz en passant, einen Eindruck, wen die sogenannte repräsentative Demokratie repräsentiert – und wen eben nicht.
Ansgar Hudde schreibt klar und auch für nicht-akademische Leser:innen verständlich. Fachbegriffe, insbesondere im nötigen methodischen Teil (man will ja schließlich wissen, wie der Autor zu seinen Daten gekommen ist), werden vorbildlich erläutert. Die Analysen werden immer wieder durchbrochen von plastischen Beschreibungen von Straßenzügen, Plätzen und Stadtvierteln sowie persönlichen Erlebnissen, insbesondere mit den Menschen, mit denen er bei seinen Besuchen vor Ort ins Gespräch kam.
Nicht alle Ergebnisse des Buches überraschen indes. Manches enttäuscht – so sind mir die Gesprächsminiaturen manchmal etwas zu sehr verknappt – da wird die Skizze schnell zu einer Art die quantitative Analyse bestätigendem Lokalkolorit.
Deutschland ist weniger polarisiert als es scheint
Das wichtigste Ergebnis Huddes ist jedoch, „dass die Mehrzahl der Menschen Deutschlands in Nachbarschaften wohnt, in denen das Wahlverhalten nicht allzu weit vom Bundestrend abweicht“. Das bedeutet im Kern: Deutschland ist weniger polarisiert als es scheint. Deutschland ist deutlich durchmischter – der Alltag der meisten Menschen wird von der Begegnung mit Menschen, die politisch anders denken als sie, bestimmt. Und das ist gut so. Verbunden mit diesem Ergebnis ist ein zweites: Träger von Typischdeutschland ist weder die Großstadt noch das Land. Träger sind die Klein- und Mittelstädte ohne Universität. Letzteres gibt einem wie mir, der sein ganzes Berufsleben an Universitäten verbracht hat, zu denken.

Mir fehlt allerdings die Einbeziehung der Nachbarschaften, die unsere digitalen Räume, allen voran die Social-Media-Plattformen, bilden. Mir stellt sich die Frage, wie diese Plattformen die realen Räume mit ihren direkten zwischenmenschlichen Begegnungen überlagern und inwieweit sie jenes Durchschnittlich-Typische des realen Raumes durchkreuzen. Gibt es das im Virtuellen überhaupt?
Bis einschließlich Seite 190 beziehen sich die Analysen Huddes auf die Bundestagswahl von 2021. Ein 16-seitiges Schlusskapitel widmet er der Frage, ob sich seitdem etwas strukturell geändert hat. Die Antwort darauf ist ein bestimmtes, wenngleich nicht unhinterfragtes ‚Nein‘.
Zu den offenen Fragen zählen die nach der zunehmenden Normalisierung und Akzeptanz der AfD und der künftigen Entwicklung des BSW. Wird das „AfD-trifft-Linke-Wahlmuster“ auch in Westdeutschland weiter Fuß fassen? Das „Grün-links-Wahlmuster“ wird weiterhin in den Universitätsstädten stabil bleiben, meint Hudde, aber möglicherweise immer stärker politische Inseln kreieren, „in denen man die allgemeine politische Stimmung in der Republik kaum mehr mitbekommt“.
Umso wichtiger wird es sein, dass Journalistinnen und Journalisten, aber auch Sozial- und Politikforscher:innen an Orte wie Herford gehen, um einen Eindruck von der Lage der politischen Situation in Deutschland zu bekommen.
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Ansgar Hudde: Wo wir wie wählen. Politische Muster in Deutschlands Nachbarschaften, Frankfurt/New York: Campus 2025, 32,– Euro.
Die Fotografien sind auf einer Wanderung entstanden, die mich im Januar 2014 von Höxter in Ostwestfalen nach Konstanz führte – von meiner alten in meine neue Heimat, quer durch Deutschland. Die Reise folgte keinem Plan, sondern einfach einem geraden Strich auf der Landkarte, der mich von Norden nach Süden geleitete. Ich hatte damals den Eindruck, dass diese Wanderung mir Deutschland ganz anders gezeigt hat, als ich es bis dahin wahrgenommen hatte.


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