Krumbach © Miro Kuzmanovic

„Sie hatten einfach genug vom Krieg“ – Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg

Krumbach © Miro Kuzmanovic
Krumbach im Vorderen Bregenzerwald, Foto: Miro Kuzmanovic

Vorarlberg war im Zweiten Weltkrieg ein Hotspot von Deserteuren aus dem gesamten Deutschen Reich. Die vermeintlich leicht zu überwindende Grenze zur neutralen Schweiz lockte hunderte Kriegsverweigerer an Alpenrhein und Bodensee. Das Buch „Flucht vor dem Krieg“ widmet sich diesen Männern und ihren Helfer:innen, die ihre „Pflicht“ gegenüber dem NS-Regime nicht (mehr) erfüllen wollten.

Der neue Sammelband in der Reihe „Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs“ bündelt die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Deserteure der Wehrmacht, Verweigerungsformen, Verfolgung, Solidarität und Vergangenheitspolitik in Vorarlberg“ am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Erstmals wurde das Desertionsgeschehen in Vorarlberg systematisch untersucht und in einem interregionalen Vergleich (mit Tirol und Südtirol) im Überblick dargestellt. Herausgegeben wurde der Band von Ingrid Böhler (Institutsleiterin) und Peter Pirker, dem auch die Federführung des Forschungsprojekts oblag. Weiter wirkten Aaron Salzmann, Isabella Greber, Nikolaus Hagen, Lydia Maria Arantes und Erika Moser als Autor:innen mit.

Neben gelungenen Fluchten werden auch die Verfolgung durch die zivile Sonderjustiz und die Militärjustiz, Solidarität und Denunziation seitens der Bevölkerung, die Aufnahme in der Schweiz sowie der Umgang mit den ungehorsamen Soldaten und Helfer:innen durch die österreichischen Sozial- und Justizbehörden in der Nachkriegszeit untersucht. Ein eigenes Kapitel ist 55 Soldaten gewidmet, für die der Versuch, sich dem Dienst aus der Wehrmacht zu entziehen, tödlich endete. Mittels Fallstudien werden zudem persönliche Schicksale (Familie Burtscher, Martin und Maria Lorenz, die Brüder Erwin, Kurt und Fritz Müller) und Geschehnisse in bestimmten Gemeinden (Krumbach im Bregenzerwald, Sonntag im Großen Walsertal) vorgestellt. Zahlreiche historische Fotos und aktuelle Aufnahmen von damaligen Schauplätzen illustrieren den Band.

Herkunft der Deserteure © Mathias Breit
Herkunft von Deserteuren aus Vorarlberg, Grafik: Mathias Breit

Erforschung des Desertionsgeschehens

Forschungen zur Praxis des Desertierens sind relativ jung. Etwa ein bis zwei Prozent der zur deutschen Wehrmacht Einberufenen verweigerten den Kriegsdienst von vorn herein oder begingen zu einem späteren Zeitpunkt Fahnenflucht – eine kleine Minderheit nur. Erst in den 1990er- und 2000er-Jahre rückte diese Gruppe ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Und erst 2009 – nochmals sieben Jahre später als in der Bundesrepublik Deutschland, zu einem Zeitpunkt als viele Betroffene bereits verstorben waren – wurde „ein Gesetz zur generellen Rehabilitierung und Anerkennung von Wehrmachtsdeserteuren und anderen von der NS-Militärjustiz verfolgten Personen als Opfer von NS-Unrecht“ verabschiedet (Pirker, S. 11). Grund für diese späte Debatte zur Rehabilitierung ist, dass (auch) die österreichische Nachkriegsgesellschaft„über Jahrzehnte hinweg von pflichtbewussten Veteranen geprägt“ war (Pirker, S. 130). Aufhebungen von Urteilen gegen Deserteure und Helfer:innen nach Kriegsende hatten keine Öffentlichkeitswirkung. Im Gegenteil (und nicht anders als in Deutschland): Im Kontext des Kalten Krieges erfolgte eine Weißwaschung der Wehrmacht. Kameradschaften und Veteranenverbände bestimmten die Erinnerungskultur. „Pflichterfüllung bis zuletzt“ galt als Tugend. Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern – in der NS-Zeit als „Schädlinge“ diskreditiert – haftete weiter das negative Image als „feige Verräter“ an.

Deserteure in der Grenzregion Vorarlberg

653 Fälle von Desertation und Verweigerung konnten im Rahmen der Studie gefunden werden. 256 Fahnenflüchtige waren Vorarlberger Einheimische. Etwa zwei Dritteln der Einheimischen gelang – oft dank Ortskenntnis und Unterstützung aus dem eigenen sozialen Umfeld – die Flucht. Von den 397 Ortsfremden stammte etwa die Hälfte aus Deutschland. Sie wählten den Weg über Vorarlberg, um von dort – zumeist über den Rhein – in die Schweiz oder nach Liechtenstein zu gelangen. Ihre Fluchtversuche waren nur zu etwa 30 Prozent erfolgreich. Einheimische, vor allem aus dem Bregenzerwald, dem Großen Walsertal und dem Montafon begaben sich dagegen oft in ihrem waldreichen und gebirgigen Heimatgebiet in den Untergrund und blieben damit in ihrer sozialen Umgebung. Vorarlberger Deserteure – so ein weiteres Ergebnis der Fallsammlung – waren überwiegend (Land-)Arbeiter und Handwerker. Das Gros war zwischen 26 und 40 Jahre alt. Über 60 Prozent der eruierten Deserteure hatten ein bis vier Jahre Kriegserfahrung hinter sich. Die meisten waren an der Ostfront, viele im hohen Norden an der „Eismeerfront“ eingesetzt. So vielfältig die persönlichen Motive für die Entscheidung, sich dem Kriegsdienst zu entziehen auch waren, auf einen Nenner gebracht, lauten sie: Man hatte genug vom Krieg und seinem Grauen! Heimaturlaube und Lazarettaufenthalte gaben oft den Anstoß zu dieser Entscheidung. Manche Deserteure gingen auch in den offenen und aktiven Widerstand.

Das Bruggerloch bei Hoechst © Miro Kuzmanovic
Das Bruggerloch bei Höchst © Miro Kuzmanovic

55 Fluchtversuche, die tödlich endeten

55 Kurzbiografien berichten über das tragische Schicksal der Soldaten, denen die Flucht nicht gelang: Die entweder bei ihrem Fluchtversuch getötet oder verhaftet wurden und u.a. wegen Hochverrats hingerichtet wurden oder in einem Zuchthaus oder Konzentrationslager verstarben. Unter ihnen der Bergbauernsohn Wilhelm Burtscher aus der Gemeinde Sonntag-Küngswald: Gemeinsam mit seinem Bruder Leonhard und Martin Lorenz, dem Freund ihrer Schwester Delphina, beschloss er im Herbst 1943 aus dem Heimaturlaub nicht mehr an die Front zurückzukehren, sondern in den Bergen des Großen Walsertals das Kriegsende abzuwarten. Unterstützt und versorgt wurden sie in ihren Verstecken auf Maisäßen und Alpen von der Familie und anderen Dorfbewohnern – bis im Juli 1944 ihr Versteck aufflog. Leonhard Burtscher entkam der Verhaftung. Sein Bruder Wilhelm und Martin Lorenz wurden festgenommen und wegen Fahnenflucht und Hochverrat zum Tode verurteilt.

Familie Burtscher auf der Alpe Wang, Gemeinde Sonntag im Großen Walsertal, 1939, Foto in Familienbesitz
Familie Burtscher auf der Alpe Wang, Gemeinde Sonntag im Großen Walsertal, 1939, Foto in Familienbesitz

Helfer:innen und NS-Funktionsträger

Viele Fluchten waren nur dank der Solidarität von Familienmitgliedern und Unterstützer:innen aus dem lokalen Umfeld möglich. Insbesondere den aktiven Beitrag, den vielfach Frauen, die Soldaten versteckten und versorgten, dabei leisteten, hebt die Recherche als eines ihrer wichtigsten Ergebnisse hervor. Aber auch das ambivalente Handeln von Gendarmen, Zöllnern und NS-Funktionsträgern war entscheidend für das Gelingen oder Scheitern von Fluchten.

„Deserteursgemeinde“ Krumbach

Ein eigenes Kapitel (Greber/Pirker, S. 275 ff.) behandelt das bäuerlich-katholisch geprägte Dorf Krumbach im Bregenzer Wald, das mit rund 650 Einwohner:innen durch die anteilsmäßig hohe Zahl von 14 Deserteuren unter etwa 160 Wehrpflichtigen auffällt. Warum dies so war, wer diese Deserteure waren, wie sie das Kriegsende erlebten, ist Thema dieser Mikrostudie. Ermöglicht jedenfalls wurden die Fluchten auch, weil lokale NS-Funktionsträger bewusst eigene Handlungsspielräume nutzten, um es an Verfolgungseifer mangeln zu lassen, wegzuschauen, Anzeigen zeitlich zu verschleppen – bis sie 1943 selbst verhaftet oder an die Front versetzt wurden.

Sondergericht Feldkirch

Anders hingegen erging es der Deserteursgruppe von Sonntag im Großen Walsertal. Die dramatische Geschichte ihrer Flucht und Verfolgung durch Gendarmerie und Gestapo konnte im Verlauf der Forschungen anhand bis dahin verloren geglaubter Akten des Sondergerichts Feldkirch genau rekonstruiert werden. Die Deserteure Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz wurden vom Reichskriegsgericht als „skrupellos und gewalttätig“ dämonisiert und zum Tode verurteilt. Ihre Angehörigen wurden als Helfer:innen vom zivilen Sondergericht Feldkirch als „egoistisch und gemeinschaftsschädlich“ abgeurteilt und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Besonders hart traf es die 16-jährige Delphina Burtscher, Wilhelms Schwester und Freundin von Martin Lorenz, von dem sie ein Kind erwartete. Sie wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, weil sie „fahnenflüchtigen Soldaten durch Gewährung von Aufenthalt, Verbergung und Verabreichung der Verpflegung hilfreiche Hand geboten und damit die Ausforschung und Wiedereinbringung derselben erschwert“ habe (Arantes/Moser, S. 335).

Gerichtspersonal, Spruchpraxis, Handlungsspielräume des Sondergerichts Feldkirch untersucht ein weiterer Beitrag im Buch (Pirker/Salzmann, S. 237 ff.). Dabei ließen sich – leider wenig überraschend – auch Beispiele für „nahezu nahtlos fortgesetzte Juristenkarrieren“ nach 1945 aufzeigen.

Opferfürsorge in der Nachkriegsgesellschaft

Zur zentralen Fragestellung des Forschungsprojekts gehörte auch, wie sich der Umgang mit Deserteuren und ihren Unterstützer:innen in der Nachkriegsgeschichte gestaltete. Zwar erfolgte eine „formelle juristische Rehabilitierung und Anerkennung als Freiheitskämpfer bzw. deren Unterstützer:innen in den Jahren 1945/46“ (Pirker, S. 170). Was aber die gesellschaftliche Akzeptanz und die Zuerkennung der Opferfürsorge anging, zeigt sich ein ernüchterndes und beschämendes Bild. Hoch war die moralische Messlatte, die zuständige Behörden und Gerichte im Rahmen der Opferfürsorge für die Bewilligung von Haftentschädigung, Witwen- und Waisenrenten oder anderer finanzieller Unterstützung anlegten. Nur politische Motive wollte man gelten lassen. Über 70 Prozent aller Anträge wurden negativ beschieden. Angeblich hätten die Antragsteller:innen einzig aus persönlichen, egoistischen Motiven agiert.

Delphina Burtscher 1938 © Familienbesitz Arantes
Delphina Burtscher im Alter von zwölf Jahren (1938), Foto in Familienbesitz

So wurde der Antrag von Delphina Burtscher zurückgewiesen mit der Begründung, einzig ihre Liebesbeziehung zu Martin Lorenz sei das Motiv ihres Handelns gewesen. Ihrer Tochter wurde als Kind eines hingerichteten Widerstandskämpfers die Waisenrente verwehrt.

Die bitterarme Mutter von Martin Lorenz, die bereits im Ersten Weltkrieg ihren Mann verloren hatte und nur von einer kleinen Witwenrente und einer Kuh lebte, erhielt ebenfalls keine Unterstützung aus der Opferfürsorge. Die Begründung: Die Fahnenflucht ihres Sohnes könne „nicht als Einsatz im Kampf für ein freies, demokratisches Österreich gewertet werden. Die Verfolgung durch die Wehrmachtsjustiz wurde gewissermaßen als gerechtfertigt anerkannt“ (Pirker, S. 170). Ein Grund für die vielen negativen Bescheide: Das Personal der „Fürsorgeabteilung“ setzte sich noch überwiegend aus in der k.u.k.-Monarchie ausgebildeten Beamten, NSDAP-Mitgliedern und Wehrmachtsveteranen zusammen, die folglich keinerlei Ehrgeiz an den Tag legten, Deserteure und NS-Verfolgte zu entschädigen, so ein weiteres Fazit der Recherche.

„Mein Vater der Deserteur“

Bis Mitte der 2000er-Jahre waren Namen und Biografien von abtrünnigen Soldaten in der österreichischen Öffentlichkeit kaum bekannt. Anders war es in den Familien selbst: Angehörige und Verwandte von verstorbenen Deserteuren berichteten, dass nicht nur Verbitterung und „nicht bloß Schweigen vorherrschte“, sondern auch positiv über die eigene Flucht aus der Wehrmacht berichtet wurde. (Pirker S. 155 ff.)

Eine entscheidende Wende in der Öffentlichkeit brachte schließlich 2011 die Wanderausstellung „Was damals Recht war …“ in Dornbirn. Und seit 2015 erinnert in Bregenz ein Mahnmal an Vorarlberger:innen, die gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime Widerstand geleistet haben. Darunter auch Namen von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren.

Ein engagiertes Forschungsprojekt mit Lebensgeschichten, die berühren

Die abenteuerliche Flucht der Brüder Erwin, Kurt und Fritz Müller übers Montafoner Rellstal und das 2000 Meter hoch gelegene „Schweizertor“ nach Graubünden (Hagen, S. 303 ff.) und die sehr persönlichen Erinnerungen von Erika Moser und Lydia Maria Arantes an ihre Mutter bzw. Großmutter Delphina Burtscher (S. 331 ff.) sind zwei weitere Kapitel des Buches.

Im Mittelpunkt der Mikrostudie über die Flucht der drei Brüder stehen deren „familiäre, soziale, militärische und geografische ‚Erfahrungsräume‘, die zur Fahnenflucht führten“.

Rellstal Schweizertor © Miro Kuzmanovic
Rellstal – Schweizertor, Foto: Miro Kuzmanovic
Einband "Flucht vor dem Krieg", UVK
„Flucht vor dem Krieg“ © UVK Verlag

Delphina Burtscher (1926–2008) selbst hat ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben, die 2005 veröffentlicht wurde. In Dialogform erinnern sich Tochter und Enkelin an ihr „Omile“ als eine trotz allen erfahrenen Leids und so vieler Widrigkeiten starke und fröhliche Frau.

Auf 373 Seiten haben die Autor:innen von „Flucht vor dem Kriege“ ihre detaillierten, in langjähriger Forschungsarbeit akribisch recherchierten Daten zusammengestellt und analysiert. Ein wichtiges Buch für Historiker:innen. Die vielen persönlichen Lebensgeschichten, die es wie einen roten Faden durchziehen und einem selbst nahegehen, machen es aber zugleich zu einem sehr zu empfehlenden Lesebuch.

Peter Pirker, Ingrid Böhler (Hrsg.)
Flucht vor dem Krieg
Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg
ISBN 978-3-381-10511-3
UVK Verlag, 373 Seiten gebunden, € 22,00
Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs, Band 15

Weitere Informationen

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Außerdem lesenswert:

  • Markus Barney/Thomas Gamon (Hg.), Delphina Burtscher. Meine Lebensgeschichte. Nenzing, 2015
  • Alfons Dür, Unerhörter Mut. Eine Liebe in der Zeit des Rassenwahns, Innsbruck 2012. Der frühere Präsident des Landgerichts Feldkirch dokumentiert die tragisch misslungene Flucht des Kölners Heinrich Heinen und seiner jüdischen Freundin Edith Meyer (s. auch Pirker, S. 214 f.)
  • Berg als Rettung

Text: Uta Preimesser. Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck

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