
Vor über fünf Jahrzehnten traten in der damaligen Bundesrepublik mehrere Hunderttausende Beschäftigte in „wilde“ Streiks – unter ihnen viele Migrant:innen. Die politische Rechte tobte, die konservativen Medien hetzten, der Rassismus war allgegenwärtig. Und doch veränderten die Kämpfe die Gesellschaft. Wie das geschah und was die Auseinandersetzungen bewirkten, ist jetzt in einem Buch nachzulesen.
Sie waren massenhaft ins Land gekommen – angelockt von der Aussicht auf eine bessere Zukunft und von Zusagen einer Regierung, die im Auftrag der Industrie in der Nachkriegszeit neue Arbeitskräfte anlockte. Und doch machten sich viele nicht ganz freiwillig auf die Reise in ein Land, in dem das völkische Denken aus der Zeit des Nationalsozialismus noch längst nicht überwunden war: Die meisten wollten Armut und Hunger hinter sich lassen wollten, andere flüchteten vor den repressiven Regimes in Spanien, Portugal oder Griechenland.
Dann waren sie da: ab 1955 Arbeitskräfte aus Italien (mit Rom hatte die CDU-Regierung von Konrad Adenauer das erste „Anwerbeabkommen“ geschlossen), ab 1960 folgten Beschäftigte aus Spanien und Griechenland und später – nachdem der Mauerbau die Zuwanderung aus der DDR stoppte – aus der Türkei, aus Marokko, Portugal, Jugoslawien …
Was von den damaligen Migrant:innen erwartet wurde, war eindeutig (und entsprach im wesentlichen dem, was sich viele in der heutigen Gesellschaft noch erhoffen): Die „Gastarbeiter“, wie man sie damals genannt wurden, sollten gesund und fleißig sein, möglichst nicht auffallen, keine Folgekosten verursachen und dankbar alles hinnehmen. Oder wie es das wirtschaftsnahe Handelsblatt in den 1960er Jahren formulierte: „Wir wären froh, wenn wir in unserem Land nicht gezwungen wären, soviel Ausländer fern der Heimat beschäftigen zu müssen. Nun sind Sie aber da, wir brauchen Ihre Hilfe, und Sie sollen es gut haben, wie es eben geht, so gut wie es ein Gast erwarten darf.“
Der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB wiederum machte noch 1975 klar, wer für ihn wichtig ist: „Diejenigen, die glauben, dass die deutschen Gewerkschaften (…) eine Politik machen würden, die zuließe, dass es Millionen deutsche Arbeitslose gibt, während die Ausländer in Arbeit sind, irren.“
Viele „wilde“ Streiks
Doch es kam anders. Die Arbeitsmigrant:innen nahmen den allgegenwärtigen Rassismus und die miserable Behandlung in der Wirtschaft nicht einfach hin. Bereits 1962 legten bei VW in Wolfsburg italienische Beschäftigte die Arbeit nieder; sie protestierten mit ihrem spontanen Ausstand vor allem gegen die erbärmliche Unterbringung und die Ausbeutungsverhältnisse – und konnten etwas anständigere Arbeitsbedingungen und ein besseres Betriebsklima durchsetzen.
Überhaupt waren damals sogenannte wilde Streiks eher die Regel als die Ausnahme: Von 1956 bis 1963 fanden zwei Drittel und von 1964 bis 1968 rund achtzig Prozent aller Arbeitsniederlegungen spontan und irregulär statt – also ohne Vermittlung der Gewerkschaften. Die Bedingungen, unter denen vor allem die ausländischen Kolleg:innen litten, waren ja auch hart.
Das zeigte sich beispielsweise während und nach der ersten Wirtschaftskrise 1966/67, die zu einem massiven sozialen und politischen Einbruch und zu Massenentlassungen führte. Zu den Folgen gehörte einerseits die von rechten Medien orchestrierten rassistischen Hetzkampagnen gegen die Arbeitsmigrant:innen, die die neonazistische NPD beflügelte (sie erzielte bei den baden-württembergischen Landtagswahlen 1968 knapp zehn Prozent der Stimmen). Und andererseits wurden viele derer, die das deutsche Kapital vermeintlich nicht mehr brauchte, abgeschoben: Rund 400.000 Migrant:innen verließen damals die BRD – die allermeisten unfreiwillig.
Klassenkämpferischer Aufschwung
Die Stimmung im Land änderte sich erst Anfang der 1970er Jahre, als wieder Arbeitskräftemangel herrschte. Zu diesem Zeitpunkt hatte die 1968er Bewegung erste gesellschaftliche Veränderungen bewirkt (die marxistische Klassentheorie wurde wieder ernst genommen); zudem war in ganz Europa ein Aufbruch spürbar: In Italien und Frankreich gab es beispielsweise zahlreiche Arbeiter:innenkämpfe, die zum Teil in Fabrikbesetzungen bei Fiat in Turin oder Betriebsübernahmen wie bei Lip in Besanḉon mündeten.
Auch in der BRD ließen sich die Arbeiter:innen nicht mehr alles gefallen. So kam es, dass 1973 fast 300.000 Beschäftigte genug hatten und in insgesamt rund 330 „wilden“ Streiks ihre Forderungen durchsetzten oder durchzusetzen versuchten – ohne Urabstimmung und zum Teil gegen den Willen der Gewerkschaftsführungen. Dabei gab es schmerzliche Niederlagen wie bei Ford in Köln. Aber auch ganz ungewöhnliche Erfolge.
Mit diesen Ausständen beschäftigt sich detailliert das Buch „Der Streik hat mir geholfen, als junger Mensch Kraft aufzubauen – Migrantische Kämpfe gegen Ausbeutung und Rassismus“, das im Berliner Verlag Die Buchmacherei erschienen ist. Der Band basiert auf einer Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung (seemoz berichtete) und auf Referaten und Diskussionen einer Konferenz, die fünfzig Jahre nach dem migrantischen Aufbruch organisiert worden war. Wer wissen will, wie die Kämpfe entstanden, wer damals eine Rolle spielte, unter welchen Bedingungen sie geführt wurden, was sie bewirkten und welche Lehren für den betrieblichen und gesellschaftlichen Widerstand heute noch daraus gezogen werden können, findet kaum eine bessere Quelle.
Hella: Die Rebellion der hilflosen Frauen
Das Buch beschreibt sehr anschaulich und in der Einschätzung teilweise kontrovers vor allem drei Arbeitskonflikte im Sommer und Herbst 1973 in Betrieben der damals noch expandierenden Autoindustrie: Hella in Lippstadt, Pierburg in Neuss, Ford in Köln (die folgenden Informationen sind dem Band entnommen).
Bei Hella kam es Mitte Juli 1973 zum wohl ersten migrantischen Frauenstreik in der jüngeren deutschen Geschichte. Wie sah der Kampf aus Sicht der „Gastarbeiterinnen“ aus? Mit welchen Problemen hatten sie in einem „Gastland“ zu kämpfen, das seine „Gäste“ nur auszunutzen versuchte? Das erzählt die sowjetisch-griechische Migrantin Irina Vavitsa im Interview auf eindrückliche Weise (wer wissen will, wie es den Arbeitsmigrant:innen früher – und den Flüchtlingen heute – geht, findet hier erhellende Aussagen).

Vavitsa, deren politisch links stehende Eltern nach dem von den griechischen Rechten gewonnenen Bürgerkrieg in die Sowjetunion flüchten mussten und nach ihrer Rückkehr nach Griechenland erneut von der Diktatur der Obristen flohen (in die BRD), schildert, wie einsam, fremd, hilflos und dumm sich die migrantischen Frauen fühlten, wie verängstigt sie waren, wie wenig sie die fremde Sprache verstanden und dass sie überhaupt nicht kapieren konnten, dass da zwar eine Gewerkschaft war, die aber nichts unternahm, um Ausbeutung und tägliche Erniedrigung zu mildern. Und wie oft ihnen, die sich für bessere Verhältnisse engagierten, entgegengehalten wurde: „Wenn es dir hier nicht gefällt, kannst du ja gehen.“
Irina Vavitsa ging nicht. Sie blieb. Und beteiligte sich an der spontanen Arbeitsniederlegung der Arbeiterinnen von Hella in Lippstadt (NRW), den die weiblichen Beschäftigten aus dem Mittelmeerraum trotz eines Polizeieinsatzes gewinnen konnten (wie der Streik verlief, erzählt Vavitsa in einem Video der Rosa-Luxemburg-Stiftung). Mit dem Erfolg änderte sich für sie alles – und auch für die anderen: Erst die Solidarität hatte ihr zu einem Selbstbewusstsein verholfen.
Pierburg: Desinteressierter Betriebsrat
Rund einen Monat später traten Arbeiter:innen des Pumpen- und Vergaserherstellers Pierburg (rund 4000 Beschäftigten, darunter etwa 2600 Ausländer:innen) die Arbeit nieder. Es war nicht der erster Streik: Bereits drei Jahre zuvor war es dem aufsässigen Teil der Belegschaft gegen den Willen des Betriebsrats gelungen, die unterste Lohnstufe (die Leichtlohngruppe 1) wegzukämpfen. Wie in fast allen anderen Unternehmen gab es einen dreistufigen Pay Gap: In den untersten Lohngruppen befanden sich die ausländischen Frauen, über ihnen die deutschen Arbeiterinnen, darüber die männlichen Migranten und ganz oben die deutschen Männer.

Angespornt vom Erfolg des Ausstands 1970 knüpften die von der fortschrittlichen Ortsverwaltung der IG Metall unterstützten Pierburg-Vertrauensleute Kontakte zu anderen rebellischen Betriebsgruppen wie der Plakatgruppe von Daimler-Untertürkheim oder linken Betriebsratsmitgliedern bei Opel in Bochum. 1973 gelang es ihnen schließlich, den bislang von deutschen Beschäftigten dominierten Betriebsrat zu übernehmen – und von da an war alles anders: Betriebsversammlungen dauerten mitunter sechs Stunden, da die Diskussionsbeiträge in alle Sprache übersetzt wurden, immer wieder kam es zu Aktionen und Debatten mit den Vorgesetzten, der Betriebsrat genehmigte keine Entlassungen mehr, die gewerkschaftlichen Vertrauensleute besuchten zuhauf gewerkschaftliche und politische Bildungseinrichtungen. Und immer wieder fragten sie sich: „Wie demokratisch sind eigentlich die Gewerkschaften?“
Mitte August 1973 streikten dann erneut 2000 Arbeiter:innen des Autozulieferers, darunter 900 Griechinnen, 500 Türkinnen, 200 Italienerinnen, SpanierInnen und Jugoslawinnen (siehe dazu auch das Buch und die TV-Reportage „Wilder Streik – das ist Revolution“). Ihre Forderungen: humaneres Arbeitstempo, Abschaffung der Leichtlohngruppe 2, höherer Stundenlohn für alle. Der letzte Punkt überzeugte auch die deutschen Facharbeiter. Und so setzten sich die kämpferischen Migrant:innen durch, obwohl – oder weil – die vom Unternehmen gerufene Polizei mit Knüppeln und gezogenen Pistolen vorging und die Geschäftsleitung fünf Tage lang unnachgiebig blieb. (Ein Jahr später scheiterte auch Pierburgs Versuch, vier der „Rädelsführer“ per fristloser Entlassung loszuwerden.)
Ford: Auf der falschen Seite
Nach dem Streik ging die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder bei Pierburg steil nach oben. Überhaupt änderte sich durch die spontanen Arbeitsniederlegungen so einiges bei den Gewerkschaften (zum Besseren hin), und das trotz der krachenden Niederlage, die der kämpferische Teil der Belegschaft von Ford in Köln hinnehmen musste.
Wieder waren es Migrant:innen gewesen, die eine Woche nach dem Ende des Pierburg-Streiks die Fließbänder verließen und gegen eine Maßnahme des Managements protestierten: Es hatte mehreren Hundert türkischen Kolleg:innen fristlos gekündigt, weil diese nicht rechtzeitig aus dem Urlaub zurückgekommen waren (was bis dahin möglich gewesen war). Engagierte Arbeiter:innen besetzten das Werk, um neben der Rücknahme der Kündigungen Lohnerhöhungen und eine Reduzierung des extrem hohen Arbeitstempos durchzusetzen.
Doch anders als bei Hella und Pierburg scheiterte der Aufstand: Keines der Streikziele wurde erreicht, das Management feuerte Aktivist:innen, manche wurden verhaftet und abgeschoben. Das Problem: An der Spitze der gespaltenen Belegschaft sass ein Betriebsrat, der sich von Anfang an gegen die Streikenden stellte, Gegenveranstaltungen organisierte, die Boulevardpresse mit Infos versorgte (die daraufhin von „Türken-Terror“ schrieb) und dafür sorgte, dass Streikbrecher mit Knüppeln auf die Kolleg:innen einschlugen. Und die Gewerkschaft schaute zu.
Lehren für heute
Und doch waren die 1973er Streiks ein Wendepunkt (siehe dazu auch das Video Streik-Revue 73/93/23), der im Buch von allen Seiten beleuchtet wird. Bemerkenswert sind dabei Details wie die anfängliche Unlust der türkischen Migrant:innen, in Warnstreiks zu treten: Wenn streiken, dann richtig – war die Devise der Arbeiter:innen, die nach dem türkischen Militärputsch 1971 gelernt hatten, sich der Repression zu widersetzen. Beachtlich auch die kulturelle Vielfalt während der Auseinandersetzungen: Geschichtenerzähler:innen unterhielten die Streikposten mit Witzen und Anekdoten, ad-hoc-Sketche sorgten für gute Laune, bei Pierburg verteilten griechische Frauen Blumen an die deutschen Kollegen. Solche geselligen Einlagen kämen auch heute noch gut an.
Die Streiks 1973 haben die Arbeitswelt und die Gewerkschaften verändert. Eine Missachtung der ausländischen Belegschaft kann sich heute kein Betriebsratsgremium und keine Gewerkschaftsspitze mehr leisten. Von der Vergangenheit lernen – das ist angesichts von Neoliberalismus, Privatisierung, Prekarisierung, Erosion der Tarifbindung und dem grassierenden Rassismus wichtiger denn je. Die Auseinandersetzungen damals haben gezeigt, dass der Kampf gewonnen werden kann.

Das Buch „Migrantische Kämpfe gegen Ausbeutung und Rassismus“ gehört auf alle Lektürelisten der gewerkschaftlichen Weiterbildung.
Nihat Öztürk, Nuria Cafaro, Bernd Hüttner, Florian Weis (Hg.): „Der Streik hat mir geholfen, als junger Mensch Kraft aufzubauen – Migrantische Kämpfe gegen Ausbeutung und Rassismus“. Die Buchmacherei. Berlin 2025. 468 Seiten. 22 Euro
Fotos: a) aus dem Band „Streik bei Ford Köln“, hg. von der Betriebszelle Ford der Gruppe Arbeiterkampf, Rosa Luxemburg Verlag Köln, Dezember 1973; b) Screenshot des Videogesprächs mit Irina Vavitsa / RLS; c) Streik bei Pierburg 1973 © Dokumentationszentrum und Museum Migration in Deutschland


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