
Vor 86 Jahren, am 1. September 1939, überfiel eine kriegstüchtige Wehrmacht Polen und begann damit den Zweiten Weltkrieg, dem unzählige Menschen zum Opfer fielen. Aber hat die deutsche Gesellschaft Lehren daraus gezogen? Bei der Konstanzer Kundgebung zum Antikriegstag war die Skepsis groß.
Links eine Palästina-Flagge, vorne ein Transparent der Gruppe Rettet Gaza Konstanz, rechts eine Fahne der Revolutionären Linken Konstanz (RLK). Und auf der Rückseite des Pavillons ein Banner mit dem Spruch „Nein zu Militarismus, Imperialismus, Kapitalismus, Faschismus“, darunter Hammer und Sichel sowie der Appell für eine „sozialistische Weltrevolution“. Wer vorgestern auf die Empore beim Kaiserbrunnen blickte, von der im Laufe der Kundgebung ein halbes Dutzend Redner:innen sprach, mag sich um ein halbes Jahrhundert zurückgesetzt gefühlt haben.
Und tatsächlich, es gibt sie noch (beziehungsweise wieder): eine klassenkämpferische Linke, die sich nicht scheut, die alten Parolen und Begriffe zu verwenden – obwohl dann die Reden großteils differenzierter klangen. Und noch etwas erinnerte an frühere Zeiten: das Alter der rund hundert Kundgebungsteilnehmer:innen. Nur wenige der Anwesenden, die Antifa-Fahnen und Transparente dabei hatten, waren über dreißig, fast niemand über vierzig Jahre alt.
Eingeladen zur Kundgebung hatten die RLK, die Linke, die Linksjugend ’solid, das Rettet-Gaza-Komitee, Students for Palestine und das BIPoC-Kollektiv. Worum es ging, erläuterte der Moderator gleich zu Beginn: Selten zuvor sei das Aufstehen gegen steigende Militärausgaben – verbunden mit sinkenden Sozialausgaben – so wichtig gewesen wie heute, sagte er. Schließlich habe man es „mit der größten Aufrüstung seit der Hitler-Diktatur“ zu tun; dabei sei bekannt, dass „zunehmende Militarisierung niemals zu Frieden und Gerechtigkeit führen wird“.
Wer Gewalt ausübt
Der Krieg beginne hier, der Krieg beginne bei Rheinmetall, führte Lars Hofmann aus, Landtagskandidat der Partei Die Linke. Also „dort, wo Profite gemacht werden mit Tod und Zerstörung. Während Konzerne Milliarden einstecken, sterben anderswo Menschen.“
Und dann erinnerte er daran, dass auch hierzulande schon Krieg geführt wird – erkennbar zum Beispiel am staatlichen Vorgehen gegen eine Antikriegs-Demo in Köln vor zwei Tagen: „Da haben 3000 Menschen friedlich demonstriert. Und die Antwort war, Pfefferspray, Schlagstöcke und Reizgas. Ein zwölfstündiger Kessel. Erkennungsdienstliche Maßnahmen ohne jeden Anlass“. Die Gewalt, so Hofmann, gehe in der Regel „nicht von den Demonstrierenden aus. Die Gefahr geht von den Kriegsprofiteur:innen aus. Und von einer Politik, die lieber Panzer baut statt Kitas.“

Aber wer sind die Profiteure? „Wir erleben eine Aufrüstung der Kriegsindustrie wie seit Jahren nicht mehr“, sagte die Sprecherin der Linksjugend ’solid, und das „in Kombination mit einem Rechtsruck in der gesamten Gesellschaft“. Umgesetzt werde die Aufrüstung „direkt bei uns in der Bodensee-Region“, einem wichtigen Standort für die gesamte Rüstungs- und Wehrtechnik-Industrie.
„Hier sind Firmen wie Diehl Defence, Rheinmetall, Airbus und Rolls-Royce Powersystems stationiert“, die viel produzieren – „von Panzermotoren und Munition über Lenkflugkörper, Drohnen bis hin zu Radar, Elektronik und IT-Systemen“.
Zu Lasten der Klimaziele. Und der palästinensischen Bevölkerung
Die hiesigen Betriebe und Zweigwerke stellen – so bedeutend sie auch sind – nur einen Teil der gesamten Rüstungsindustrie. In einigen Jahren soll für die Aufrüstung bis zu 600 Milliarden Euro ausgegeben werden – „eine riesige Menge Geld, das an anderen Stellen in unserer Gesellschaft fehlt. Unsere Mieten sind nicht bezahlbar, Kitas und Schulen sind marode, Klimaschutz ist nötiger denn je“, erläutert die ’solid-Aktivistin. „Würde die Bundesregierung denselben Willen für das Erreichen der Klimaziele aufwenden, sähe unsere Aussicht auf echte Klimagerechtigkeit deutlich anders aus“.
„Wir wollen keine Panzerfabriken am See, sondern einen solidarischen Umgang miteinander“, sagte sie noch, dann übernahm eine Sprecherin von Rettet Gaza das Mikrophon. In Gaza wird seit dem Hamas-Überfall vor bald zwei Jahren ein Krieg geführt, der die rechtlichen Kriterien eines Völkermords erfüllt, wie vor wenigen Tagen auch die renommierte Organisation International Association of Genocide Scholars feststellte.
Und was unternimmt die Bundesregierung? Sie blockierte auf einem Treffen der EU vor kurzem den geplanten Stopp der Zusammenarbeit der EU mit Israel beim Forschungsförderungsprogramm Horizon. „Nach zwei Jahren Komplizenschaft lässt sich die BRD nicht einmal zu, ein europäisches Förderprogramm mit Israel auszusetzen“, begründete die Rettet-Gaza-Aktivistin ihren Protest. Auch die Waffenlieferungen gingen ja weiter.

„Am Ende des Tages sind Kriege für die Menschen, die sie orchestrieren, nichts anderes als ein abstraktes Geschäft mit Abwägung der Kosten und Risiken, aber auch der Gewinne, die sie jeweils daraus ziehen können“. Es seien ja schließlich nicht sie, „die an den Fronten sterben. Und sie leiden auch nicht unter der Besatzung, welche die gesamte palästinensische Bevölkerung mittlerweile vor den Hungertod stellt. Ganz im Gegenteil, sie profitieren von den steigenden Rüstungsprofiten und nicht zuletzt auch von Israels Expertise als Militär- und Überwachungsstaat“. Denn diese könnte sich „beim autoritären Umbau der BRD noch als sehr nützlich erweisen“.
Immer und immer wieder
Haben wir also nichts gelernt aus den Weltkriegen, aus den Völkermorden in den Kolonien, aus den Massakern der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte? Offenbar nicht. Oder zumindest nicht genug. „Der Antikriegstag ist stark geprägt durch die sogenannte deutsche Erinnerungskultur“, sagte die Rednerin des BIPoC-Kollektivs und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Selbstgefälligkeit der deutschen Politik, die sich zwar erst seit Ende der 1980er Jahre mit den Verbrechen des Nationalsozialismus beschäftigt, dies aber vor allem in Sonntagsreden tut. „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“, heiße es seit einiger Zeit, oder auch: „Nie wieder ist jetzt“. Aber „dass aus dem ,Nie wieder’ ein ‚Immer wieder’ gemacht wurde und sich dies aktuell zu einem ‚Immer und immer wieder’ entwickelt, ist nicht zu leugnen“.
Das habe mit der allgegenwärtigen Kriegspropaganda zu tun. „Sie schürt Ängste, versucht Menschen davon zu überzeugen, dass wir uns verteidigen müssten, dass wir aufrüsten müssten“, sagte die BIPoC-Aktivistin – und kam zu dem Schluss: „Wir vergessen das ‚Nie wieder’. Wir heucheln“. Das liege auch daran, dass „die Ursprünge von Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus kein Teil der Lehrpläne sind, dass an Schulen und Universitäten nicht wirklich erklärt wird, was Faschismus eigentlich ist“. Alles, was „Deutschland macht, ist mit Schlagworten um sich schmeißen: Hitler, Faschismus, nie wieder …“
Ihr Fazit: „Es reicht. Es reicht wirklich. Und es sollte uns allen längst reichen“. Dem stimmte am Schluss auch der RLK-Sprecher zu. Und merkte an: „Während die kriegsbesoffenen Politiker:innen in ihren Büros den Weltkrieg propagieren, werden Arbeiter:innen in Uniformen gezwungen und in den sicheren Tod geschickt“. Und fügte hinzu: „Jeder Krieg bedeutet, dass Arbeiter:innen auf Arbeiter:innen schießen. Wir wollen kein Blut für Kapital und Imperialismus vergießen, denn das sind nicht unsere Kriege“.
Das klingt – von der Wortwahl her – zwar wie ein Statement aus früheren Zeiten. Ist aber immer noch richtig.
Text und Fotos. Pit Wuhrer
Weitere Aktionen:

Die Konstanzer Antikriegskundgebung war Teil der Aktionswoche von #jugendkämpft unter dem Titel „Bodensee entwaffnen“. Der nächste Termin ist für Samstag, den 6. September geplant: eine Demo in Friedrichshafen gegen die Rüstungsindustrie.
Am 3. Oktober findet zudem in Stuttgart auf dem Schlossplatz eine Großdemo statt unter dem Motto: „Nie wieder kriegstüchtig! Stehen wir auf für Frieden!“ Die Friedensinitiative Konstanz organisiert dafür einen Bus, der auch in Radolfzell und Singen hält. Anmeldungen bis spätestens 10. September unter info@fi-konstanz.de.
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