Waldeck Grundschule Singen © Anja Claßen

Mehr Bildungsgerechtigkeit durch „Startchancen“

Ein Kommentar

Waldeck Grundschule Singen © Anja Claßen
Die Waldeck-Grundschule in Singen profitiert vom „Startchancen-Programm“ (© Anja Claßen)

Der Bildungserfolg ist in Deutschland in hohem Maße vom Elternhaus abhängig, von Chancengerechtigkeit kann keine Rede sein. Im Rahmen des „Startchancenprogramms“ werden Schulen mit einem hohen Anteil von Schüler*innen mit schwierigem sozio-ökonomischen Hintergrund gezielt finanziell unterstützt. Im Landkreis Konstanz gibt es einige „Startchancen-Schulen“, vor allem in Singen.

Für die Auswahl der „Startchancen-Schulen“ wurden hauptsächlich folgende Kriterien herangezogen: Zunächst der Anteils der Schüler*innen, die in Familien leben, die Bürgergeld beziehen (also Familien mit arbeitslosen Eltern oder Eltern mit geringem Einkommen, die mit Bürgergeld „aufstocken“ müssen), außerdem der Anteil mit Migrationshintergrund sowie die sogenannte „Bücherfrage“. Dabei geht es um die Zahl der Bücher in einem Haushalt. Auch in Zeiten der Digitalisierung ist dies ein anerkannter Indikator, um die Bildungsaffinität des Elternhauses zu ermitteln.

Mit Hilfe dieser Kriterien werden Schulen mit einem schwierigen sozio-ökonomischen Hintergrund identifiziert. Dort können Eltern nicht das leisten, was in wohlhabenden bzw. bildungsaffinen Familien selbstverständlich ist, etwa die Unterstützung bei den Hausaufgaben oder die Organisation und Finanzierung von Nachhilfe. Daher sollen die „Startchancen-Schulen“ in die Lage versetzt werden, besondere Fördermöglichkeiten anzubieten, um den gesellschaftlichen Nachteil der ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen zumindest abzumildern. Das Programm wird je zur Hälfte von Bund und Land finanziert.

16 x „Startchancen-Schulen“ im Kreis Konstanz, davon 11 x Singen

Im Landkreis Konstanz wurden 16 Schulen ausgewählt, davon elf am Schulstandort Singen: Die sechs Grundschulen in der Kernstadt, die Hebel-Werkrealschule, die Beethoven-Gemeinschaftsschule, die beiden Realschulen sowie die Wessenbergschule (Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum). Daher hat Seemoz in Singen bei der Geschäftsführenden Schulleiterin Anja Claßen nachgefragt. Frau Claßen leitet die Waldeck-Schule, eine Grundschule im „Startchanchen-Programm“, vertritt in ihrer Funktion darüber hinaus die Singener Schulleitungen.

Sie hebt die besondere Sozialstruktur der Stadt Singen hervor, die sich deutlich von anderen Städten und Gemeinden im Landkreis unterscheidet. Dies geht auf die Arbeitsmigration in die Industriestadt zurück, die bereits vor Jahrzehnten begann. Aber auch die starke Zuwanderung seit 2015 spiegelt sich wider. Die Stadt Singen hat Flüchtlinge über das „Soll“ hinaus aufgenommen. Aufgrund zumindest vergleichsweise geringer Mieten siedeln sich Migrant*innen eher hier an als in den anderen Landkreis-Gemeinden.

Schulleitungen: „Wir sind super dankbar. Das geht in die richtige Richtung“

Anja Claßen sagt, dass an „ihrer“ Waldeck-Schule 80 Prozent der Schüler*innen andere Sprachen als Deutsch als Alltagssprachen in ihren Familien nutzen. Sie betont: „Sprache ist der Schlüssel zur Welt“ und begründet damit die Notwendigkeit gezielter Sprachförderung.

Auch im Namen der Rektorinnen der anderen „Startchancen-Schulen“ in Singen lobt sie die Grundidee des „Startchancen-Programms“ und sagt: „Wir sind super dankbar für die zusätzlichen Mittel. Das geht in die richtige Richtung.“ In der Stadt Konstanz wurden übrigens drei Grundschulen in das „Startchancen-Programm“ aufgenommen: Die Grundschule Petershausen, die Haidelmoosschule sowie die Berchenschule (Abteilung Grundschule). Hier wird die unterschiedliche sozio-ökonomische Lage der verschiedenen Stadtquartiere deutlich. Die „Startchancen-Schulen“ werden hauptsächlich von Schüler*innen aus Petershausen-West, Fürstenberg sowie Königsbau besucht. Weiterführende Schulen aus Konstanz wurden auf Grundlage der erläuterten Kriterien nicht ausgewählt.

Drei Säulen: Lernumgebung – Unterstützungsangebote – Personal

Das „Startchancen-Programm“ wurde in diesem Schuljahr 2024/25 gestartet, die Mittel hierfür kommen jeweils zur Hälfte von Bund und Land. Es ist auf zehn Jahre angelegt. Insgesamt stehen deutschlandweit rund 20 Milliarden Euro zur Verfügung, davon 2,6 Milliarden für Baden-Württemberg. Es sind drei Säulen vorgesehen, um die ausgewählten Schulen zu unterstützen.
Bei der ersten Säule geht es um Baumaßnahmen. Damit sind nicht nur neue Räumlichkeiten gemeint, sondern auch die Einrichtung von Leseecken, Lernbüros oder Ähnlichem.

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Eine pädagogische Assistentin mit einem Schüler der Waldeck-Schule (© Anja Claßen)

Anja Claßen erläutert, dass die Mittel keinesfalls dafür reichen, an jeder „Startchancen-Schule“ eine bauliche Erweiterung zu finanzieren. Der Schulträger hat aber die Möglichkeit, Mittel schwerpunktmäßig einzusetzen und somit an einzelnen Schulen größere Baumaßnahmen zu finanzieren. Allerdings müssen die Schulträger bezüglich der ersten Säule 30 Prozent der Kosten selbst tragen.

Die zweite Säule nennt sich auch „Chancenbudget“. Es können zusätzliche Unterrichtsmaterialien oder Angebote externer Bildungsträger oder anderer Kooperationspartner*innen finanziert werden. Zum Beispiel wurde an der Waldeck-Schule bereits ein erlebnispädagogisches Programm finanziert. Anja Claßen berichtet hier von einer bürokratischen Hürde: Die externen Anbieter müssen vom Kultusministerium geprüft und zertifiziert werden. Das dauert offenbar auch mal länger. Gleichwohl ist das „Chancenbudget“ positiv zu sehen, da es Maßnahmen ermöglicht, die aus dem regulären Schuletat nicht zu finanzieren wären.

Schließlich ist in der dritten Säule die Finanzierung von zusätzlichem Personal neben den Lehrkräften vorgesehen. Anja Claßen hebt die gute Arbeit der derzeit vier Pädagogischen Assistent*innen an der Waldeck-Schule hervor, außerdem wird eine Logopädin dort beschäftigt. Dieses zusätzliche Personal ist eine große Bereicherung für die Schulen und leistet wirksame Unterstützung für Schüler*innen mit schwierigem sozio-ökonomischen Hintergrund. Anja Claßen berichtet in diesem Zusammenhang von einem gravierenden Problem: Die Pädagogischen Assistent*innen werden im Rahmen von „Startchancen“ immer nur für ein Schuljahr beschäftigt. Die Verträge enden mit dem Schuljahr und die Personen sind in den Sommerferien arbeitslos, um im September dann einen neuen Vertrag zu erhalten. „Das ist kein wertschätzender Umgang“, moniert sie.

Ungerechte Ressourcenzuteilung an Grundschulen

Beim „Startchancen-Programm“ geht es um zusätzliche Ressourcen, die Zuteilung der meist beamteten Grundschullehrkräfte durch das Land Baden-Württemberg erfolgt nach einem traditionellen Schlüssel. Grundlage ist nicht, wie man annehmen könnte, die Schülerzahl, sondern die Zahl der nach dem „Klassenteiler“ gebildeten Schulklassen. Dieser Klassenteiler liegt für die Grundschulen bei 28. Eine kleine Grundschule kann tendenziell kleine Klassen bilden und erhält dann eine relativ gute Lehrerversorgung. Je größer die Schule, desto eher wird der Klassenteiler ausgeschöpft. Konkret: Eine kleine zweizügige Grundschule, die den Teiler zum Beispiel mit 30 Schüler*innen in einem Jahrgang knapp überschreitet, kann zwei kleine Klassen mit 15 Schüler*innen bilden und mit Lehrkräften versorgen.

Die Waldeck-Schule wiederum mit insgesamt über 500 Schüler*innen richtet meist fünf parallele Klassen ein, die alle mindestens von 25 Schüler*innen besucht werden. Also bekommt eine kleine Grundschule im Dorf, mit wohlhabenden und bildungsaffinen Eltern, mehr Ressourcen pro Schüler*in als eine Grundschule in der Stadt. Wir haben in Baden-Württemberg eine starke Eltern-Lobby, die die Ressourcen für kleine Grundschulen und den Erhalt winziger Schulstandorte höchst wirksam einfordert, so dass sich die Landespolitik an das hier beschriebene überholte und ungerechte System nicht heranwagt.

„Rückenwind“ für alle Schulen

Für die Schulen, die nicht in das „Startchancen-Programm“ aufgenommen wurden, stellt das Land im Rahmen von „Rückenwind“ Gelder zur Finanzierung von Förderangeboten zur Verfügung. Das Programm „Rückenwind“ wurde im Nachfeld von Corona eingeführt, um Schüler*innen zu unterstützen, die unter den langen Schulschließungen besonders gelitten zu haben. Die Mittel des Programms „Rückenwind“ sind pro Schule deutlich geringer als bei „Startchancen“, es können jedoch alle Schulen unabhängig vom sozialen Hintergrund der Schüler*innen profitieren, auch die Gymnasien. „Rückenwind“ soll unabhängig von Corona dauerhaft weitergeführt werden.

Was plant die schwarz-rote Bundesregierung?

Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung steht: „Wir wollen das Startchancen-Programm bürokratiearm weiterentwickeln und auf weitere Schulen ausweiten.“ Man darf gespannt sein, ob dieses Versprechen eingehalten wird. Zwar hat die Bundesregierung durch die Veränderungen bei der Schuldenbremse sowie die Einrichtung eines weiteren „Sondervermögens“ Geld für Verteidigung und Investitionen zur Verfügung. Allerdings handelt es sich bei den Mitteln, die in die zweite und dritte Säule des „Startchancen-Programms“ fließen, formal nicht um Investitionen. Es dürfte schwierig werden, über das bereits vorgesehene Maß hinaus Finanzmittel bereitzustellen. Wir brauchen mehr Geld für Bildung, nicht nur für bauliche Investitionen, sondern insbesondere auch für Personal.

Text: Till Seiler, Bildrechte: Anja Claßen

Ein Kommentar

  1. Alex Tasdelen

    // am:

    Das „Startchancenprogramm“ ist gut und wichtig, aber auch überfällig, um zumindest einen kleinen Schritt in Richtung Bildungsgerechtigkeit zu machen. Was aber sprachlos macht und einer bildungspolitischen Bankrotterklärung gleichkommt, ist der Umstand, dass gerade in zwei der geförderten Konstanzer Grundschulen im kommenden Schuljahr jeweils 27 Schulanfänger*innen pro Klasse unterrichtet werden, weil auch noch im Jahr 2025 in Stuttgart an diesem starren Klassenteiler festgehalten wird, ein geplanter Fehlstart!

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