
Die deutsche Diskussion zum Gazakrieg verirrt sich oft auf postkoloniale Schauplätze, diskutiert über Definitionen, was ein Genozid ist. Vorrang dagegen hat aktuell nur eines: Ein zivilgesellschaftliches Nein zu den deutschen Waffenlieferungen an das zu Teilen faschistoide Netanjahu-Regime.
Der europäische Blick auf Palästina war schon immer mehr in einem Wolkenkuckucksheim angesiedelt. Weltanschauliche Kopfgeburten bestimmten die Urteile über den Landstreifen zwischen Jordan und Mittelmeer, nicht soziale oder demografische Fakten. Das fing mit der Deklaration des britischen Außenministers Arthur Balfour an. Seine Erklärung von 1917 umfasst nur 67 vage zu interpretierende Worte und avancierte dennoch zur Gründungsurkunde des israelischen Staates.
Was dabei besonders pikant ist: Balfour (1848–1930) selbst war von der in Britannien verbreiteten Idee des christlichen Zionismus geprägt, also dem Glauben, dass Jesus Christus erst wiederkehrt, wenn die Juden und Jüdinnen wieder Palästina besiedeln. Die Bibel, dieses uralte Buch, gab also die Prämissen des politischen Handelns vor. Keiner hat dies besser zum Ausdruck gebracht als der Premier David Lloyd George, unter dem Balfour diente. George gab freimütig zu, dass, bevor er in der Schule mit der britischen Geographie vertraut gemacht wurde, ihm biblische Orte wie Kanaan, Karmel oder Zion geläufig waren.
Bibelfest für den Judenstaat
Und diese christlich-europäische Perspektive bestimmte das Handeln, als Britannien das Mandat des Völkerbundes für Palästina (1922–1948) innehatte. Die realen Verhältnisse im Land, das von annähernd 90 Prozent arabischen Menschen besiedelt war, interessierten kaum, wie Balfour unumwunden einräumte: „Und der Zionismus ist – zu Recht oder zu Unrecht, im Guten wie im Schlechten – in jahrhundertealten Traditionen verwurzelt, in gegenwärtigen Notwendigkeiten, in zukünftigen Hoffnungen. All dies ist von ungleich größerer Bedeutung als die Wünsche und Vorurteile von 700.000 Arabern, welche jetzt dieses alte Land bewohnen.“
Wenn sich heute auch die Koordinaten hin zu einer säkularen Sicht verschoben haben, ist es besonders unter Deutschen beliebt, ihre Analysen durch die rückwärtsgewandte Distanzbrille zu betrachten. Man geht nicht gerade wie die britisch-christlichen Zionisten 2000 Jahre zurück, sondern untermauert seine Urteile mit Verweis auf prägende Gestalten des jüdischen Geisteslebens wie Hannah Arendt oder Primo Levi. Ihre Haltungen zu dem sich anbahnenden Konflikt zwischen Palästinenserinnen und Israelis, die sie vor 60, 70 Jahren entwickelten, sollen noch heute von Relevanz sein.
Drängt sich diese Zeugenbefragung großer Geister wirklich auf, angesichts der erschütternden Unmittelbarkeit des blutigen Geschehens in Gaza, das zumindest Verdachtsmomente eines Genozids nahelegt? Und wenn schon: Kann man nicht beinahe zuverlässig davon ausgehen, dass Hannah Arendt, wäre sie Zeitgenossin dieser Ereignisse, die von der Regierung Netanjahu beabsichtigte Vertreibung aller Menschen in Gaza scharf kritisieren würde.
Zugegeben: Für mich sind dies interessante Fragen, aber letztendlich biegen sie nur auf Nebengleise ab. Auch unterschiedliche Genozid-Definitionen und postkoloniale Debatten führen meines Erachtens weg von dem, was eigentlich im Zentrum der Debatte stehen sollte: das permanente und absichtsvolle Abschlachten der Zivilbevölkerung in Gaza durch die israelische Armee. Für meine politische und emotionale Anteilnahme am Weltgeschehen, ob in der Ukraine, in Myanmar, im Sudan oder selbstverständlich auch im Nahen Osten, speist sich aus der Unmittelbarkeit der Ereignisse. Für deren Bewertung sind für mich einzig das Menschen- und das Völkerrecht entscheidend.
Hoher Blutzoll unter Kindern
An diesem Montag, 14. Juli, schreibe ich diesen Blog. BBC weckt mich morgens mit einem Bericht von einer israelischen Drohnenattacke, die sich einen Tag zuvor zugetragen hat. Getroffen wurden Wartende an einer Wasserstelle, getötet wurden elf Menschen. Ausgehungert und durstend haben sich die Kinder, Jugendliche und Alte mit zerfetzten Schuhen durch den Wüstensand aufgemacht. Aber statt ihre gelben Plastikkanister mit Wasser zu füllen, liegen sie tot vor den Wassserspeicher – acht davon sind Kinder.
Schluchzend sagt der Vater des toten Abdullah dem BBC-Journalisten, dem wie allen anderen ausländischen Journalisten von der israelischen Regierung verweigert wird, Zeuge der brutalen Schlächterei zu sein, ins Handy: «Ich will kein Wasser, ich will meinen Sohn.» Aber der Tod ist das einzige, was es in Überfülle in Gaza gibt.
Routiniert spult der Armeesprecher seine Floskeln vom Kollateralschaden ab, spricht von einem «technischen Irrtum». Eigentlich im Visier wäre ein Terrorist des Islamischen Dschihad gestanden, so der Sprecher. Zynisch gesprochen liegt der Tod von acht Kindern unter der Durchschnittsquote der getöteten Minderjährigen, die das israelische Militär jeden Tag erfüllt. Denn wenn man die Tage des Gazakriegs durch die 16.000 getöteten Kinder teilt, sind es 24 Kinder und Jugendliche, die Tag für Tag ihr Leben verlieren. Jeden Tag eine Schulklasse!
Die Gebetsmühlen der Pro-Israelis und Pro-Palästinenser
Und die gläubige Gemeinde der deutschen Pro-Israelis – die Pro-Palästinenser sind da ganz ähnlich nur mit umgekehrten Vorzeichen — kontert gebetsmühlenartig: «Wenn die Hamas-Terroristen nicht die Bevölkerung als menschliche Schutzschilder missbrauchten, sich nicht hinter Spitäler und Kindergärten verschanzten, gäbe es keine Toten unter der Zivilbevölkerung von Gaza.»
Auch eine von mir als integer geschätzte grüne Politikerin wie Katrin Göring-Eckhardt griff gedankenlos zu dieser Phrase zurück, begründete einmal den Angriff auf ein Spital mit den möglichen unterirdischen Installationen von Hamas. In diesem argumentativen Setting gibt es immer einen Freispruch für das genozidal anmutende Handeln der israelischen Armee.
Die bibelkundige Theologin Katrin Göring-Erhard sei daran erinnert, wie Abraham Gottes Plan, die Städte Sodom und Gomorra zu zerstören, entgegentrat: «Willst du wirklich den Gerechten zusammen mit dem Frevler wegraffen?» (Gen 18,23). Wenn nur zehn Gerechte unter den vielen Frevlern seien, dürfte ein solches Zerstörungswerk nicht in Gang gesetzt werden.
Einer dieser Gerechten ist beispielsweise Odai Nasser Saadi Al-Rubai. Der 22-jährige Palästinenser hat das Bombardement des Gaza-Kriegs überlebt, wollte dem Krieg ein Ende setzen und bekundete offen, was vermutlich die Mehrheit im kriegsgeplagten Küstenstreifen denkt: Hamas soll die Waffen niederlegen. Seine Voten auf Social Media, seine Beteiligung an Antikriegsdemonstrationen blieb den Hamas-Schergen nicht unbemerkt. Vor drei Monaten wurde er wie viele andere torgeprügelt.
Stoppzeichen statt Staatsräson
Sein Tod, wie der Tod der acht Kinder am Sonntag, wie der Tod der von vermutlich 50.000, vielleicht 100.000 Toten im Gaza-Streifen, sollten die politische Orientierung vorgeben. Auch die brutal zu Tode gefolterten israelischen Geiseln sind hier nicht zu vergessen. All diese Kriegsopfer mahnen die deutsche Politik, von der Staatsraison zur Vernunft zu kommen: Keine Waffenlieferung mehr an ein mutmaßlich in genozidales Handeln verstricktes Regime. Keine sich im Vagen verirrende Kritik des Bundeskanzlers Merz gegenüber dem zu Teilen faschistoiden Regime Netanjahus.
Wenn die Zeit des Waffenstillstands und der Friedensverhandlungen kommt, kommt auch wieder die Zeit, in der sich über historische Kontexte diskutieren lässt. Dann gilt es auch die Frage zu klären: Hat Deutschland als Täternation der Shoa nicht nur gegenüber Israel Verantwortung, sondern auch gegenüber den Palästinenser:innen? Denn sie sind es, die die deutsche Schuld mit der Gründung des jüdischen Staates Israel bezahlen mussten. Den Überlebenden des Holocaust wurde 1947 von der UNO ein Land eines anderen Volkes versprochen. Und dies sollte dabei nicht unerwähnt bleiben: Weil die verfolgten Juden und Jüdinnen aufgrund des global grassierenden Antisemitismus ab den 1920er-Jahren in großer Zahl von den meisten Ländern abgewiesen wurden. Nur das von Balfour versprochene Schlupfloch Israel blieb.
Text: Delf Bucher. Der Beitrag erschien zuerst im Blog Zeitenwende
Foto aus Gaza: Wikimedia Commons
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