
47 Jahre nach seinem Debüt, dem Lyrikband „Zwischenbericht“, und eingebettet ins 25-Jahr-Jubiläum des Literaturhauses Thurgau – Jochen Kelter war der erste Programmleiter des Literaturhauses – feierte der Dichter vergangene Woche mit seinem neuen Gedichtband „Grönlandsommer“ im Bodmanhaus Buchtaufe.
Jochen Kelter, in Köln geboren, aber schon ein halbes Jahrhundert auf der Schweizer Seite des Bodensees beheimatet, mit Sicht auf sein Herkunftsland, lernte ich 1992 persönlich kennen, als ich im Publikum einer seiner Lesungen saß. Damals war Jochen Kelter ein Autor aus dem Verlagshaus von Egon Ammann. Darunter die Erzählung „Die steinerne Insel“, ein Buch, das von seinem langen Aufenthalt in New York erzählt. New York, Paris, Konstanz, Ermatingen, vielleicht jene Achse, auf der sich das Leben Jochen Kelters bewegte, ein Dichter, der weit mehr ist als ein an seiner Scholle haftender Regionaldichter. Sein Blick ist stets weit, wach, empfindsam und klar. Da ist nichts Verklärendes, aber umso mehr Sehnsucht, nicht zuletzt die des immer älter, immer eingeschränkter werdenen Mannes, der aber nichts von seiner kreativen Lust an der Schönheit der Sprache eingebüsst hat.
Dass Jochen Kelter von der einen Seite des Bodensees auf die andere Seite schaut, ist symptomatisch für seinen Blick. Nicht der Blick eines Außenseiters, aber oft der Blick eines Außenstehenden, eines Besorgten, eines Betroffenen, eines Nachdenklichen.
Blick und Erinnerung
Die Bäume auf beiden Seiten
der Straße kahl im Wintergrau
sind mächtig gewachsen
du erinnerst dich an die Reihen
ihrer lange gefällten Vorgänger
ihr Sommergrün wölbte sich
schattig über die ganze Straße
wie viel Zeit ist seither vergangen?
Du fährst an Häuserreihen
in der Stadt entlang als sähest du
sie zum ersten Mal so fremd
erscheinen sie jetzt wahrscheinlich
sind ihre ockerfarbenen ihre
grauen und rostroten Mauern schon
gestanden als du den dir fremden
Ort zum ersten Mal sahst
Jochen Kelter schreibt mit einem hohen Anspruch an Schönheit, Klang und Präzision. Seine Gedichte, die sich manchmal wie Kurzprosa lesen, in wenigen Zeilen ganz tief ins Leben blicken, aus einem einzigen Moment ein monumentales Bild machen, Erinnerungen nicht verklären, dafür umso mehr schärfen und mit Witz und Schalk den Widrigkeiten seiner Gegenwart begegnen, sind Sprachbilder, die zwischen den Zeilen weit mehr erahnen lassen, ohne sich exhibitionistisch zu gebärden. Manchmal filmreife Actionszenen, manchmal ein ganzes Leben im Schnelldurchlauf, oft ein klares Festschreiben der Schizophrenie, menschlichen Tuns, aber ganz ohne Larmoyanz.
Albtraum
Schwester und Schwager
laden ihn ein er soll sein soeben
erschienenes Buch mitbringen
im Wohnzimmer drängen sich
Journalisten und Kameraleute
er soll aus dem Buch vorlesen
er bittet um eine Leselampe
man zieht ihm den Tisch weg
er sucht verzweifelt sein Buch
was sagen Sie zum Krieg in der
Ukraine? Man hält ihm ein
Mikrofon unter die Nase: Haben
wir wirklich eine Klimakrise?
Nun sagen Sie doch endlich etwas
wo ist mein Buch? Welches Buch?
Ihre Meinung zum Krieg im Sudan
zum Überfall auf Bergkarabach
man zieht den Tisch weiter weg
schweißgebadet erwacht er
tappt ins Nebenzimmer macht
Licht – hier endlich Licht
Immer wieder finden sich in Jochen Kelters Gedichten Einschließungen, Verweise auf Musik, nachhallende Verszeilen von Liedern aus der Klassik, genauso wie Textzeilen aus Songs von Joni Mitchell. Einschließungen aus der Lektüre anderer Bücher, so wie „Menschenwerk“ der südkoreanischen Nobelpreisträgerin Han Kang, die sich in ihren Büchern immer wieder mit unverdauter Geschichte, all der Gewalt, die sich ins kollektive Gewissen von Generationen frisst, auseinandersetzt. Themen, die auch Jochen Kelter nicht loslassen. Genauso wie der Verlust eines kulturellen Bewusstseins. Und immer wieder blitzt der Witz auf, für Jochen Kelter das einzige Mittel, um sich aktiv gegen die Oberflächlichkeiten der Gegenwart zu sperren.
Weiße Fahnen
Der Marktplatz ist aufgebrochen
völlig mit Pflastersteinen übersät
im Boden stecken grüne Fähnchen
wie geheimnisvolle Rätsel von
Außerirdischen hierher gebracht
aus uns unbekanntem Grund
Hinter den Türmen der Kathedrale
ragen weiße Fahnen wie Zeichen
der endgültigen Kapitulation
die Nebenstraßen stehen hoch
unter Wasser die Türen aller
Häuser verschlossen Hochwasser
Krieg wer weiß das? Keiner weiß
Genaues die Zeit scheint an ihr Ende
zu kommen was wird nach der Zeit
werden wir wenn wir am Morgen
erwachen in einer anderen Welt
oder in keiner Welt jemals mehr?
Durch die Zweige der alten
Bäume im Dunkel der Nacht
beleuchtet der Vollmond strahlend
von unten die langsam westwärts
ziehenden grau hellen Wolken
Nach dort draußen in die Welt
der Attentäter Naturkatastrophen
der Hassprediger normalen Mörder
sagt der Nachbar zum Nachbarn
traut sich von uns niemand mehr
Außer den Mutigen Waghalsigen
Verrückten und alltäglichen Mördern
den Irrsinnigen ohne Furcht vor
Massenpanik und der übrigen Welt
wir hier unter dem friedlichen Mond
Zusammen mit „Fremd bin ich eingezogen“ (2020), „Im Grauschlaf des Emil Zátopek“ (2021) und „Verwehtes Jahrhundert“ (2023) bildet „Grönlandsommer“ den beeindruckenden Reigen von vier Gedichtbänden im Caracol Verlag. Die beiden Gedichte zum Eingang sind aber auch ein deutlich Statement, dass sich die Dichtung von Jochen Kelter alles andere als Nabelschau sieht. Seine Texte sind eingebettet in die Zeit, ein geschichtliches und politisches Bewusstsein, immer auch in Sorge um die Spezies Mensch, zugleich aber Bilder eines Sprachmalers, der mit wenigen Strichen markieren kann, dessen wacher Blick auf die Welt jener eines Strengen ist, streng mit sich selbst, streng mit jenen, die in ihrer Egomanie krachen lassen.

Jochen Kelter: „Grönlandsommer“, Caracol-Verlag, 2025, 136 Seiten, 20 Franken/Euro, ISBN 978-3-907296-42-4
Gallus Frei-Tomic vom Literaturport Amriswil ist Herausgeber des Literaturblatts, in dem diese Besprechung zuerst erschienen ist. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
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