Herr eichhorn und die ferne 02 © iris meinhardt

In der Ferne … Von Wünschen und ihrer Erfüllung

Von Albert Kümmel-Schnur (Text) und Iris Meinhardt (Fotos)
Herr eichhorn und die ferne 02 © iris meinhardt

Das Figurentheaterensemble Meinhardt & Krauss feierte jüngst im Figurentheaterzentrum in Stuttgart die Premiere seines neuen Kinderstücks „Herr Eichhorn und die Ferne“.

Es kann schon ganz schön nerven. Dieser elende Specht, der dauernd an irgendwelche Hölzer trommelt. Der Igel, der einem Butterblumen mit herzzerreißenden Gitarrensongs überreichen will. Und dieser Bär. Dieser elende, dumme, tapsige Bär! Erst kriegt er seine Hand nicht in den Baum, in dem er Honig vermutet. Dann schmeißt er den ganzen Baum um. Bumm. Und schließlich, das muss man sich mal vorstellen, schließlich jagt auch noch ein aufgebracht und höchst lärmend summender Bienenschwarm hinter dem Honigdieb her. Dass seine Flucht nicht geräuschlos abläuft – ach, geschenkt. Nein, Herr Eichhorn hat die Nase voll. Er muss hier raus. Er muss irgendwohin, wo es still ist. Irgendwo in die Ferne, wo niemand ihn nervt. Wo außer der Ferne nur noch Herr Eichhorn ist und sonst keiner.

Mit viel Lust am slapstickhaften Spiel entfalten die Figurenspielerin Tanja Höhne und der Figurenspieler Luis Hergón unter der Regie und mit den Puppen von Iris Meinhardt Geschichten aus den souverän gezeichneten, mit viel Freiraum in Strich und Flächenfüllung angelegten Buntstiftbildern von Sebastian Meschenmoser. Die Dichte der Zeit auf der Bühne entspricht dabei der Dichte in der Fläche der Bilder. Wo im Bilderbuch ein vielgestaltiges, nur im langen Ansehen durchschaubares Gewimmel ‚Trubel‘ symbolisiert, erzeugt auf der Bühne eine viel kleinere Menge an Gestalten durch Serien kleiner Spielszenen, die mit zunehmendem Tempo, zunehmender Lautstärke und im Leerlauf auf ein stets sich entziehendes Ziel, Herrn Eichhorn, aufeinanderfolgen, denselben Effekt.

Schöne Bilder

So vermutet der Bär – eine Ganzkörpermaske – Bienen und damit Honig in einem hohlen Baumstamm. Kein Strecken und Recken, keine halbherzigen Kletterversuche helfen. Der Bär schafft es nicht, von oben in den Stamm zu greifen. Schließlich fällt er mitsamt dem Stamm hin, langt hinein, macht einen Arm, der am Ende des vielleicht zwei Meter langen Stammes tatsächlich und völlig gegen jede Logik wieder erscheint (die Tatze wird von Tanja Höhne gesondert und elegant abgestimmt mit dem Bär Luis Hergóns gespielt). Das macht er einmal. Zweimal. Drei- oder waren es viermal? Man möchte dem Bär zurufen „So geht es nicht!“ Womit sich ein Gefühl nervöser Unruhe vermittelt, ganz so, wie es Herrn Eichhorn angefallen haben mag, ohne dass Herr Eichhorn überhaupt zu sehen ist. Er erscheint erst, als der Bär schon lang mitsamt eines an flexiblen Stäben geführten Bienenschwarms, die er pikanterweise selbst in der Hand hält – ein einfacher Trick und ein schönes Bild für Überforderung -, halt- und hilflos über die Bühne taumelt.

Seit mittlerweile 19 Jahren gestaltet der in Berlin lebende Künstler Geschichten rund um ein ‚Herr Eichhorn‘ genanntes strubbeliges Eichhörnchen und seine Freunde, den Igel und den Bären. Manchmal gesellen sich weitere Gestalten hinzu: ein Specht etwa oder ein Steinbock. Die Figurenspielerin Iris Meinhardt und der Videokünstler Michael Krauss sind auf die Geschichten aufmerksam geworden, als ihre Tochter das Buch „Herr Eichhorn und der erste Schnee“ zum Geburtstag bekam. „Daraus machen wir ein Puppenstück“, da waren sich die beiden einig.

Ein Dauerbrenner

Herr eichhorn und die ferne 05 © iris meinhardt

Gesagt, getan. Seit mittlerweile 12 Jahren spielen sie vor dauernd ausverkauftem Haus die Geschichte vom ungeduldigen Warten auf die allererste Schneeflocke des Winters. Ein Jahr nach der Premiere von „Herr Eichhorn und der erste Schnee“ gesellte sich eine Inszenierung von „Herr Eichhorn und der Besucher vom blauen Planeten“ dazu.

In diesem Jahr haben sie sich einer weiteren Geschichte um Herrn Eichhorn gewidmet. Sie beginnt an einem Morgen, den die einen fröhlich, die anderen ereignisreich und die dritten schließlich ganz und gar unerträglich finden. An einem Morgen, der selbst ein erzählter Morgen ist. Erzählt von einem Steinbock, der wie ein uralt-mythisches Wesen am Bühnenrand über einen Felsbrocken gebeugt liegt, kaut und zum allergrößten Vergnügen der anwesenden Kinder – das Stück ist ab vier Jahren empfohlen – immer wieder Meckerlaute von sich gibt.

„In der Ferne“, so raunt der Bock, wenn er nicht gerade meckert, „werden alle Wünsche Wirklichkeit und alle Träume erfüllt.“ „Doch“, so hört man ihn schließlich sagen, „sie ist so fern, dass man sie nicht erblicken kann.“ Das heißt zunächst: Alles hier Erzählte ist selbst eine Ferne, nämlich nicht das, was grad geschieht, sondern eher das, was geschehen ist. Oder vielleicht geschehen sein könnte. Oder noch geschehen wird …?

Die Ferne ist so fern

Genervt vom Lärmen seiner Freunde, genervt gar vom Lärm der ganzen Welt und nicht zuletzt genervt von sich selbst, klettert Herr Eichhorn auf die Spitze eines hohen Baumes. Von dort aus, so denkt er, kann man die Ferne sehen. Und wenn er die Augen schließt, da oben auf dem Baum, dann sieht er sie ganz klar vor sich: die Ferne.

Herr eichhorn und die ferne 01 © iris meinhardt

Sie ist zunächst ein Schatten, eine Fläche, auf der Herr Eichhorn – nun ebenfalls zum Schatten mutiert – allein wandert und das Alleinsein offenbar außerordentlich genießt. Die Ferne als Schattentheater umzusetzen, ist ein wunderbar doppeldeutiger Inszenierungstrick. Einerseits nämlich kann man im Schattentheater nicht nur die Ferne sehen, sondern sie zugleich als Ebenenbruch, als Traumbild von Herrn Eichhorn, wahrnehmen. Andererseits aber ist der Schatten ja ein Sinnbild für das Uneigentliche. Wir sehen ja nicht die Dinge, die den Schatten werfen, sondern eben nur deren Schatten. Die Ferne ist „so fern, dass man sie nicht erblicken kann“. Platon hätte seine helle Freude daran gehabt.

Nur so über eine Ebene laufen ist, so ruhig diese auch sein mag, doch etwas … ermüdend. Auf die Dauer. Steine könnten vielleicht schon ein paar da sein, Felsen, wenn‘s möcht möglich sein. Es ist (möglich). Die transparentesten aller transparenten Felsen erscheinen im Schattenspiel, links und rechts von Herrn Eichhorn, bauen sich auf, verharren, man kann dazwischen spazieren gehen. Man kann auch darauf sitzen, aber, ach, langweilig sind sie. Die Felsen.

Lustige Gesichter, verrückte Figuren

Ein Freund… ach, ja … der Igel. Und, schwupps, da ist er schon. Wie schön. Mit leichter Hand verzaubern die Puppenspielerin und der Puppenspieler die wohl aus einem transparenten Material, Gaze vielleicht, bestehenden Felsenschatten und wir sehen, was die beiden Freunde sehen: lustige Gesichter, verrückte Figuren. Zum Totlachen! Nur wenn es Nacht wird, dann, ja dann, können die Felsbrocken ganz schön groß und beängstigend werden: Die Schatten werden nicht nur größer, sie spalten sich auf zu albtraumartigen Doppelprojektionen. Auch der Alb ist ein Schatten. Nur ein Schatten, möchte man betonen, denn man hat ja Freunde. So einen großen Bären zum Beispiel. Brumm. Der kann dunkel, schwarz und schwer selbst gegen Felsen was tun. Ach wie schön wird die Ferne, wenn alle Freunde dort sind.

Herr eichhorn und die ferne 04 © iris meinhardt

Und dann spielt das cinematische Theater, so nennen Meinhardt&Krauss ihre Kunst, mit kreisrund viragierten monochrom gefärbten Bildern in Laterna-Magica-Optik das ganze Paradies dieser Ferne aus. Da ein Zweig und hie ein Schmetterling, der Schmetterling dann leitet über vom Schattentheater zum Spiel mit animierten Formen auf der Bühne: er flattert hinter der Leinwand hervor und fliegt über die Bühne. „Die Ferne“, so lässt sich der Steinbock vernehmen, „ist gar nicht so weit von einem weg.“ Und so treffen die Freunde einander wieder im Wald, gemeinsam auf einem Baumstamm sitzend und genüsslich Honig schlürfend.

Der Steinbock aber, der erzählt weiter seine Geschichten. Als Schattenfigur erscheint er jetzt und dieser Kunstgriff bringt den Ort der Erzählung noch einmal ins Wanken. Wenn es der Steinbock war, der diese Geschichte erzählt hat, der Steinbock selbst aber nur ein Schatten war, dann ist die Geschichte selbst vielleicht nur ein ganz leichter, schöner Traum gewesen. Dankbar öffnet man die Augen und ist ein wenig reicher geworden. Und wärmer. Im Herzen.

Wer „Herr Eichhorn und die Ferne“ sehen möchte, kann das momentan entweder im Figurentheaterzentrum in Stuttgart oder im Gemeinschaftszentrum Buchegg bei Zürich tun.

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