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Flucht vor den Nazis

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Marseille Sepia © Pixabay

Tausende von Autoren und Künstlern flohen über Marseille aus Deutschland und Frankreich. Der Journalist Uwe Wittstock beschreibt ihre Flucht in seinem jüngst erschienenen Buch über das wohl dramatischste Jahr der deutschen Literaturgeschichte.

Uwe Wittstock schildert in seinem voluminösen Buch mit dem Titel „Marseille 1940 – die große Flucht der Literatur“ den Versuch eines Großteils der deutschen Schriftsteller von Rang und Namen sowie von zahlreichen bildenden Künstlern, den Schergen der Nazis über das Mittelmeer zu entkommen. Der Band, Anfang 2024 erschienen, ist bereits, ohne dass die genauen Zahlen bekannt gegeben werden, in der vierten Auflage und somit innerhalb von drei Monaten zum Bestseller geworden.

Das Buch hat einen kongenialen Vorgänger, den 2021 erschienenen Band „Februar 33. Der Winter der Literatur“, der ebenfalls zum Bestseller avancierte. Eigentlich erstaunlich, dass zwei Bücher zur deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts sich beim (ja eher minoritären und elitären) Lesepublikum eines solchen Zuspruchs erfreuen. Ob das auch mit der staatlich geförderten monatelangen massiven Protestwelle bislang ungekannten Ausmaßes gegen AfD und Rechtsradikale zu tun hat?

Zehn Tage nach der Besetzung von Paris durch die deutsche Wehrmacht wird Ende Juni in New York auf Betreiben des Nobelpreisträgers Thomas Mann, der seit 1937 im kalifornischen Exil lebt und unter der Schirmherrschaft von Eleanor Roosevelt, der Frau des amerikanischen Präsidenten Roosevelt, das „Emergency Rescue Committee“ gegründet. Varian Fry, ein linker, aber antikommunistischer Ostküsten-Intellektueller, wird mit einer Liste von etwa zweihundert Personen, die außer Landes gebracht werden sollen, nach Marseille entsandt, um dort ein Büro zu eröffnen. Er beginnt, vertrauenswürdige Mitarbeiter einzustellen, Amerikaner, Franzosen, aber auch Flüchtlinge, und am Ende seiner etwa einjährigen Mission werden seine Mitstreiter und er oft unter Einsatz des eigenen Lebens etwa 1.500 Personen die Flucht über das Meer oder den Landweg über die Pyrenäen, Spanien und Lissabon nach Übersee ermöglicht haben.

Frankreich wird nach der Kapitulation zum großen Teil von den Deutschen besetzt, aber im Süden entsteht unter Marschall Pétain, einem Helden des ersten Weltkriegs, eine unbesetzte Zone, das faschistoide Vichy-Regime von Deutschlands Gnaden, wohin neben etwa acht bis zehn Millionen Binnenflüchtlingen eine Unmenge politisch Verfolgter vor der Gestapo flieht. Marseille ist der einzige Hafen, über den, da nicht von den Deutschen besetzt, die Flucht vor den Nazis gelingen kann. Entsprechend überfüllt ist die Stadt mit ihren damals etwa 900.000 Einwohnern.

In dieser prekären Situation legen sich Fry und die Seinen mit den örtlichen Behörden an, mal geschmeidig, mal brüsk, aber auch mit der oft wenig hilfreichen, zögerlichen und umständlichen Bürokratie in Washington. Fry macht sich überall Feinde, und auch die vom amerikanischen Hilfskomitee Geretteten – darunter damals teilweise weltbekannte Autoren wie Heinrich und Golo Mann oder die auch im Exil herrschaftlich logierenden Franz Werfel oder Lion Feuchtwanger zeigen sich nicht unbedingt dankbar.

Varian Fry wird erst im Jahr 1996, dreißig Jahre nach seinem frühen Tod, in der israelischen Gedenkstätte Yaad Vashem als erster Amerikaner in die Liste der „Gerechten unter den Völkern“ aufgenommen. Der damalige US-Außenminister Warren Christopher bedauert bei dieser Gelegenheit die mangelnde Wertschätzung und Unterstützung der USA zu seinen Lebzeiten.

Uwe Wittstock erzählt die „Die große Flucht“ ausgesprochen spannend, manchmal in einem etwas süffigen, ein wenig sensationslastigen Journalistendeutsch. Dem Band angefügt sind ein Personenregister und eine lange Literaturliste. In dieser allerdings fehlt leider ein wichtiger Titel: das schon 2013 erschienene Buch „Mit dem letzten Schiff – Der gefährliche Auftrag von Varian Fry“ der Schweizer Autorin Eveline Hasler, das die Vorgänge aus mitunter anderer Perspektive beschreibt, manchmal aber bis zur Wortwahl einigen Passagen des Buchs von Wittstock gleicht.

Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur. Verlag C.H. Beck, 2024, 351 S., 26, Euro (gebunden), ISBN‎ 978-3406814907.

Text: Jochen Kelter, Bilder: Julian Hacker und Caro Sodar bei Pixabay.

2 Kommentare

  1. Janosch Tillmann

    // am:

    @ Thomas Willauer,

    mir stellt sich gerade die bange Frage, ob Sie ihre impliziert Gleichsetzung zwischen Ampelregierung und Herrschaft der NSDAP ernst meinen.

    Die Menschen, die Sie da als Kronzeugen für Ihre Ideen bemühen wollen, mussten brutal lernen, dass man nicht um jeden Preis Frieden mit einer Diktatur machen kann – zusammen mit ganz Europa.

    Zu Varoufakis: Schade, dass ihm das „nie wieder, für alle“ erst jetzt einfällt und nicht damals als Assad die Palästinenser von Jarmuk brutal abgeschlachtet, mit Fassbomben, Artillerie und Massenhinrichtungen überzogen hat. Dabei geht es doch um die Palästinenser und nicht einfach nur darum, dass Israel in die Auseinandersetzung involviert ist, oder?

    Und dieses „Nie wieder…“ so zu plazieren… Meinte das nicht die Shoa? Meint das jetzt einfach jede Militäraktion – zumindest die Israels? Fällt Ihnen bei so einer Aussage von ihm nichts auf? Ist das nicht eine Relativierung, dieses historisch einzigartige Verbrechens?

  2. Thomas Willauer

    // am:

    Eine brillante Besprechung über ein hervorragendes Buch, das in die Zeit passt. Neben dem Erkenntnisgewinn bleibt die bange Frage, wer von den Antifaschisten, denen die Flucht gelungen war, heute in die Ampelrepublik überhaupt einreisen dürfte. Es ist anzunehmen, dass eine Vielzahl der Geflüchteten heute für Friedensverhandlungen in der Ukraine, für die friedliche Koexistenz von Juden und Palästinensern, für Demokratie und Meinungsfreiheit eintreten würden.

    Faeser und Haldenwang (Verfassungsschutzpräsident) haben schließlich die Richtlinie ausgegeben, dass nunmehr jenseits des Strafrechts die Meinungsfreiheit, die im Artikel 5 unseres Grundgesetzes garantiert ist und zum Kernbereich der Verfassung gehört, eingeschränkt werden kann.

    Faeser hält Widerspruch gegen die Regierungslinie (ganz empfindlich sind Habeck und Baerbock) für etwas, das vom Geheimdienst überwacht und eigentlich verboten gehört. All dies liegt im „Zeitgeist“ der „Zeitenwende“. Wer dem Narrativ der Ampel nicht folgt und eigenständige Ansichten vertritt, wird als „Extremist“, „Verschwörungstheoretiker“, „Putinversteher“, „Corona-Leugner“ „Fossilist“ oder gar „Antisemit“ etikettiert. Staatlich geschmierte Vorfeldorganisationen wie die olivgrüne „Liberale Moderne“ (Beck/Fücks) oder„Correctiv“ sind Teil dieser Art denunziatorischer Meinungsmache. Siehe auch Nachdenkseiten vom 15.4.2024

    Prominentes Opfer dieses Regierungshandelns war und ist der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, dem die Einreise nach Deutschland zum aufgelösten Berliner Palästinakongress verweigert wurde. Auch die Möglichkeit, seinen Redebeitrag über Zoom zu halten wurde ihm verboten. Darin heisst es: «Wir haben die Pflicht, die große Mehrheit der anständigen Deutschen da draußen davon zu überzeugen, dass die universellen Menschenrechte das sind, was zählt. Dass “Nie wieder” “Nie wieder” bedeutet. Für jeden, ob Jude, Palästinenser, Ukrainer, Russe, Jemenit, Sudanese, Ruander – für jeden, überall.»

    Dass zur gleichen Zeit AFD-Höcke zur besten Sendezeit sich an einem CDU-Provinzpolitiker im Springerfernsehen Welt-TV abarbeiten durfte und als medialer Sieger vom Platz ging, ist offensichtlich die neue Realität in Deutschland.

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