Banlieue Vélizy Villacoublay, Grands Ensembles Immobiliers Du Mail, Années 60 © Ville De Vélizy

Entre deux ailleurs – Zwischen zwei Woanders

2 Antworten

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Bei Paris denken die meisten Menschen an Eiffelturm, Louvre und Arc de Triomphe. Die Mehrheit jener Einwohner, die fernab von Champs Élysées und Notre-Dame ihr Leben in den Vorstädten fristet, taucht in den Reiseführern und der öffentlichen Wahrnehmung nur selten auf. Ihnen widmet sich jetzt ein Buch, das Jochen Kelter gelesen hat.

Um es gleich vorwegzunehmen: «Bannmeilen – ein Roman in Streifzügen» der deutschen Autorin Anne Weber ist kein Roman. Wohl eher ein langer, mitunter zu langer erzählender Essay über die immer wieder auch hierzulande zumeist durch Jugendunruhen in die Schlagzeilen geratenen Vororte von Paris, vor allem jene im Nordosten der Kapitale gelegenen. Das Département «Neuf-trois (93)», hat in Paris und Umgebung die Funktion eines Warnsignals. Wer aus «Seine et Oise» kommt, hat, da zumeist aus Nordafrika, dem «Maghreb», also aus den ehemaligen Kolonien Tunesien, Algerien und Marokko stammend, so gut wie keine Chance auf einen Job.

Es gibt unzählige Reiseführer, Kunstführer und Literatur aller Art über Paris, aber beinahe nichts Vergleichbares über die Vororte. Das geändert zu haben, ist das große Verdienst des vorliegenden Buchs. Paris ist mit 2,2 Millionen Einwohnern (Tendenz abnehmend) eine vergleichsweise kleine Kapitale. Allein das Département, um das es hier hauptsächlich geht, hat über 1,6 Millionen Bewohner. Eine europäische Besonderheit besteht auch darin, dass Paris «intra muros» von seinen Vororten durch den ringförmigen Autobahngürtel, den «Péripherique» hermetisch getrennt ist. «Drinnen» und «draußen» sind zwei völlig verschiedene Welten, was den Charakter der aus dem Mittelalter stammenden Begriff der «Bannmeile» zementiert.

Das Leben in der Banlieue

Die Erzählerin beginnt ihre «Ausflüge» zusammen mit dem Filmemacher Thierry, halb Algerier, halb Franzose, der in der «Banlieue» geboren wurde, sich als Franzose versteht und doch stets Partei für die unterprivilegierten Zugezogenen ergreift und einen Film für die Olympischen Sommerspiele im Sommer 2024 drehen soll. Die Dialoge zwischen den beiden, die zwischen Januar und Sommerbeginn – immer zu Fuß – viele hundert Kilometer zurückgelegt haben, lockern den Bericht auf, erläutern und kommentieren viel Wissenswertes (ohne deswegen aus dem Buch einen Roman zu machen).

Sie beginnen das Abenteuer (für sie, nicht für ihn) in Saint-Denis, der über 100.000 Einwohner zählenden «Hauptstadt» des «Neuf-trois». Saint-Denis war seit dem 7. Jahrhundert und den Kapetingern Grablege der französischen Könige, bis die Grabmäler während der französischen Revolution verwüstet und im 19. Jahrhundert rekonstruiert wurden, Die Kathedrale ist die erste gotische Kirche Europas, was den hauptsächlich nicht europäischen Einwohnern unbekannt und herzlich egal sein dürfte. Die Stadt beherbergt aber auch das größte Fußballstadion des Landes.

Auf ihren Erkundungen treffen die beiden auf jede Art von architektonischen Scheußlichkeiten und urbanen Monstrositäten und nebenbei auch auf die zahlreichen Baustellen, Stadien der Schwimm-, Turn- und anderen Wettbewerbe sowie das Olympische Dorf für die Olympischen Sommerspiele in diesem Sommer. Das Olympische Dorf soll danach als Wohnraum zur Verfügung stehen – was eine «Gentrifizierung» und Verdrängung der bisherigen Bevölkerung bewirken könnte. Da wurden die riesigen, meist heruntergekommenen Brutalo-Wohnhochhäuser der 60er und 70er Jahre abgerissen, die bis zu viertausend Bewohner wie in riesigen Viehställen beherbergten. Die kleineren «Cités» sind indessen ebenfalls häufig architektonische Brutalitäten internationaler «Stararchitekten», die die Bedürfnisse der Bewohner selten berücksichtigen.

Dazwischen und daneben Bauzäune, Einkaufszentren, «Hypermarchès», Lagerhäuser, internationale Speditionsunternehmen, die übriggebliebenen «Pavillons»: kleine Steinhäuschen mit Gemüsevorgärtchen aus den 30er bis 50er Jahren. Die beiden Kundschafter bewegen sich am Rand der zahllosen Autobahnen, Schnellstraßen und Zuggeleise, die alle zusammen einen Höllenlärm erzeugen, und begegnen nur wenigen Passanten, die meist zum Einkaufen unterwegs sind. Und dann gibt es noch die jungen Männer, die an manchen Stellen für die Drogendealer Wache halten und pfeifend Laut geben, wenn Gefahr in Verzug scheint. Eine ständig sich wandelnde Mondlandschaft. Und mittendrin der größte Friedhof von Paris, muslimische und sogar ein jüdischer Friedhof. Drancy liegt in der Nähe, von wo ab Sommer 1942 knapp 60.000 Juden und Roma zumeist nach Auschwitz transportiert wurden.

Ganz woanders

Einkehren können die beiden nirgendwo, Gasthäuser sind äußerst selten. So essen sie ihre in Supermärkten abgepackten Sandwiches meist im Gehen, auf einem Mäuerchen oder einer seltenen niedrigen Steinbank. Per Zufall stoßen die Autorin und Thierry auf ein «Bistro», eine Kneipe, in der auch Frauen und Nicht-Muslime willkommen sind – eine absolute Ausnahme. Geführt wird sie von Rachid, ebenfalls Algerier und seiner betagten Mutter. Hier verkehren Marokkaner, Algerier, Italiener, Spanier; ein Zeitungsverkäufer tauscht den «Parisien» gar gegen eine kleine Mahlzeit. Die Erzählerin fühlt sich anfangs einsam, aber mit der Zeit werden sie und Thierry heimisch, machen Bekanntschaften und gehören irgendwann dazu. «Entre deux ailleurs, zwischen zwei Woanders», nennt Thierry das.

Mit ihrem Buch hat Anne Weber eine Lücke gefüllt, wahrlich ein Verdienst. Hinzufügen sollen hätte man eine Karte der durchwanderten Region sowie vielleicht einen historischen Abriss.

Anne Weber: Bannmeilen – ein Roman in Streifzügen, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024, 300 S, 25,- Euro, ISBN 978-3751809559.

Text: Jochen Kelter, Bild: Ville de Vélizy, Wikipedia. This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.

2 Antworten

  1. Jochen Kelter

    // am:

    Stimmt. Mein Fehler. Das Département Seine et Oise (Hauptort Versailles) wurde bereits 1968 aufgelöst..

  2. Patrick Brauns

    // am:

    Gute Rezension, aber das Departement mit der Nummer 93 im Norden von Paris heißt nicht «Seine et Oise», sondern Seine-Saint-Denis.

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