
Hochzeit (Bild: pd/Ilja Mess)
Mit „Die ersten hundert Tage“ präsentiert das Theater Konstanz ein eindringliches Kammerspiel über gesellschaftliche Veränderungen unter einer rechtsradikalen Regierung. Das Stück ist ein dystopischer Ausblick mit Aktualitätsbezug und eine hochemotionale Geschichte über Freundschaft.
Es ist Winter, gerade hat es geschneit. Der erste Weihnachtsfeiertag. An einer abgelegenen Tankstelle in Tschechien, nahe der deutschen Grenze, treffen sich vier Freund:innen. Sie kennen sich aus dem Studium, haben dort gemeinsam Seminare besucht, in WGs gewohnt, die Nächte an Küchentischen durchgeredet, sind auf linke Demos gegangen und haben sich politisch gegen Nazis engagiert.
Dieses Leben liegt Jahre zurück, mittlerweile sind alle ihre eigenen Wege gegangen, haben Karrieren gemacht und sich neu orientiert. Zuletzt trafen sie sich auf der Hochzeit von Silvio (Leonhard Meschter) und trennten sich dort im Streit. Warum Silvio nun zu diesem nächtlichen Treffen einlädt, ist für die anderen drei Freund:innen ein großes Fragezeichen und klärt sich erst im Laufe des Stückes auf.
Ein Treffen im nächtlichen Nowhere
Seit ihrer letzten Begegnung hat sich die Lebenssituation für alle dramatisch verändert. Eine rechtsextreme Regierung ist in Deutschland an die Macht gekommen und viele Menschen haben das Land verlassen. So auch Roya (Nayana Heuer), eine politische Journalistin und Influencerin, die in ihrer Arbeit gegen das System aufklärt und nun auf der Abschussliste der neuen Regierung steht. Lou (Ruby Rawson) ist trans und engagiert sich für Kids, die sich ebenfalls nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen zugeschrieben wurde. Unter der neuen Regierung ist Lou nicht mehr sicher. Und dann ist da noch Marin (Julius Engelbach), der am liebsten Candy Crush spielt, um der Realität wenigstens für ein paar Minuten zu entfliehen. Auch er hat das Land verlassen. Wieso er das tat, ist den anderen nicht wirklich klar – eine der vielen Fragen, die von den Freund:innen in dieser Nacht verhandelt wird.
Moderiert wird das Zusammentreffen von der Tankstellenkassiererin Vera (Silvana Schneider), die immer wieder in die Gespräche einsteigt und sie mal humorvoll, mal zynisch und immer wieder kritisch kommentiert. Die nächtliche Begegnung wird für die vier Freund:innen zum Prüfstein für ihre Loyalität, ihre Überzeugungen und die Frage, wie weit man gehen kann, ohne sich selbst zu verlieren.
Das Stück ist als Zeitreise einer Freundschaft inszeniert, immer wieder gibt es Sprünge von der Vergangenheit in die Gegenwart, die Erzählungen springen zwischen der Zeit im Studium, einem letzten Treffen auf Silvios Hochzeit und der Gegenwart in der Tankstelle.
Silvios Hochzeit wird als der Punkt beschrieben, der unsere aktuellen politischen Verhältnisse wiedergibt: Die Wahlergebnisse der AfD liegen bei den heute aktuellen Umfrageergebnisse, erste Bügermeister von der AfD sind ernannt – Ausländerfeindlichkeit und faschistisches Gedankengut erstarken. In dieser Zeit, die im Stück in der Vergangenheit liegt, spüren die Freund:innen einen letzten Moment der Verbundenheit, der „sich im Erleben schon wie eine Erinnerung anfühlt“, als sie gemeinsam zu „La Bambola“ tanzen.
Danach fliegt alles auseinander. Auf der persönlichen Ebene eskalieren Streitigkeiten, Vorwürfe und gegenseitiges Unverständnis. Und auf gesellschaftlicher Ebene vollzieht sich ein politischer Umbruch: Nur wenige Monate später regiert der Faschismus das Land.
Ihre Vergangenheit könnte unsere Zukunft sein
Das Treffen der Freund:innen an der Tankstelle, ist ein Szenario, das uns in einer möglichen Zukunft ebenfalls erwarten könnte. Rechte Parteien und faschistisches Denken übernehmen aktuell in vielen Ländern die Vorherrschaft. Rassistisches Gedankengut und menschenfeindliche Ansätze werden en vogue und gewählt. Durch diesen Ausblick in eine mögliche Zukunft funktioniert das Stück als Mahnmal, denn es wird gezeigt, was sich bei der Machtübernahme der Faschisten verändert: Eine Bürgerwehr wird eingeführt und kontrolliert die Gesellschaft, queerfreundliche Clubs und Theater werden mit der Begründung von Seuchengefahr geschlossen, eine Umsiedlung von Migrant:innen findet statt, es gibt neue Waffengesetze, die Demokratie wird abgeschafft.
Lars Werner stellt in diesem Stück die Frage, was passieren kann, wenn es jetzt keinen Umschwung gibt – wie dieser gelingen könnte, darauf gibt das Stück leider keine Antworten. Das politische Engagement der Protagonist:innen bewirkt auf praktischer Ebene nichts – die Nazis halten dennoch Einzug, auch wenn man gegen sie demonstriert und anschreibt.
Es herrscht also eine gewisse Hilflosigkeit und Verzweiflung zwischen den vier Freund:innen, Vorwürfe kommen auf. Silvio, der als Einziger nicht aus Deutschland geflohen ist und sich der Regierung angeschlossen hat, um von innen heraus Veränderungen zu erwirken, wie er sagt, wird als Verräter der linken Gruppe angesehen. Er hingegen prangert an, dass ein digitales Engagement keine richtige Handlung sei und dass die Taktik der Linken zu einer Verschärfung des Konfliktes führe.
Unter der Regie von Leonhard Dick und der Dramaturgie von Lea Seiz zeigt sich „Die ersten hundert Tage“ als ein politisches Lehrstück – es ist eine Reflexion über die Fragilität einer demokratischen Gesellschaft und die Konsequenzen politischer Entscheidungen auf der persönlichen Ebene. Schon in der ersten Szene wird klar, dass es sich um ein atmosphärisches Stück handelt, das eine beklemmende Grundstimmung aufweist. Das reduzierte Bühnenbild von Alex Gahr inszeniert die Tankstelle als isolierten Ort der Konfrontation. Die klaustrophobische Atmosphäre wird durch Oscar Hoppes Sounddesign verstärkt, das die innere Erlebniswelt der Figuren musikalisch untermalt.
Die Schauspieler:innen überzeugen durch ein authentisches und einfühlsames Spiel, das die inneren Konflikte ihrer Charaktere eindrucksvoll zum Ausdruck bringt. So eröffnet das Stück über das Politische hinaus einen Raum ins Private. Der gesellschaftliche Zusammenbruch unserer Demokratie verläuft parallel mit dem Bruch dieser langjährigen Freundschaften.
Mehrfach wird betont, dass die Wahl von Freund:innen im ersten Semester total random erfolgt. Der Zufall entscheidet darüber mit wem du in welcher Vorlesung sitzt und doch ergeben sich daraus oftmals Bindungen, die ein Leben lang halten und bedeutsam sind. Es sind Menschen, die in einer bestimmten Lebensphase vielleicht sogar wichtiger sind als die Familien, weil man mit ihnen zusammen wohnt, dieselben Seminare besucht und feiert. Schon rein vom zeitlichen Invest gibt es im Leben kaum mehr Möglichkeiten für so intensive Auseinandersetzungen mit Freund:innen.
Was passiert aber, wenn diese Menschen sich anders entwickeln und plötzlich in einem Lebensentwurf stecken, der sich vollkommen ins Gegenteil verkehrt? Wie loyal kann man bleiben? Und was bedeutet der Satz von Vera: „Ihr müsst nicht miteinander befreundet sein, nur weil ihr euch liebt“? Das Stück fordert sein Publikum heraus, sich mit Fragen wie dieser auseinanderzusetzen und die eigene Haltung zu reflektieren. Ist „Nie Wieder“ wirklich Jetzt – oder ist es dafür eigentlich schon zu spät?
Text: Veronika Fischer, Bild: pd/Ilja Mess. Die Besprechung erschien zuerst im Magazin Saiten.
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