
Jürgen Klöckler, Leiter des Konstanzer Stadtarchivs, hielt auf Anregung der LLK im Ratssaal einen Vortrag zum achtzigsten Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Hier sein Beitrag im Wortlaut.
Heute vor exakt 80 Jahren endete der Zweiten Weltkrieg mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Berlin-Karlshorst.
Ein von Deutschland entfesselter Weltkrieg hat geschätzt 65 Millionen Tote gefordert, unermessliches Leid gebracht und unvorstellbare Zerstörungen verursacht. Das nationalsozialistische Regime hat Verbrechen begangen, die an Monstrosität nicht zu überbieten sind. Der Holocaust ist einzigartig in der Menschheitsgeschichte.
Erst mit der alliierten Besetzung des Deutschen Reiches ging der Krieg in Europa zu Ende. Heute herrscht in Deutschland Einigkeit darüber, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung war.
In seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den heutigen Tag als Tag der Befreiung „von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ bezeichnet. Intensiv wurde zuvor und danach in der Bundesrepublik darüber diskutiert, ob der 8. Mai 1945 für die totale militärische Niederlage oder für die Befreiung vom Nationalsozialismus stehe.
Diese Diskussion ist nach der Jahrtausendwende deutlich leiser geworden.
Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte am 8. Mai 2000: „Niemand bestreitet heute mehr ernsthaft, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung gewesen ist – der Befreiung von nationalsozialistischer Herrschaft, von Völkermord und dem Grauen des Krieges.“
Dabei war das Deutsche Reich – nüchtern betrachtet – 1945 keineswegs von seinen Kriegsgegnern befreit worden. Am 10. Mai 1945 erhielt der Kommandierende General der amerikanischen Besatzungstruppen eine Weisung aus Washington, die Direktive JCS 1067, in der deutlich formuliert war, um was es bei der Besetzung ging. Ins Deutsche übersetzt stand darin zu lesen: „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat.“ Richtig daran war, dass nur derjenige befreit werden kann, der zuvor in Gefangenschaft gelebt hat.
Befreit werden im eigentlichen Sinne konnten somit ausschließlich die Opfer des Krieges im besetzten Deutschland: die Millionen Zwangs- und Fremdarbeiter, die Insassen der Konzentrationslager, die alliierten Kriegsgefangenen, insbesondere die sowjetischen, und die Insassen der Euthanasieanstalten.
Sie alle wurden befreit, wie überhaupt nur besetzte Staaten befreit werden konnten. Aber Deutschland war bekanntlich nicht von den Nationalsozialisten besetzt worden. Im Gegenteil: die Masse der deutschen Bevölkerung hatten das NS-Regime gestützt, die allermeisten sogar bis zuletzt. Man muss sich vor Augen halten: die NSDAP hatte mehr als 8 Millionen Mitglieder, die Waffen-SS mehr als 900.000 Soldaten, die Wehrmacht selbst rund 17 Millionen Mann.
Sehr früh machte sich in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland daher das Bedürfnis bemerkbar, die Täterrolle abzustreifen.
Dazu gab es prinzipiell zwei Möglichkeiten: Entweder man verdrängte oder beschwieg die Verbrechen des NS-Regimes, oder aber man deutete die Kapitulation der Wehrmacht zur Befreiung um, sodass auch die Deutschen selbst als Opfer Hitlers erschienen.
Es ist doch ein eklatanter Widerspruch, der den Umgang mit dem 8. Mai 1945 prägt und der lautet: Wie kann ein Volk befreit werden, das mitverantwortlich ist für eines der mörderischsten Regime der Weltgeschichte?
Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss hat diesen Widerspruch in den Abschlussberatungen des Parlamentarischen Rats in Bonn offen ausgesprochen. Er führte im Frühjahr 1949 aus: „Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“
Wiederum an einem 8. Mai, nämlich am 8. Mai 1949, verabschiedete der Parlamentarische Rat schließlich das Grundgesetz, die Grundlage unserer Demokratie.
Welche gedenk- und erinnerungspolitischen Folgerungen können wir daraus ziehen?
Auch 80 Jahre nach Kriegsende ist historische Bildungs- und Forschungsarbeit zur lokalen NS-Geschichte von immenser Wichtigkeit. In diesem Zusammenhang ist auch die Arbeit der Initiative Stolpersteine zu würdigen. Institutionell wird die historische Grundlagenforschung vor allem durch das Rosgartenmuseum und das Stadtarchiv geleistet.
Es dürfte dem Gemeinderat wahrscheinlich nicht bewusst sein, dass kaum eine Stadt im südlichen Baden-Württemberg die Erforschung des Nationalsozialismus und der Besatzungsjahre so weit vorangetrieben hat wie Konstanz.
Denken sie nur an die beiden letzten Bände der großen Stadtgeschichte aus der Feder von Prof. Lothar Burchardt, die in den Jahren 1990 und 1996 veröffentlicht wurden. Sie behandeln die Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Universitätsgründung.
Denken Sie bitte aber auch an die zahlreichen zeitgeschichtlichen Ausstellungen des Rosgartenmuseums. Etwa die an die nunmehr in die Dauerausstellung integrierte Schau „Konstanz im Nationalsozialismus“, oder an die im Jahr 2009 gezeigte Ausstellung „Sommer 39. Alltagsleben am Anfang der Katastrophe“.
Schließlich sei noch die überaus erfolgreiche, 2002 in der alten Sparkasse gezeigte Sonderausstellung „mager & knapp. Alltagswelten in der Grenzstadt Konstanz 1920-1950“ erwähnt.
Weitere Beispiele der geleisteten historischen Bildungsarbeit sind als Bücher in den beiden Publikationsreihen des Stadtarchivs erschienen, nämlich der „Kleinen Schriftenreihe“ und den „Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen“. Hier wurde intensive Quellenarbeit zur Aufarbeitung des lokalen NS-Geschichte geleistet.
Nur ein Beispiel: in einer rund 500-seitigen Untersuchung wurde die Rolle der hiesigen Stadtverwaltung im Nationalsozialismus detailliert geklärt und erstmals das lokale NS-Herrschaftssystem analysiert, was wiederum zum Grundstock weiterer Forschungen wurde. So etwa zur Rolle des vormaligen Oberbürgermeisters Bruno Helmle, dem in einem von Universität und Stadtarchiv im Jahr 2012 erstellten Gutachten seine führende Mitwirkung als Finanzbeamter beim Finanztod der Mannheimer Juden nachgewiesen werden konnte.
Die Expertise von Rosgartenmuseum und Stadtarchiv floss zuletzt auch in die Straßennamensdiskussion ein.
Fazit: Zeitgeschichtliche Forschungen, Publikationen und Ausstellungen kosten Zeit und Geld, keine Frage. Aber ich meine, dass es gutangelegte Finanzmittel sind, wenn die Stadtgesellschaft über die eigene Geschichte im 20. Jahrhundert objektiv, quellengestützt und wissenschaftlich fundiert informiert wird.
In diesem Sinne ist der 8. Mai auch für unsere Stadtgesellschaft ein Tag der Befreiung, nämlich eine Befreiung von Geschichts-Mythen, biographischen Vertuschungsversuchen und stadthistorischen Halbwahrheiten, die nach dem 8. Mai 1945 auch in dieser Stadt virulent waren.
Text: Jürgen Klöckler, Bild: Stadtarchiv Konstanz NL Karl Leo Nägele
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