
Die Wärmewende ist realisierbar, die enormen Kosten sind stemmbar – davon ist solarcomplex-Vorstand Bene Müller überzeugt. Nahwärmenetze sind denn auch ein Schwerpunkt von Großprojekten, die das Singener Ökounternehmen anpacken will. Doch dafür braucht es Geld. Um die Investitionen solide mit Eigenkapital zu finanzieren, gibt solarcomplex ab sofort wieder „Genussscheine“ aus.
Der kleine Ortsteil Mauenheim der Gemeinde Immendingen (Landkreis Tuttlingen) war 2006 das erste „Bürgerenergiedorf“ in Baden-Württemberg. Das bedeutet: Es kann sich seither selbst mit Energie versorgen. Gebaut wurde das Nahwärmenetz von solarcomplex. Heute, fast zwanzig Jahre später, hat das Singener Bürgerunternehmen rund 130 Kilometer Nahwärmenetze in zwanzig Gemeinden errichtet; rund 2000 Gebäude sind daran angeschlossen. Auf 150 Millionen Euro belaufen sich die über die Jahre getätigten Investitionen.

Die Erweiterung des bestehenden Wärmenetzes in Hilzingen ist mit einer Investitionssumme von rund 25 Millionen Euro das aktuell größte Projekt im Bau, mit dem ab kommenden Jahr 250 Gebäude mehr mit grüner Energie beheizt werden können.
Netze bald auch in Konstanz, Singen und Radolfzell?
Was in kleinen Gemeinden begann und zur Erfolgsgeschichte wurde, soll nun auch von den drei großen Städten des Landkreises – Konstanz, Singen, Radolfzell – angepackt werden, um im nächsten Jahrzehnt das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.
Der Finanzbedarf, der in den Kommunen für diese Wärmewende benötigt wird, ist allerdings immens: Er dürfte sich in Radolfzell auf etwa 100 Millionen Euro belaufen, in Singen über 100 Millionen kosten und in Konstanz sogar 400 Millionen übersteigen, so die Schätzung von solarcomplex-Chef Müller. Insgesamt steht also eine Summe von mindestens 600 Millionen Euro im Raum. Und das bei bekanntlich klammen Kassen in allen Kommunen.
Während in Radolfzell und Konstanz die jeweiligen Stadtwerke maßgebende Akteure der Realisierung der Wärmewende sein werden, werden in Singen voraussichtlich die nicht börsennotierte solarcomplex AG und die Thüga Energie GmbH Netze bauen. Die Thüga will ab dem kommenden Frühjahr mit dem Bau ihres Nahwärmenetzes im „Quartier Masurengebiet“ in der Südstadt beginnen.

Nicht in Schreckstarre verharren
Bene Müller ist fest davon überzeugt, dass die kommunale Wärmewende realisierbar ist. Warum und wie sie klappen kann, legte er bei einem Pressegespräch anlässlich der Ausgabe neuer Genussscheine dar. So zeige ein Blick auf Singens Stadtgeschichte, wie im vergangenen Jahrhundert die komplette Infrastruktur errichtet wurde: In den 1920er Jahren wurden Wasser-, Abwasser- und Stromleitungen verlegt, nach 1945 dann die Leitungen für Gas, Telefon und neuerdings Glasfaser. Große Transformationen wurden von unseren Groß- und Urgroßeltern angepackt und umgesetzt. Warum also sollen wir heute die Energiewende nicht schaffen? Zumal die dafür benötigte Technologie längst ausgereift ist.
Wie das Ganze finanziert werden könnte, erklärte er anhand eines zwar „etwas populistischen“, aber durchaus nicht unrealistischen Rechenbeispiels: Laut einem Spiegel-Bericht vom April dieses Jahres liegt das private Geldvermögen in Deutschland bei 9050 Milliarden Euro. Bei 83,5 Millionen Einwohner:innen ergibt das ein durchschnittliches Pro-Kopf-Vermögen von 108.000 Euro.
Wohl wissend, dass diese Summe äußerst ungleich verteilt ist – einige haben grotesk viel, viele dagegen gar nichts – hat Müller diese Zahlen auf den Landkreis Konstanz heruntergerechnet: Bei 291.000 Einwohner:innen wäre demnach rein rechnerisch ein privates Geldvermögen von 31 Milliarden Euro vorhanden. Schon weniger als fünf Prozent davon, also 1,5 Milliarden Euro, würden – so Müller – ausreichen, um alle anstehenden Investitionen zu finanzieren.

Aber dieser Betrag müsse nicht allein von den Sparkonten der Bürger:innen kommen. Aus eigener Erfahrung beim Bau von Wärmenetzen wisse er, dass ein Eigenkapitalanteil von zehn bis zwanzig Prozent ausreiche, um von regionalen Sparkassen ausreichend Fremdkapital als Darlehen zu erhalten.
Auch für Konstanz sieht er durchaus großes, bislang nicht ausgeschöpftes Potenzial, mit Bürgergeld die Energiewende und die benötigten Investitionen in Wärmenetze voranzubringen. Konstanz sei eine durchaus reiche Stadt und das Ganze müsse halt offensiver angegangen werden, so seine Empfehlung in Richtung der Konstanzer Stadtwerke.
„Öko-Festgeld“ in Genussscheinform
Nach Beendigung der vor einem Jahr gestarteten Aktienausgabe bietet solarcomplex ab sofort wieder Genussscheine an. Damit will das Unternehmen insgesamt fünf Millionen Euro Bürgergeld einsammeln. Die Genussscheine werden in einer Stückelung von 2.500 Euro ausgegeben, mit einer festen jährlichen Verzinsung von 2,5 Prozent und einer Mindestlaufzeit von drei Jahren. Danach können sie beidseitig gekündigt werden.
Aber weshalb Genussscheine? Warum nicht stärker für den Aktienkauf werben? Damit spreche man eine andere Anlegergruppe an, sagt der solarcomplex-Chef: Anders als Aktionär:innen sind Inhaber:innen von Genussscheinen nicht am Unternehmen beteiligt und haben auch kein Mitspracherecht. Dafür bekommen sie statt einer schwankenden Rendite eine garantierte jährliche Verzinsung.

Neues Geld für anstehende Projekte
Benötigt wird das neue Genussschein-Kapital für Projekte, die 2026 und in den Folgejahren anstehen. Dazu gehören der Solarpark „Kohler“ bei Engen-Welschingen und der Windpark „Langwieden“. Drei Windkraftanlagen sollen zwischen Engen und Immendingen an der Autobahn A81 gebaut werden. Betreibergesellschaft ist die „Interessengemeinschaft Hegauwind“ (solarcomplex gehört zu den Kommanditisten), Projektiererin ist die „Badenovia Wärmeplus“ aus Freiburg, die im Sommer den Genehmigungsantrag beim Landratsamt Konstanz eingereicht hat.
Mit den geplanten Wärmenetzen „Bruderhof“ und „An der Aach“ stehen für solarcomplex zwei beachtliche Großprojekte auf Singens Weg zur Klimaneutralität an. Die Wegerechte sind bereits gesichert, in Kürze werden erste öffentliche Veranstaltungen und Gespräche mit den Anwohner:innen stattfinden.
Aktuell verfügt solarcomplex über eine Eigenkapitalsumme (Bürgerkapital) von rund 67 Millionen Euro. Dies setzt sich zusammen aus Aktienkapital in Höhe von 43 Millionen Euro, Kommanditkapital (Windpark „Länge“) von 15 Millionen Euro und 9 Millionen Euro „altem“ Genussschein-Kapitel. „67 Millionen Euro sind nicht Nichts“, so Müller, aber es sei halt nur ein Bruchteil dessen, was für künftige Investitionen gebraucht werde. Sollte es gelingen, mittels der neuen Genussschein-Tranche weitere fünf Millionen als Bürgerkapital zu erhalten, könne von regionalen Sparkassen ein Darlehen von 25 Millionen Euro dazukommen, so dass insgesamt zusätzliche 30 Millionen Euro zur Verfügung stünden.
Energiequellen für Wärmenetze
Konstanz ist dank Bodensee direkt von einer großen Wärmequelle umgeben. Da dessen Wassertemperatur infolge der Erderhitzung ohnehin schon zu hoch ist, wäre jedes Hundertstel Grad Abkühlung durch Wärmetauscher sogar von Vorteil. Auch Radolfzell könnte Seewasser als Energiequelle nutzen.
Für Singen hingegen wäre die Nutzung von Seethermie nicht nur enorm aufwändig und extrem teuer, sondern auch unsinnig: Die Hohentwielstadt hat ganz andere Potenziale. Zum einen stünden aufgrund seiner Großindustrie gigantische Mengen an industrieller Abwärme zur Verfügung, erläutert Bene Müller. Zum anderen könnte auch aus der Aach ganzjährig etwa 30 Megawatt Wärme gewonnen werden. Da die Aach aus der Donauversickerung gespeist wird und etwa 55 Kilometer unterirdisch fließt, bis sie an der Aachquelle entspringt, habe sie sommers wie winters eine fast gleichbleibende Temperatur – im Sommer etwas kühler, im Winter etwas wärmer als normale Oberflächengewässer. Rathaus und Stadthalle werden bereits mit Aach-Wasser beheizt und gekühlt.
Eine dritte Wärmequelle könne der Abwassersammler sein, der von Engen kommend am Münchried-Gymnasium vorbei zur Kläranlage Bibertal-Hegau ins schweizerische Ramsen fließt. Mit einer durchschnittlichen Temperatur von zwischen 12 und 15 Grad Celsius wäre auch er eine ideale Energiequelle. Das Abwasser seiner Kläranlage als Wärmequelle zu nutzen, sieht übrigens auch Radolfzell vor.
Vor dem Roll-back in fossile Zeiten?
Alles in allem ein Mut machendes Zukunftsszenario: Ausreichend regenerative Energiequellen – Sonne, Wind, Wasser – sind vorhanden. Die Technologie, diese zu nutzen, ist entwickelt. Möglichkeiten und Ideen, die grüne Transformation zu finanzieren und sie bezahlbar für alle zu gestalten, sind vorhanden – wenn, ja wenn da nicht die langsam mahlenden Mühlen der Bürokratie wären und wenn seitens der Bundespolitik nicht weiter verunsichernde Signale gesendet würden …

Für das Wärmenetz Dingelsdorf-Wallhausen (kurz DiWa) wartet solarcompex nämlich immer noch auf die Förderzusage der „Bundesförderung für effiziente Wärmenetze“ (BEW) des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Bereits im Sommer 2024 wurden die Verträge für die Hausanschlüsse geschlossen und der Förderantrag gestellt. Da gilt es weiterhin Geduld bewahren und zuversichtlich bleiben – denn auch die Genehmigung für das Wärmenetz in Hilzingen dauerte, und zwar sehr lange.
Nur: Warten können wir uns längst nicht mehr erlauben. Wie Energiewende im Turbomodus umgesetzt werden kann, macht uns China vor: Zwar bleibt das Land immer noch der weltweit größte CO2-Emittent, doch der Ausstoß ist im vergangenen Jahr nicht weiter gestiegen. Zwar nutzt das Land weiter massiv fossile Energie und baut gigantische Kohlekraftwerke, doch gleichzeitig hat es die führende Rolle beim Einsatz erneuerbaren Energien – Windkraft, Solarenergie, Batterietechnik und E-Mobilität – eingenommen.
Und was macht Deutschland? Naturwissenschaftler Harald Lesch forderte anlässlich der UN-Klimakonferenz COP30 in einem „heute journal“-Interview eine entschiedenere Klimapolitik. Derzeit hätten wir „eine Politik von zwei Schritten vor und einen zurück, manchmal sogar drei Schritten zurück“. Und momentan seien wir wieder „in so einem Roll-back“. Oft werde so getan, als stünden Ökonomie und Ökologie zueinander im Widerspruch. Dabei plädieren nicht nur ökologische Verbände für mehr Klimaschutz und Klimatechnologie, auch „die Weltbank sagt das, viele Unternehmen sagen das, die Rückversicherungen sagen es überall auf der Welt“.
Und an jeden Einzelnen gerichtet, lautet seine Empfehlung: „Beteiligen Sie sich an der Energiewende, werden Sie Mitglied in Energiegenossenschaften. Bürgerbeteiligung ist ein ganz wichtiges Rad, an dem wir alle drehen können, davon kann man sogar noch profitieren.“ Also wenn diese wissenschaftlich belegte Einschätzung nicht exakt zur Philosophie von solarcomplex seit Gründung des Ökounternehmens vor 25 Jahren passt!
Foto der Heizzentrale Hilzingen 2 und Grafiken: © solarcomplex.


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