
Seit vielen Jahren arbeitet das Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren intensiv an der Aufarbeitung der in der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen. Am 2. Juli 2024 – genau 79 Jahre, nachdem US-amerikanische Offiziere das Haus erstmals betraten und die verübten Gräuel realisierten – wurden dort zwei neue Erinnerungsorte eingeweiht.
Mehr als 2500 Patientinnen und Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren und ihrer Zweigstelle im Kloster Irsee, darunter viele Kinder, wurden in der Ära des Nationalsozialismus ermordet: deportiert in die zentralen Mordanstalten der „Aktion T4“ – oder direkt vor Ort getötet.
Der Leiter der Anstalt, Dr. Valentin Faltlhauser (1876–1961), hatte sich Anfang der 1930er Jahre von der Reformpsychiatrie abgewandt und war mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten zu einem der vehementesten Vertreter der „Rassenhygiene“ zum Schutz des „gesunden Volkskörpers“ geworden. In Kaufbeuren legte Faltlhauser eine „Erb- und Sippenkartei“ an, gründete eine Ortsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, sprach sich ab Mitte der 1930er Jahre offen für Zwangssterilisation aus, arbeitete für das Rassenpolitische Amt der NSDAP sowie als Richter am Erbgesundheitsgericht in Kempten.

Systematische Morde
Im August 1940 begann Faltlhausers offizielle Tätigkeit als Gutachter der „Aktion T4“. Er selektierte für Tötungen vorgesehene Patientinnen und Patienten und erstellte die Listen für deren Deportation in die Mordanstalten Grafeneck oder Hartheim bei Linz.
Nachdem die Vergasungen der „Aktion T4“, das die Nazis euphemistisch „Euthanasie“ („guter“, „süßer“ oder auch „schöner Tod“) nannten, im August 1941 offiziell eingestellt worden war, entwickelte Faltlhauser mit einer gezielt eingesetzten „Hunger-Kost“ (auch „Entzugs-Kost“ oder „Euthanasie-Kost“) die Fortführung des abgebrochenen Mordprogramms, durch die „arbeitsunfähige“ Pfleglinge innerhalb von drei Monaten verhungerten. Gemordet wurde in Kaufbeuren im Rahmen der „dezentralen Euthanasie“-Maßnahmen aber nicht nur durch systematisches Verhungernlassen, sondern auch durch Überdosierung von Medikamenten und Injektionen.
Kaufbeuren-Irsee hatte auch eine der reichsweit über dreißig „Kinderfachabteilungen“, die eigens zur Ermordung der vom „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ ausgewählten Kleinkinder eingerichtet worden waren. Nach Einführung der amtlichen Meldepflicht für Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen im August 1939 – Zielgruppe dieses „Euthanasie“-Programms waren vor allem jene Kinder, die nicht bereits in Anstalten untergebracht waren, sondern noch bei ihren Eltern lebten – wurden diese „Reichsausschusskinder“ in den Fachabteilungen innerhalb kürzester Zeit umgebracht.
Vom Aktenstudium zum Buch
Doch davon ahnten die US-Amerikaner, die Kaufbeuren am 27. April 1945 eingenommen hatten, nichts. Weshalb sie das Krankenhaus erstmals am 2. Juli 1945 betraten und dort völlig ausgemergelte Überlebende des Mordprogramms vorfanden. Die vorgefundenen Patientenakten und Unterlagen über die dort verübten Verbrechen wurden von den Alliierten aufgearbeitet und dienten in mehreren frühen Strafprozessen als Belege der Verbrechen der Nazis.

Danach wurden die Schicksale dieser Menschen jahrzehntelang verdrängt und totgeschwiegen. Das änderte sich in Kaufbeuren erst, als Michael von Cranach 1980 die Stelle des leitenden ärztlichen Direktors des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren antrat (er leitete die Klinik bis 2006). Als einer der ersten deutschen Klinikdirektoren begann er, die Geschichte der NS-Psychiatrie-Verbrechen aufzuarbeiten. Dafür sichtete er mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Verwaltungs- und Prozessakten, die noch vorhandenen Krankengeschichten der ermordeten Menschen und sprach mit Zeitzeugen.
Durch Vorträge und Veröffentlichungen setzte er sich für die Anerkennung dieser Menschen als Opfer des NS-Regimes ein. Auch regte er Autoren und Künstlerinnen an, sich mit dem Anliegen, den Opfern die Würde zurückzugeben, auseinanderzusetzen: So übergab er im Jahr 2002 dem Autor Robert Domes die Krankenakte von Ernst Lossa, der als Jenischer mit dem Stigma des „Zigeuners“ belegt, im Alter von 14 Jahren ermordet wurde. Er solle sie lesen, um vielleicht ein Buch daraus zu machen. Dieses Buch hat Robert Domes geschrieben. Es erschien nach fünfjähriger Recherche als Roman-Biografie im Jahr 2008 unter dem Titel „Nebel im August – die Lebensgeschichte des Ernst Lossa“.
Unter freiem Himmel
Von Cranach war es auch, der im Jahr 2015 die Ausstellung „In Memoriam“ im Stadtmuseum Kaufbeuren kuratierte. Auf dieser zum Gedenken an die Opfer des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms“ konzipierten Ausstellung baut der neue Erinnerungsort auf – nun unter freiem Himmel direkt am früheren Tatort, der dadurch zu einem jederzeit frei zugänglichen Informations- und Gedenkort wurde.
Auf den acht Stelen in Form von aufgeklappten Büchern werden die verschiedenen Phasen des NS-Vernichtungsprogramms wie die „Aktion T4“, das Hungersterben und die gezielten Tötungen durch Medikamente dargestellt und Täter und Täterinnen namentlich benannt. Anhand von Fotos und überliefertem Aktenmaterial erzählt die Ausstellung vom Schicksal der Patientinnen und Patienten und dem massenhaften Mord in der Heil- und Pfegeanstalt Kaufbeuren. Auch die jahrzehntelang andauernde mangelnde Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen wird thematisiert.
Jugendprojekt „Ich esse / du isst“
Wie kann die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“-Verbrechen und die Zwangssterilisationen durch Kunst lebendig gehalten werden? Diese Frage stellten sich Jugendliche des Jakob-Brucker-Gymnasiums und Auszubildende des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren; sie hatten sich im Rahmen des bundesweiten Gemeinschaftsprojekts „NS-Euthanasie erinnern – inklusive Gesellschaft gestalten“ der Zeitbild-Stiftung, des Bundesfinanzministeriums sowie der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) getroffen.

Da die Leiterin des Bezirksarchivs Schwaben, Petra Schweizer-Martinschek, kurz zuvor im Klinikarchiv Zinkteller mit der Gravur der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee gefunden hatte, auf denen den Opfern in Kaufbeuren ab 1941 ihre „Hungerkost“ verabreicht wurde, entschieden sich die Jugendlichen für dieses Thema – und setzten es um. Unterstützt vom Künstler Andreas Knitz, der das Denkmal der „Grauen Busse“ entworfen hatte, schufen sie 14 neue Zinkteller und versahen sie mit ihren ganz persönlichen Gedanken.
Neben dem Klinikeingang wurden die Zinkteller am 2. Juli 2025, dem Tag der Enthüllung der Stelen, an der Fassade des Bezirkskrankenhauses angebracht – direkt unter dem früheren Büro des ehemaligen Direktors Valentin Faltlhauser.
„Es kann wieder geschehen“
Primo Levis Mahnung an uns steht hervorgehoben auf der ersten Gedenkstele: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“. Die Worte, die uns der Auschwitz-Überlebende kurz vor seinem Tod hinterließ, sind – bezogen auf die hier verübten Massenverbrechen – aktueller denn je.
Denn die Idee vom „wertvollen“ und vom „weniger wertvollen“ Leben wird in den USA längst wieder offen propagiert. Dort ist eugenisches Denken bereits wieder salonfähig. Milliardäre wie Elon Musk oder der deutschstämmige Peter Thiel unterstützen nicht nur eine Bewegung von Menschen, die sich Pronatalisten nennen und dazu aufrufen, möglichst viele Kinder zu bekommen. Sie sehen in der demografischen Entwicklung zudem eine größere Bedrohung als in der globalen Erderwärmung und erklären auch gleich, wer allein diese Bedrohung stoppen kann und wer möglichst viele Kinder bekommen soll: Ausschließlich weiße, wohlhabende, gesunde Menschen mit betont traditionell-christlicher Weltanschauung. Menschen mit „guten Erbanlagen“. Was als gesellschaftliche Notwendigkeit postuliert wird, um den Untergang der christlichen Welt zu verhindern, impliziert, dass schwarze oder arme Familien am besten, wenn überhaupt, möglichst wenig Kinder bekommen sollen.
Diese makabere Renaissance eugenischen Denkens offenbart, wie wichtig für alle frei zugängliche Informationsangebote wie jene am Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren sind. Denn „es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“.
Vertiefende Information:
Bezirkskliniken Schwaben – Historie
Bezirksarchiv Schwaben
Projektbeschreibung „NS-„Euthanasie“ ERINNERN – inklusive Gesellschaft GESTALTEN“
Die Ausflüge
Dieser Beitrag ist der 44. „Ausflug gegen das Vergessen“ von Sabine Bade. Die bisherigen Ausflüge sind auf der Website der Autorin zu finden.
35 Ausflüge der seemoz-Serie sind zudem in Buchform erschienen: „Ausflüge gegen das Vergessen – NS-Gedenkorte zwischen Ulm und Basel, Natzweiler und Montafon“ (UKV-Verlag, Tübingen, 2021) ist in jedem Buchladen erhältlich. Wie die Fachwelt das Projekt einschätzt, zeigen die Rezensionen von sieben Historiker:innen aus der Region.


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