
Zur Eröffnung der Reihe „Pflege und Alter“ las die Schriftstellerin Maren Wurster im Rathaus Dettingen aus ihren autobiografischen Texten „Totenwache“ und „Papa stirbt, Mama auch“.
Vom 27. bis zum 29. September lud Sarah Seidel, Ortsvorsteherin von Dettingen-Wallhausen und Literaturwissenschaftlerin an der Universität Konstanz, ins Rathaus, um über Probleme einer alternden Gesellschaft zu reden. Den Auftakt machte eine Lesung der Schriftstellerin Maren Wurster. Es folgten das Podiumsgespräch „Altenpflege als gesamtgesellschaftliche Herausforderung“ und die Infoveranstaltung „Zuhause älter werden. Eigenständig – so lange wie möglich!“ Bei dieser präsentierten verschiedene Organisationen ihre Angebote. Man könnte also sagen, die Veranstaltungsreihe bewegte sich rückwärts von der Wache am Totenbett über die Pflege zu Fragen selbstbestimmten Wohnens im Alter.
„Ich habe die Titel nicht aufs Plakat nehmen wollen. Ich befürchtete, dass sie abschrecken.“ Sarah Seidel formuliert diese Bedenken mehrfach. Bei den Titeln handelt es sich um „Totenwache“ und „Papa stirbt, Mama auch“. So heißen die beiden Bücher, aus denen Maren Wurster in Dettingen liest. In „Totenwache. Eine Erfahrung“, publiziert 2022, zeichnet Wurster die drei Tage nach, die sie am Bett ihres verstorbenen Vaters verbracht hat. Der ein Jahr früher publizierte Text „Papa stirbt, Mama auch“ geht es um die Zeit, die ihr Vater und ihre Mutter zeitgleich, der eine hat Krebs, die andere Demenz, in unterschiedlichen Pflegeeinrichtungen verbringen, die Fenster aufeinander zugerichtet, ohne dass die eine oder der andere dies gewusst habe.
Nostra Signora Morte
Warum scheut jemand wie Sarah Seidel, die sich seit langem so intensiv wie kreativ in Forschung, Lehre und vielen Projekten mit existenziellen Fragen beschäftigt, die keine Berührungsängste vor Klinik oder Hospiz hat, den Tod aufs Plakat zu heben? Trotz langer und intensiver Gespräche habe ich diese Frage tatsächlich nie gestellt, es einfach so hingenommen, dass ‚man’ halt nicht so gern über ‚den‘ Tod spricht über den Sensenmann, den ‚Gevatter’, wie Maren Wurster ihn nennt. Der italienische Philosoph Giorgio Voghera, für den der Tod eine Frau, „Nostra Signora Morte“, war, meinte: „Das Geheimnis des Lebens ist, den Tod zu vergessen.“ Vielleicht, so denke ich, ist es eine Scheu, den Tod zu akklamieren, um ihn nicht zu beschwören. Andererseits: hat man nicht Macht über das, worüber man spricht? „Ach, wie gut, dass niemand weiß …“
Und darum ging es ja auch: wie sprechen? Unsere Gesellschaft leidet, wir leiden unter einem Mangel an Worten. Wenn man uns fragt, wie es uns geht, dann sagen wir ‚gut’. Oder wir sagen ‚schlecht’. Wir sagen also nicht, was wir fühlen, sondern wir artikulieren, wie wir das Gefühlte oder auch das Gefühl selbst bewerten. Gut. Schlecht. Das ist wahrscheinlich keine freie Entscheidung, sondern Ausdruck einer großen Hilflosigkeit: welche Wörter könnten denn Gefühle beschreiben? Und: wüsste ich nicht erst dann, wenn ich ein Wort hätte und sei es nur irgendeines, was ich fühle. Leichtigkeit und Traurigkeit, Wut, Zorn Rage – und das ist nicht dasselbe –, Gier und Angst, Bedrängtheit, Lust, Ekstase und abgrundtiefe Leere. Und weiß ich nicht, was ich fühle, weil ich vielleicht meine Bedürfnisse gar nicht kenne, denn sind unsere Gefühle etwas anderes als Gefäße für das, was wir brauchen? Eine streichelnde Hand. Eine Tür, die sich schließt und eine, die sich öffnet. Etwas Mut zugesprochen zu bekommen und gesehen zu werden von Angesicht zu Angesicht.
Wovon sprechen die Worte?
Maren Wurster gibt uns Worte für Erfahrungen und wir machen Erfahrungen mit ihren Worten und mit ihrer Hilfe mit dem, wovon die Worte sprechen. Und vor den Worten war die Erfahrung selbst. „Eine Erfahrung“ ist „Totenwache“ überschrieben und in vielen Interviews betont Wurster immer wieder, dass sie genau diese Erfahrung habe machen wollen. Dass die Bestatterin sie darauf gebracht habe. Und dass sie diese Erfahrungen weitergeben wolle.
„Erfahrungsliteratur“ ist für manche Kritiker:innen und Literaturwissenschaftler:innen ein abschätzig gemeintes Wort, fast obszön, eine Beleidigung. Aber: was wäre Literatur denn anderes als die Weitergabe von Erfahrungen und die Ermöglichung, eine Erfahrung zu machen? Darum lesen wir doch! Das Literarische ist die Form, die einer Erfahrung gegeben werden kann. Im Klappentext von Markus Ostermairs Roman „Der Sandler“ heißt es: „In ‚Der Sandler‘ wird eine Geschichte erzählt, die eigentlich gar nicht erzählt werden darf. Denn sie handelt von der Scham des sozialen Abstiegs – und diese Scham macht die Betroffenen schweigen.“ Markus Ostermair leiht also seine Stimme einer Erfahrung, die nicht seine ist.
Maren Wurster verarbeitet eigene Erfahrungen. Ist diese Unterscheidung wichtig? Oder auch nur möglich? Als Lesende können wir nur in Ausnahmefällen Texte mit ihren Urheber:inne:n verbinden. Und das müssen wir auch gar nicht – schließlich soll der literarische Raum ja auch und gerade denjenigen offen stehen, die nicht dabei waren und auch nicht nachfragen können. Wir können nicht wissen, ob die Erfahrungen, die da als erlebte beschrieben werden, tatsächlich erlebt wurden oder ob sie so erlebt wurden oder doch ganz anders.
„Papa, du bist gestorben“
„Ich habe meine Hände von ihm,“ liest Maren Wurster, „ganz der Vater, wie in so vielem, die gleiche lange Form“ und ich merke, wie ich verstohlen auf ihre Hände, die Hände der Autorin, die diese als Vaterhände beschrieben hat und mir als Zuhörer so vorstellbar gemacht hat, wie ich auf diese Hände schiele und versuche, die Wahrheit des Gehörten zu erhaschen. Ist natürlich Quatsch. Also, nein, das meine ich nicht: Die Hände der Autorin sind schon lang und schlank, aber ich habe ja keinen Vergleich. Doch die Hände der lesenden Autorin lassen ihre Worte einen Moment lang Fleisch werden. Den Satz kann man hören. Die Hände kann man sehen.
„‚Papa, du bist gestorben’, sage ich zu ihm. Es sei wichtig für die Verstorbenen, ihnen das zu sagen. Oftmals wissen sie es noch nicht, hat Angela [die Bestatterin, AKS] mir erklärt. Ich sage es auch zu mir, auch ich weiß es noch nicht so recht.“
Immer brauchen wir andere, die uns sagen, was wir sonst nicht wissen. In „Totenwache“ begegnen wir Maren Wurster auch als Leserin. Ihre Erfahrungen am Totenbett, mit Toten und dem Tod begleiten Texte von Norbert Elias, Michel Foucault, Philippe Ariès, Roland Barthes und anderen.
Text und Leben
Gelebtes Leben und gelesene Texte interpretieren sich dabei wechselseitig: Wie der Text dem Leben eine Sprache verleiht, das Ge- und Erlebte überhaupt fassbar zu machen, so füllt das Leben den Text mit Sinn. Durch diese Wechselbeziehung macht Maren Wurster auch ein Angebot, ihren eigenen Text zu lesen. Und das funktioniert hervorragend! Man kann, die Autorin hat diese Veranstaltungserfahrung schon vor der Lesung mit Sarah Seidel geteilt, in Dettingen sehen, wie die Texte weniger das Bedürfnis auslösen, über die Texte selbst zu sprechen als über Erinnerungen, die sie auslösen. Wer, so denke ich, wird vielleicht, angeregt durch diesen Abend, sich beim nächsten Tod einer/eines Angehörigen eine Aufbahrung wünschen? Ich selbst habe Aufbahrungen bereits erlebt, aber doch erst an diesem Abend gelernt, dass es ein verbrieftes Recht darauf gibt. Zuhause google ich und finde tatsächlich sogar eine Bestatterin in Singen, die sich auf die Begleitung von Aufbahrungen daheim spezialisiert hat: Marti Schruer. Auf Antrag, so lese ich dort, sind auch in Baden-Württemberg 72 Stunden häusliche Aufbahrung möglich.
Die Sprache der Medizin ist ein für Laien kaum lesbarer Code aus lateinischen Begriffen, Abkürzungen und Zahlen. Es ist eine Sprache, in der sich – Maren Wurster beschreibt das mit Foucaults kleinem Buch von der „Geburt der Klinik“ in der Hand – der Mensch in Symptome und Partialereignisse auflöst. Eine Geheimsprache – exkludierend und enteignend. Dieser Geheimsprache setzt Wurster die Wörter, Sätze und Setzungen ihrer Literatur entgegen. Es geht nicht, wie bei all den Apparaten, Injektionen, Infusionen, Proben, Biopsien und Infusionen um ‚Penetration’ – gleich am Anfang von „Papa stirbt, Mama auch“ verwendet Wurster diesen Begriff. Es geht um Berührungen. „Sanft berühre ich Deinen Handrücken.“ „Nun nehme ich Mamas Hand […]“ Berührungen von Körpern werden zu berührenden Wörtern. Sie freue sich, sagt Maren Wurster in Dettingen, wenn ihre Texte andere zum Sprechen bringen.
Berührungen
In „Papa stirbt, Mama auch“ ist die Berührung, eine zarte, zärtliche, auch in der Erzählperspektive enthalten: der Text richtet sich an den sterbenden Vater. „Du“ ist sein erstes Wort – es ist die Geste eines offenen Briefes. Eine Zuhörerin in Dettingen fragt nach der Mutter. Ja, die Autorin ist sehr offen, ja, ihre Beziehung zum Vater sei enger gewesen als zu der, wie sie in an einer Stelle des Textes, die sie auch vorliest, schreibt „beim Fliegeralarm“ in Stuttgart geborenen und dann bei einem Bombenangriff schon als Kleinkind jahrelang verstummten Mutter. Die Mutter kommt in diesem Buch vor als Teil des Sterbens des Vaters.
Sie tritt zunächst auf wie eine Figur aus einem französischen Film: im gelben knappen Bikini eine Hauswand streichend. Später dann ist sie die erste, die sich von der Welt zu verabschieden beginnt: kein Kochen mehr, stattdessen plötzliche Angst, plötzliche raue Worte, das Vergessen einzelner Namen. Nicken im Publikum. Viele kennen das. Viele haben Angst davor.
Obwohl das Mikrofon bestens, ja, fast zu laut eingepegelt ist, bittet ein älterer Herr darum, es doch ‚lauter’ zu machen. Betretenes Schweigen, ganz so, als habe sich der Text jetzt gerade hier materialisiert, als stünde er leibhaftig im Raum, noch bevor das erste Wort gesprochen wurde. Leise setzt sich der Herr um.
Noch lange sprechen die Menschen, die an diesem Abend zugehört haben, miteinander. Teilen Geschichten. Teilen Gefühle. Maren Wurster steht mittendrin und redet mit – keine distanzierte Künstlerin, sondern die Frau von nebenan. Ich bin dankbar für den Raum, den Sarah Seidel mit der Einladung von Maren Wurster geöffnet hat. Ziemlich spät ist es, als ich nach Hause komme. Das Gehörte und Bedachte und danach auch Gelesene arbeitet weiter.
Maren Wurster: Papa stirbt, Mama auch, Berlin: Hanser Berlin 2021, 20,– Euro. Maren Wurster: Totenwache. Eine Erfahrung, Graz e.a.: leykam 2022, 20,– Euro.
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