Bezavta methode figurentheater northeim 2025 08 ©florian feisel

Die Miteinander-Methode: Betzavta in Northeim

Von Albert Kümmel-Schnur (Text) und Florian Feisel (Fotos)
Bezavta methode figurentheater northeim 2025 08 ©florian feisel

Zum neunten Mal trafen sich im August in Northeim Figurenspieler:innen, Wissenschaftler:innen und Puppentheaterbegeisterte zum Figurentheaterfestival „Mit Hand und Fuß“. Dieses Jahr ging es um ein aktuelles politisches Thema: „Wir haben’s in der Hand. Figurentheater & Demokratie“. Im Workshop „Kunst und Demokratie – Kunst der Demokratie – demokratische Kunst“ wurde die Betzavta-Methode vorgestellt.

„Denkt euch mal einen Park aus. Ihr habt 15 Minuten Zeit, gemeinsam einen Park zu erfinden. Ihr dürft reden, aber malen dürft ihr nur abwechselnd.“ Knapp fiel die Anweisung von Marc-Oliver Krampe, Schauspieler, Betzavta-Coach und Mitarbeiter in der Bundeakademie für Kulturelle Bildung, im runden Turmzimmer der Kulturbrauerei im niedersächsischen Northeim aus. An zwei Tischen machen sich Grüppchen von vier bis fünf Menschen an die Arbeit. Schnell entstehen auf großen Bögen Papier Konturen zweier Parks – eher waldartig der eine, eher an klassischer Parkarchitektur orientiert der andere. Schöne Orte, an denen man gern Zeit verbringen möchte.

„Und nun gebt mir mal fünf Minuten Zeit.“ Marc-Oliver Krampe verteilt kleine blaue Zettel auf den Bildern. „Christliche Fundamentalisten“ steht darauf. Und „Drogendealer“, „Spanner“, „CSD-Demo mit viel Nacktheit“. Etwa zwanzig solcher Störzettel liegen nun in den Parkträumen herum und wollen irgendwie bearbeitet werden. Hmm. Dissonanz kehrt ein in die heilen Parkwelten. „Müll“ gehörte auch dazu. 

Dass die christlichen Demonstrant:innen sich nicht so gut mit mit der CSD-Demo vertragen würden und Familien mit kleinen Kindern nicht mit Drogendealern in Kontakt kommen wollen und Nudisten ungern bespannt werden – das liegt auf der Hand. Aus der Idylle ist das Modell eines konfliktbehafteten gesellschaftlichen Raumes geworden. „Ihr könnt jetzt 15 Minuten lang mit der neuen Situation umgehen.“ Nein, was das genau heißen sollte, wollte Marc-Oliver der Gruppe nicht verraten. Sollte man nun Lösungen finden? Sollte hier jede und jeder zu ihrem und seinem Recht kommen? Geht das überhaupt? Und wieviel Selbstentfaltung kann man Menschen mit Bedürfnissen, die sehr massiv in die Bedürfnisse von anderen eingreifen, zubilligen? Puh! Zum Glück ersparte uns Marc-Oliver Neonazi-Aufmärsche.  

Aushalten oder Ausschluss

Je länger man darüber nachdenkt, desto mehr mögliche Konfliktszenarien fallen einem ein. Desto deutlicher wird, dass alle an diesem Workshop Teilnehmenden angestrengt versuchen, durch Raumgliederung, Abgrenzung und Segregation allen, jeder und jedem doch irgendwie einen Ort zu geben. Den christlichen Fundamentalisten etwa wird eine Bühne zugewiesen, weil sie vielleicht eine skurrile Show lieferten. Das ist erst einmal gut gedacht. Irgendwie. Die einen sollen demonstrieren. Die anderen dürfen zuschauen, aber durch die Rahmung „Theater“ wird den bedrohlichen Sprüchen von Anti-Abtreibungsparolen (nur, um mal ein Beispiel zu haben, was solche Gruppen wohl herausschreien mögen) die Ernsthaftigkeit genommen. 

Bezavta3 methode figurentheater northeim 2025 08 ©florian feisel

In der Realität würde eine solche Zuordnung keiner der Gruppen gerecht: die einen sind ja überzeugt, dass sie kein „Theater“ machen, und die anderen wollen, dass man solchen Meinungen eben keine „Bühne“ bietet. Und wollen erst recht keine Publikumsrolle zugewiesen bekommen, die ihnen ein aktives Eingreifen in das Ungewollte definitionsgemäß verbietet. Und das implizite wie explizite, aber stets reale physische Gewaltpotenzial solcher Auseinandersetzungen kommt in unseren Überlegungen ebenfalls nicht vor. 

Irgendwann fragt der Workshopleiter, warum wir eigentlich keine Gruppe ausgeschlossen hätten. Das wäre ja schließlich auch möglich gewesen. Stimmt. Darauf sind wir gar nicht gekommen. Keine der beiden Gruppen hat diese Option ergriffen. Oder Awareness-Teams in den Park bestellt. Oder, die aus Verwaltungsperspektive wahrscheinlichere Option, einer privaten Securityfirma einen Auftrag gegeben. Wenn ich ehrlich bin, möchte ich ja tatsächlich keine Junkies am Kinderspielplatz. Ebenso wie ich der AfD das Recht, wählbar zu bleiben, wirklich gern nehmen würde. 

Ist das Politische auch privat?

Das Spiel bringt mich ins Grübeln, weil es mich mit den Grenzen meiner Toleranz, aber auch meiner Erfahrungswirklichkeit konfrontiert. Ich weiß nun einmal nicht aus eigener Erfahrung, wie es ist, blind zu ein oder sich als Person mit einer anderen Hautfarbe als der der Mehrheitsgesellschaft im Alltag zu bewegen. Oder als Frau. Und wie es war, ein Kind zu sein, daran kann ich mich kaum noch erinnern – ich meine nicht die Fantasie- und Sehnsuchtkinder der Erwachsenen, sondern ein nicht ausgewachsener Mensch, dem dauernd irgendwer irgendwas sagt. Und meine Fantasie reicht nicht aus, mir vorzustellen, wie es wäre, mit der Reichskriegsflagge in der Hand rechte Parolen zu grölen.

Werte und Erfahrungen sind nicht unbedingt kongruent. Kann man beides aufeinander abbilden oder reicht ein bloß formaler Rechtsrahmen aus? Muss er vielleicht sogar genügen, denn wiewohl das Private politisch sein mag, so wenig gilt doch der Umkehrschluss, demzufolge auch alles, was politisch ist, sich gleich bis ins Private erstrecken darf. 

Wie zieht man Grenzen? Wieviel dürfen, können und müssen wir einander zumuten? Wo wird aus Geschmacksfragen Ordnungspolitik und wo kippt diese in staatliche Gewalt um? Wo verletzt zu viel Toleranz das Bedürfnis nach Schutz? Gibt es hier überhaupt stabile Regeln oder muss man das aushandeln? Immer und immer und immer wieder und immer neu.

Ja, muss man. Das ist wenig überraschend. Das macht diese Staats- und Gesellschaftsform – Demokratie ist ja beides – so anstrengend. Aber eben auch unendlich kreativ, wenn man denn bereit ist, diese Kreativität zu nutzen. 

Entscheidend: die Rahmenbedingungen

Dass wir demokratisch kreativ und kreativ demokratisch sein können, ist nicht nur unseren Überzeugungen und Entscheidungen, sondern vor allem unserem Einfühlungsvermögen geschuldet. Denn es – und nichts anderes – macht es möglich, sich vorzustellen, wie es der oder dem anderen geht, wie sie oder er fühlt. Nur aus der Perspektive, dass es denkmöglich ist, in den Mokassins anderer einen oder, von mir aus, sieben Monde lang zu gehen, kann man überhaupt andere als gleichwürdige Gegenüber auffassen. 

Genau dort setzt die Betzavta-Methode an: „Das Konzept ‚betzavta‘ wurde 1988 von der Leiterin des Jerusalemer ADAM-Institutes Uki Maroshek-Klarman entwickelt. Es handelt sich um ein Erziehungs- und Bildungskonzept zur Demokratie-, Toleranz- und Menschenrechtserziehung, das seine Wurzeln in der israelischen Friedensbewegung hat.“

Stell dir vor, dass die andere Meinung, die andere Denkungsart, die andere Weise etwas wahrzunehmen, etwas zu fühlen, möglich ist, ganz egal, wie fremd sie dir erscheinen mag. Wenn dir das gelingt, dann kannst du aus dem Konflikt ins Dilemma gehen. Das ist der entscheidende Schritt. Denn in dem Moment, in dem du die andere Position als immerhin möglich akzeptierst, erlebst du den äußeren Konflikt als inneres Dilemma. Nicht mehr ‚entweder–oder‘, sondern ‚sowohl als auch‘. Und dann sieht man entweder, dass der Konflikt, in dem man sich befindet, nur ein Scheinkonflikt war oder aber, dass man durch eine Veränderung der konfliktgebenden Rahmenbedingungen den Konflikt kompromissfrei auflösen kann. 

Weder Mehrheitsentscheid noch Kompromiss

Weder Mehrheitsbeschluss (da gibt es definitionsgemäß Gewinner:innen und Verlierer:innen) noch Kompromiss sind das eigentliche Ziel eines Betzavta-Prozesses. Es geht vielmehr darum, aus der Anerkennung aller als gleich auch das gleiche Recht aller auf freie Entfaltung abzuleiten. Betzavka geht dabei bedürfnisorientiert vor – und das ist ein entscheidender Trick. Denn nicht jeder meiner Wünsche muss befriedigt werden, sondern immer nur das hinter diesem Wunsch stehende Bedürfnis. Das Problem ist, dass wir alle so wenig gelernt haben, unsere Bedürfnisse, die ja die Basis unserer Gefühle sind, zu verstehen. Die Chance ist, dass wir uns nicht mehr an konträren Meinungen abarbeiten müssen, sondern eine Möglichkeit haben, jenseits des Meinungskriegs miteinander in Kontakt zu kommen.

Und so ist der Workshop auch durchaus persönlich herausfordernd: sich seinen Bedürfnissen und Gefühlen ehrlich zu stellen, kann durchaus schmerzhaft sein. Darum tut es gut, dass Marc-Oliver Krampe ein sehr heilsames Medium mitgebracht hat: einen etwa einen Meter breiten geschlossenen Ring aus elastischem rotem Stoff. 

Tritt man als Gruppe in diesen Ring hinein und beginnt, ihn zu dehnen, indem alle Gruppenmitglieder sich die Stoffbahn auf Schultern und Rücken legen und dann schrittweise rückwärts auseinandergehen, dann ist es möglich, sich von diesem Stoffring halten zu lassen. Alle können gemeinsam sich zurücklehnen und entspannen. Bewegt sich eine Person, spüren das alle anderen. Verlässt eine Person ihre Position, muss die so entstandene Spannungsveränderung von allen gemeinsam ausgeglichen werden. 

Das gilt auch für den umgekehrten Fall, dass jemand neues in den Ring hineintritt, sich ein Plätzchen zwischen den bereits Anwesenden sucht, um sich ebenfalls in den Ring zu lehnen. Auch dann müssen alle mithelfen, eine neue Situation zu schaffen, die es allen ermöglicht, sich gehalten zu fühlen.

Fortsetzung mit Stab

Die Teilnehmenden des Northeimer Workshops waren so begeistert von dem physischen und psychischen Angebot dieses einfachen Mediums, dass Marc-Oliver Krampe es der Gruppe überließ, als er nach zwei intensiven Tagen die Workshopleitung an Florian Feisel, Professor für Figurentheater an der Stuttgarter Akademie, übergab. Was theoretisch durchdacht und emotional erarbeitet wurde in den ersten Tagen, wurde nun übertragen auf das Spiel mit Objekten und einer Maske. Bereits diese Entscheidung war eine Gruppenentscheidung, keine Vorgabe. 

Florian Feisel brachte seine Erfahrung als Lehrer und Figurenspieler sowie ein paar Spielmedien – Holzkugeln an Fäden, Kegel mit einem Kugelkopf an jedem Ende – mit. Von anderen – dem Tuch, aber auch in einem anderen Workshop nicht benötigten Bambusstangen – ließ er sich inspirieren. Er machte Angebote, verstand sich als „Ermöglicher“, also als einer, der einen Raum öffnet für andere. Die zwei Meter langen Bambusstangen etwa legte er nebeneinander in einen Park in Northeim – das Wetter war schön, die Gruppe hatte beschlossen, draußen zu arbeiten – und sagte nur: „Macht gemeinsam etwas mit den Stäben. Ohne Sprache.“ Mehr nicht. 

Jemand nahm einen Stab, lässt ihn mit einem Ende auf den Boden fallen. Es gibt einen Ton. Eine andere nimmt ebenfalls einen Stab und macht mit. Ein Konzert hohl klingender Perkussion entwickelt sich, bis eine ausschert, den Stab quer nimmt und den Raum öffnet. Die Gruppe formt Bilder aus den Stäben – lange Linien am Boden und in der Luft. Die Stäbe stoßen gradeaus in die Luft, formen ein Zelt, brechen zusammen und sind ein flaches Dach, das aggressiv, Stange klappert auf Stange, zerbricht und agierende Stangen sich verwandeln in mit Stangen agierende Menschen.

Angebote annehmen

Eben noch waren die Stangen Figuren, jetzt sind es plötzlich Requisiten. Solche Momente macht Florian der Gruppe bewusst. Und weiter geht das Spiel. Eine Maske kommt hinein. Oh – wenn jemand die Maske aufsetzt, dann endet die Gleichheit der Stäbe; das Spiel zentriert sich um eine Person mit Maske. Setzt man die Maske aber nicht auf, sondern lässt sie wandern von Stab zu Stab, dann kann die Maske unterschiedliche Rollen einnehmen: Sie kann zur großen, alle überragenden Figur werden, sie kann ein bloßes Ding sein, herumgeschubst und misstrauisch erkundet, sie kann eine Person sein, eine Heldin, ein Held oder auch ein Sündenbock. 

Fließend entstehen immer neue Varianten, immer neue Bilder, materialisieren sich Ideen, die es ohne die Bewegungen dieser Mensch-Stock-Hybridwesen nie gegeben hätte, die also nicht vorher ausgedacht waren und dann in Szene gesetzt. Vielmehr waren die Stäbe und ihre Träger:innen, die Maske auch, zu Medien des Denkens selbst geworden. Denken mit einem Stock. 

Alle beherzigten dabei die vom Göttinger Figurenspieler Christoph Buchholz, der Tag für Tag für alle Teilnehmer:innen aller Workshops des Festivals ein einstündiges Warm-up anbot, ausgegebene wichtigste Regel jeder Improvisation: „Nimm das Angebot, das jemand dir macht, immer an.“ Improvisation in der Gruppe funktioniert nicht, wenn alle ihr je eigenes Ding machen, dann kommt nichts Gemeinsames zustande. Nur dann, wenn jemand ein Angebot macht und jemand anderes mit diesem Angebot weiterarbeitet, kommt das Spiel in Fluss. Auch das ist, wenn man’s recht bedenkt, eine Übung in Demokratie.

Die Nacht der Puppen

Das ritualisierte Ende der Figurentheaterkonferenzen in Northeim ist die „Nacht der Puppen“ – die Workshopteilnehmenden zeigen denen der anderen Workshops und einer interessierten Öffentlichkeit, was sie in der vergangenen Woche erarbeitet hatten. Dem Demokratie-und-Kunst-Workshop hatte Florian Feisel von vornherein das wunderbare Angebot gemacht, nicht auf die Bühne zu müssen. „Ihr dürft, aber ihr müsst nicht.“ Jeder Leistungsdruck verschwand. Wenn wir was zeigen, dann nur, weil wir was zeigen wollen. Anderenfalls übernimmt Florian die Aufgabe, einen Einblick in den Workshop zu geben. Ein echter Ermöglicher eben – so einen hätte ich auch gern als Professor gehabt. Nun habe ich immerhin die Möglichkeit, als Lehrender etwas von dieser Haltung zu lernen. 

Wie jedes Jahr war auch dieses Jahr die „Nacht der Puppen“ wieder ein rauschendes Fest. Handpuppen zeigten verschiedene Möglichkeiten, wie einzelne und Kollektive aufeinander reagieren können. Improvisierte Szenen mit großen Packpapierstücken und Maskenköpfen aus Silikon erkundeten den Raum zwischen Nähe und Distanz, kleine Papiertheatersequenzen zeigten die situative Veränderlichkeit einzelner Figuren und leuchtende Fische schwammen als Großpuppen durch die laue Sommernacht. Und wir? Wir durften ganz leicht und unangestrengt Improvisationsübungen aus unserer gemeinsamen Woche zeigen. Jemand pustet, ein Arm schnellt hoch: eine Bühne ist entstanden. Ein zweites Mal pusten und, hops, läuft ein vierbeiniges Handtierchen über diese Bühne. Pust, pust – und der Zauber war verschwunden. 

Und wer will, kann auch dieses minimalistische Spiel politisch lesen. Wem gebe ich eine Bühne? Was ist das für eine Bühne und was gibt sie zu sehen? Wer nutzt sie und wem nutzt sie? Was ist, wenn die Bühne selbst die Handlung bestimmt …? Was, wenn eine Handfigur einen Arm entlang läuft, der sich zunehmend schräg nach oben hebt …? Was, wenn dieser Arm ein rechter ist …? Und was, wenn plötzlich und unerwartet der Arm verschwindet und die Figur, die ihre Spitze gerade als ideales Redner:innenpodium entdeckt hatte, mir nichts, dir nichts, hastdunichtgesehen … im Nichts steht …? Ungehalten …

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