
Antifaschistin, Journalistin, Anti-Apartheid-Kämpferin, Buchautorin und mehrfach Vertriebene: Ruth Weiss war eine unermüdliche Kämpferin für eine bessere Welt. Nun ist sie im Alter von 101 Jahren gestorben.
Die Reise des zwölfjährigen Mädchens Ruth Löwenthal mit ihrer älteren Schwester und ihrer Mutter nach Südafrika hätte ein Abenteuer sein können, und sie war es in gewisser Weise auch. Doch sie erfolgte aus ernstem Grund – die jüdische Familie musste emigrieren und folgte 1936 dem bereits Monate zuvor auf Arbeitssuche nach Johannesburg gereisten Vater.
Vom bayrischen Fürth ging es zunächst per Bahn nach Hamburg; vor der Einschiffung besuchte man den dortigen Tierpark Hagenbeck, der damals auch die vielerorts gängigen „Völkerschauen“ präsentierte: „Buschmänner aus der Kalahari“ wurden vorgeführt. Ruth war aufgeregt, denn dorthin, in deren Heimat, wollten sie doch ausreisen. Die Mutter jedoch war kategorisch: „Kommt“, sagte sie, „Menschen stellt man nicht aus“. So erzählt es Ruth Weiss in ihrem vor einem Monat erschienenen Lebensrückblick „Erinnern heißt Handeln“.
Dieses frühe Erlebnis der Diskriminierung anderer war prägend, wenn auch nicht das erste und schon gar nicht das letzte. Schon vor der Machtübergabe an die Nazis 1933 hatte die Stimmung jüdischen Menschen gegenüber umgeschlagen, danach wurde der Alltag erst recht schwierig, ja unerträglich. Die Reise von Hamburg nach Kapstadt in der Dritten Klasse auf dem Frachtschiff Tanganjika war lang und beschwerlich. Zwischen Dakar, Accra und weiteren Zwischenstationen reisten Afrikaner:innen mit, auf Deck. Die Passagier:innen der Ersten Klasse rümpften die Nase, zumal die „N***“ ihre eigenen Speisen zubereiteten. Eine Frau bot der neugierigen Ruth etwas an, doch sie traute sich nicht, davon zu kosten, weil sie damals doch nur koscher aß.
In Südafrika angekommen, bemerkte sie schnell, wie zweigeteilt dort die Gesellschaft war – noch Jahre vor der gesetzlichen Festschreibung der Apartheid 1948 –, wie unberührbar die Schwarze Bevölkerung für die Weißen war. Es ging nicht lange, bis Ruth, die die Verhältnisse nicht hinnehmen wollte, verächtlich eine „Kafferbootje“ genannt wurde, eine Freundin der „Kaffern“, wie die diskriminierende, inzwischen längst geächtete Bezeichnung für die Schwarzen lautete.
Apartheid, Alltag, Widerstand
Die Familie baute sich eine bescheidene Existenz auf, Ruth lernte Englisch und Afrikaans, durchlief die Schule. Danach wollte sie Jura studieren, doch als Ausländerin erhielt sie keine Stipendien. So heuerte sie bei einer Anwaltskanzlei an, um berufsbegleitend studieren zu können. Diese Episode war von kurzer Dauer, da sie ihrem späteren Ehemann Hans Weiss begegnete, der ihr eine Stelle in seiner Buchhandlung anbot. Nach wechselvollen Arbeitsjahren, in denen sie sich ihre eingehenden politischen und wirtschaftlichen Kenntnisse quasi nebenher aneignete, begann sie als Korrespondentin für deutsche, britische und afrikanische Medien zu arbeiten – ihre ersten Texte erschienen unter dem Namen ihres Mannes. Die Beziehung zum wesentlich älteren Hans Weiss, in Ruths Worten ein „kompliziertes, nervöses Beinahe-Genie“, zerbrach 1962.

Die sechziger Jahre in dem sowieso schon, milde ausgedrückt, ruppigen Apartheidstaat Südafrika begannen mit Unruhen in Orlando, einem Stadtteil von Soweto, deren Zeugin Ruth wurde und die im Massaker von Sharpeville gipfelten. Mindestens 69 Schwarze Protestierende wurden dabei erschossen. Im Rivonia-Prozess von Oktober 1963 bis Juni 1964 wurden elf führende Exponenten des African National Congress beziehungsweise von dessen militärischen Arm Umkhonto we Sizwe und anderer Widerstandsorganisationen zu drakonischen Gefängnisstrafen verurteilt, allen voran der „Angeklagte Nr. 1“, Nelson Mandela.
Auf diesen war Ruth 1962 zufällig im Untergrund, in einem Hinterzimmer, gestoßen, als er gerade eine Suppe löffelte – sie sollte ihn erst Anfang der Neunziger, nach Ende der Apartheid, in einem öffentlichen Rahmen wieder treffen. Denis Goldberg, der einzige weiße Rivonia-Verurteilte, war ein enger Freund Ruths. Sie setzte sich, leider vergeblich, für seine Freilassung ein. 2010 hielt er die Laudatio, als im deutschen Aschaffenburg eine Realschule nach Ruth Weiss benannt wurde.
Umbrüche, rastlose Zeit
Für sie, die mit ihren Artikeln von Anfang an gegen Rassismus und Apartheid Position bezog, wurde die Lage ungemütlich. Sie wurde zur unerwünschten Person erklärt. Nachdem sie 1965 nach Salisbury (Harare) im damaligen Südrhodesien (Simbabwe) umgezogen war, verhängte Südafrika 1966 eine Einreisesperre gegen sie. Zu dieser Zeit verliebte sie sich in einen ehemaligen Arbeitskollegen und wurde schwanger. Unter Komplikationen gebar sie Ende 1966 ihren Sohn Alexander, genannt Sascha.
Es war der Auftakt zu einer rastlosen Zeit und einer eigentlichen Odyssee. Die nicht mehr ganz junge Mutter wechselte häufig, nicht immer freiwillig, Wohn- und Arbeitsort, in verschiedenen Ländern des südlichen Afrika, in London, auch in Köln. Dort war sie einige Monate lang für den Auslandradiosender Deutsche Welle tätig, fühlte sich aber in einem von unbewältigter beziehungsweise verdrängter Vergangenheit gekennzeichneten Umfeld zunehmend unwohl. Ihr Augenstern Sascha, den sie allein aufzog, war immer dabei.
Im südlichen Afrika, vor allem in Simbabwe, Sambia und Angola, erlebte Ruth die unterschiedlich heftigen, aber niemals reibungslos verlaufenden Unabhängigkeitskämpfe in Echtzeit mit. Sie interviewte manche der prominenten Protagonist:innen der Entkolonialisierung, darunter der sich später zunehmend autokratisch verhaltende Kenneth Kaunda (Sambia) und der im Verlauf seiner Amtszeit als Staatspräsident zum regelrechten Diktator gewordene Robert Mugabe (Simbabwe). „My very first question to you is …“, der Satz, mit dem sie ihre Interviews einzuleiten pflegte, wurde legendär. Er diente später, im Jahr 2014, als Titel einer Ausstellung in den Basler Afrika-Bibliographien, die Print- und Tondokumente aus Ruths Archiv zeigte.
Die WOZ kam 1992 zu Ruth Weiss. Für den Afrika-Abend der gross angelegten Veranstaltungsreihe „Schöne Neue Weltordnung“ in der Zürcher Roten Fabrik luden wir sie und den ebenfalls unvergesslichen ägyptisch-senegalesischen Entwicklungsexperten Samir Amin ein. Es wurde, dem Naturell der beiden entsprechend, ein ruhiger, aber eindringlicher Abend vor ungefähr 300 Gästen – mit vielen Fragen und dem Eingeständnis der Ratlosigkeit angesichts der unübersichtlichen, in großer Umwälzung befindlichen Weltlage nach dem Ende des Kalten Kriegs. Samir Amin formulierte das Credo, das über der ganzen Veranstaltungsreihe hätte stehen können: „Jeder Mensch ist anders, alle Menschen sind gleich.“
In der Welt zu Hause
Ruth blieb nach der Veranstaltung für einige Tage in der Schweiz. Als Ehrenpräsidentin der Antiapartheid-Bewegung Schweiz – welche wenig später aufgelöst wurde, weil ihr Anliegen, das Ende der offiziellen südafrikanischen Apartheid, erfüllt war – nahm sie einige Termine in verschiedenen Städten wahr. Ich war spätnachts ihr Chauffeur, wir redeten viel.
Ruth hatte die Gabe der Freundschaft. Wo immer auf dieser Welt sie hinkam, sie fand im Handumdrehen Familie, es entwickelten sich lebenslange Verbindungen. So erging es auch meiner Frau und mir. Ruth wohnte in den Folgejahren zwei- oder dreimal für einige Tage bei uns. Stets fand sich dann Besuch ihrer hiesigen Freund:innen ein. Unvergesslich bleibt der Abend, als sie zusammen mit dem südafrikanischen Dub-Poeten und Musiker Lesego Rampolokeng unsere Bücher durchforstete; wir tauschten einen Robert-Crumb-Comicband gegen seine mit den Kalahari Surfers aufgenommene CD „End Beginnings“.
Auch unsere Söhne, damals noch im Primarschulalter, waren fasziniert von Ruth. Mit ihrer leisen Stimme, die fast ohne Modulation auskam, mit ihrer Art, Fragen zu stellen, mit ihrer Erzählkunst, die sie stets vom Hauptthema auf eine Reihe von Nebengeleisen führte, um endlich souverän alle Klammern zu schließen, schlug sie alle in den Bann, alle fühlten sich ernst genommen. Sie hörte zu. Diese Fähigkeiten waren es auch, die sie noch im hohen Alter als charismatische Referentin eine unüberschaubare Zahl von Lesungen und anderen Auftritten erfolgreich bestreiten ließ; viele davon an Schulen, wo sie nicht müde wurde, das junge Publikum für die Geschichte, für Gerechtigkeit, gegen Rassismus und Vorurteile aller Art wach zu machen.
Anfang der neunziger Jahre hatte Ruth aktiv am Versöhnungsprozess in Südafrika teilgenommen, dessen Leitfigur Nelson Mandela war. Die Versöhnung ermöglichte einen weitgehend friedlichen Übergang in eine „normale“ Zivilgesellschaft. Später war Ruths Expertise in einem ähnlichen Prozess in Nordirland gefragt.

Gemeinsam fuhren wir als Familie zu ihrem 70. Geburtstag auf der Isle of Wight, wohin sie nach dem Ende ihres regulären Arbeitslebens gezogen war. Es war ein wunderbares Treffen mit drei Dutzend Menschen von überall her, darunter der erwähnte Denis Goldberg und seine Frau Esmé, auch sie eine gestandene Antiapartheidkämpferin, die 22 Jahre lang auf ihren in Pretoria inhaftierten Liebsten warten musste. Später nahmen meine Frau und ich an verschiedenen Feiern rund um Ruth teil, in Deutschland, wohin sie nach zehn Englandjahren übersiedelt war – in die Nähe ihres solidarischen deutschen Kreises von Menschen, der Ruth-Weiss-Gesellschaft e.V., viele davon aus der Entwicklungszusammenarbeit –, und schließlich vor zwei Jahren an ihrem 99. Geburtstag im dänischen Nordjütland, wo sie in einer kleinen Ortschaft ihre letzten zehn Jahre verbrachte, in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihrem Sohn und dessen Familie.
Die Unermüdliche
Für die WOZ schrieb Ruth Weiss während mehr als zwanzig Jahren Dutzende Artikel, vorwiegend über das südliche Afrika. Auf jede Anfrage unserer Redaktion landete postwendend der bestellte Text bei uns.
Doch eigentlich hatte sich ihr Interesse verschoben. Statt journalistisch wollte sie lieber literarisch schreiben. Sie publizierte Bücher in hoher Kadenz, vom sehr erfolgreichen Jugendbuch „Meine Schwester Sara“ – es erzählt die Geschichte eines in Südafrika adoptierten Mädchens, das auf die Spur seiner Herkunft kommt, und war zweimal offizielle Schullektüre in Baden-Württemberg – über ihre Miss-Moore-Krimis bis zur siebenbändigen Löw-Saga über mehrere Generationen einer jüdischen Familie in früheren Jahrhunderten. Sie schien unermüdlich, und viele Manuskripte harren noch der Bearbeitung und Publikation. Mehr und mehr beschäftigte sie sich mit ihrem „gestohlenen“ Judentum, dabei sah sie die Verfolgung der Jüdinnen und Juden stets im Kontext aller anderen schlimmen Verfolgungen.
In den letzten Jahren durfte sie eine Reihe öffentlicher Ehrungen entgegennehmen, die Nominierung für den Friedensnobelpreis im Rahmen der Initiative „1000 Women for the Nobel Peace Prize 2005“, das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse in Deutschland 2014, zehn Jahre später das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, und 2023 aus der Hand des südafrikanischen Staatspräsidenten Cyril Ramaphosa den höchsten Orden in Südafrika, Companions of O.R. Tambo.
Mit Ramaphosa und anderen zusammen hatte sie Ende der achtziger Jahre am ZISA (Zimbabwe Institute for Southern Africa) wichtige Vorbereitungsarbeiten im Hinblick auf das Ende der Apartheid geleistet. Am Ort der Überreichung einer umfangreichen Festschrift – es war der Saal 600 im Nürnberger Justizpalast, Schauplatz des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher aus der Zeit des Nationalsozialismus 1945/46 – bedankte sie sich 2022 auf ihre Weise. Mit dem Rollator gelangte sie zum Pult, einen Zettel in der Hand; auf diesen warf sie kaum einen Blick, um dann in freier Rede während einer Dreiviertelstunde mit ihren typischen Abschweifungen ihre Sicht der Dinge auf den Punkt zu bringen. Es gab Standing Ovations. Auch 2023, zum Holocaust-Gedenktag, hielt sie im Landtag von Nordrhein-Westfalen eine bewegende und aufrüttelnde Rede.
Aus Anlass ihres 101. Geburtstags am 26. Juli dieses Jahres fand in Tübingen vor einem ansehnlichen Publikum die Eröffnung einer Ausstellung mit Bildern des Malers René Böll statt. Es handelte sich um Tuschzeichnungen, die er mit Zitaten von Friedrich Hölderlin, von Heinrich Böll und von Ruth Weiss kombinierte. Ruth war zu geschwächt und nicht mehr in der Lage, zu reisen. Sie verfolgte einen Teil der Ansprachen über Video und bedankte sich mit einer kurzen Botschaft. Am 2. August erhielten wir ihre letzte Mail. Am vorletzten Freitag, den 5. September, ist die Jahrhundertfrau in Aalborg, Dänemark, friedlich eingeschlafen.
Jürg Fischer und Ursula Häne sind Mitglieder des WOZ-Kollektivs, das in Zürich die Schweizer Wochenzeitung herausgibt. Dort ist auch der Beitrag zuerst erschienen.
Weitere Hinweise auf ihr Leben gibt Ruth Weiss im 2014 erschienen Monatsinterview mit der WOZ.
Literaturhinweis:
Ruth Weiss, mit Lutz Kliche: „Erinnern heißt handeln – mein Jahrhundertleben für die Demokratie“, Freiburg/Basel/Wein 2025, Herder Verlag.
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