
Bahnhof Ravensburg. Der Asphalt ist heiß, dein Kopf schwirrt. Steig in den Bus 7534, fahre bis zur Bushaltestelle Vogt Abzweigung Grund im Wald. Merke, wie das Grün langsam deine Umgebung übernimmt, wie das Klima angenehmer und deine Gedanken ruhiger werden. Steige aus. Halte inne. Finde die Häuser in den Bäumen, die Banner im Wind. Willkommen in der Utopie.
2021 besetzten Umweltaktivisten einen Teil des Altdorfer Waldes, von nun an der „Alti“ genannt, um ihn vor Rodung und anschließender Zerstörung durch Kiesabbau zu schützen. In diesem Klimacamp wächst seither eine Gemeinschaft. Es ist ein Ort, an dem sich die Aktivist:innen gegenseitig helfen und neue Fertigkeiten („Skills“) beibringen. Es ist eine Inspiration dafür, wie leben, überleben und zusammenleben in der Natur funktionieren kann – ein Kontrast zur kapitalistischen Gesellschaft. Außerdem ist es inzwischen für viele Menschen ein Zuhause, eine Familie.
Im Alti erlebt man einen Zusammenhalt, wie man ihn heute nur selten erfährt. Mit deinem ersten Schritt in den Wald bist auch du ein Teil davon. Es geht um jede:n Einzelne:n, deren Bedürfnisse und auch um etwas, das größer ist als wir selbst: Die Utopie einer klassenlosen, gleich-gerechten Gemeinschaft.
Man geht ehrlich miteinander um, jeder kann klar seine Bedürfnisse und Grenzen kommunizieren und diese werden akzeptiert. Es wird einander beigebracht und geholfen. Egal wie neu du bist, es ist einfach sich einzubringen, denn es gibt immer etwas zu tun: Ob alltägliche Aufgaben wie kochen, aufräumen, sich um das Feuer kümmern oder speziellere Aufgaben wie Baumhäuser reparieren, neue Strukturen bauen oder beim Aufbau für eine Rave helfen.
Zu viele Aufgaben. um alle aufzuzählen, zu spezifisch und vielfältig, um ein Beispiel aus jeder Rubrik zu nennen. Sicher aber ist, dass es immer etwas zu tun gibt.
Nimm, was du brauchst, und gib, was du kannst
„Skillsharing“ ist allgegenwärtig. Bei jeder Aufgabe lernt man und frau etwas neues dazu. Überall sind Menschen mit detailliertem Wissen in verschiedenen Bereichen, die es liebend gerne mit dir teilen. Jede:r vernetzt sich und fügt etwas Neues hinzu. So entsteht ein ganzes Netz, das sich selbst trägt.

Immer wieder bieten die Aktivist:innen Skillshare-Tage an – wie beispielsweise jetzt, vom 17. bis zum 21. Juli. Unter anderem wird es eine Rave geben, Vorträge, Kletterkurse und Textildrucklehrgänge; aber es werden auch immer wieder spontane Skillshares angeboten, je nachdem, wer gerade Lust hat, anderen etwas beizubringen, zu berichten oder ähnliches.
Wenn du aus der kapitalistischen Gesellschaft herauskommst und den Wald zum ersten Mal betrittst, denkst du vielleicht, dort gäbe es eher sporadisch zu essen. Das Gegenteil ist der Fall. Niemand muss hungern, egal was da ist und wie viele hungrig sind: Es wird für alle gesorgt. Besucher:innen sind angehalten, nach Möglichkeit Lebensmittel (möglichst vegan) mitzubringen. Dadurch entsteht eine bunte Mischung an Vorrat.
Zusammengebastelt wie die Baumhäuser
Eine typische Mahlzeit könnte bestehen aus drei Kilo Nudeln, alles, was an Gemüse zur Verfügung steht, eine Soßenbasis (Aufstrich, Babybrei, Erdnussbutter, ja vielleicht sogar eine echte Soße, alles gemischt), verschiedene Gewürze und was du halt sonst noch interessant findest.
Natürlich wird solch ein Schmaus über dem Feuer auf einer selbstgebauten, teils instabilen, Halterung gekocht. Die vielen Nudeln brauchen viel Wasser und das zu erhitzen dauert lange. Das heißt: mehr Zeit für Gespräche. Es macht unglaublich viel Spaß, gemeinsam auszuprobieren, zu lernen und Witze darüber zu reißen, was man da eigentlich gerade zusammengerührt hat.
Dabei schmeckt das Essen exzellent, und es würde mich nicht wundern, wenn ein Teil des guten Geschmacks von der Gemeinschaft und der Erfahrung kommt.
Kreativ mit Essen umgehen
Aber was taugen die Rohstoffe? Manche Lebensmittel stehen schon eine Weile offen herum, das wirft Fragen auf. Und doch kann das Meiste problemlos gegessen werden. Wir sind heutzutage so selten mit Lebensmittel in allen Reife-Stufen umgeben, dass wir es verlernt haben, damit umzugehen. Und viel zu viel wegwerfen.
Dabei ist es normal, dass Lebensmittel über die Mindesthaltbarkeitsdaten hinaus halten. Dass man nur herausfinden muss, ob etwas noch gut ist. Dass man auch mal Schimmel anfassen kann, ohne dass es eine:n ekelt.
Sehen, riechen, fühlen, schmecken: Ist es gut? Dann ist es gut.
Dreckig, erschöpft und zufrieden.
Vielleicht verweilst du noch ein bisschen am Lagerfeuer und lernst die Leute um dich herum ein bisschen besser kennen. Ihr fantasiert über eine bessere Welt und teilt Erfahrung und Träume, bis eure Augen langsam schwer werden. Der letzte löscht das Feuer.
Den Geruch des Lagerfeuers nimmst auch du an, trägst ihn mit in deinen Schlafsack, hoch auf ein Baumhaus, deckst ihn zu und wünschst ihm gute Nacht. Du weißt, dass du gute Arbeit geleistet hast, dir die anderen Menschen dafür dankbar sind und dir im Gegenzug auch liebend gerne weiterhelfen.
Ummantelt von sanften Waldgeräuschen schläfst du ruhig und wachst am nächsten Morgen energiegeladen nahe den Baumwipfeln auf.
Wer ist das Problem?
„Hier kann ich ausatmen“, sagte eine Person nachts am Lagerfeuer. Im Alti versammeln sich Menschen, die nicht ins kapitalistische System passen, die Schwierigkeiten in ihrem Alltag haben, die gerne ausgegrenzt werden. Denen gesagt wird, dass sie ein Problem haben, oder eins seien.

Das Klimacamp hingegen stellt eine klassenlose gleich-gerechte Utopie dar, in der die Bedürfnisse jedes und jeder Einzelnen gesehen und geachtet werden. In solch einer Gesellschaft merkst du dann, dass du gar nicht das Problem bist, dass du dich einfügen und mithelfen kannst, ohne dich ausgenutzt und ausgelaugt zu fühlen, dass es okay ist, Bedürfnisse zu haben und etwas zu verlangen, dass Arbeit erfüllend sein kann.
Dann hinterfragst du, ob vielleicht ja das System das Problem ist, das Leute als Arbeitskraft sieht anstatt als Menschen.
„We are nature defending itself“
„Wir sind Natur, die sich selbst verteidigt“, steht auf der Holzwand eines der Baumhäuser. Natürlich ist hier nicht alles Utopie; die Waldbesetzung entstand als Antwort auf geplante Zerstörung.
Mit seinen 8200 Hektaren Fläche ist der Altdorfer Wald das größte zusammenhängende Waldgebiet Oberschwabens. Er teilt sich in Staats-, Kommunal- sowie Privatwald auf, wovon das Fürstenhaus Waldburg-Wolfegg den größten Teil besitzt. Vor rund fünfzig Jahren fielen bereits 40 Hektar an Wald zwei Kiesgruben zum Opfer.
Und nun beabsichtigt die Firma Meichle + Mohr, eine weitere, elf Hektar große Kiesgrube zu erschließen. Eine anschließende Rekultivierung, so wird behauptet, sorge für Nachhaltigkeit. Aber wäre es nicht nachhaltiger, den Wald einfach jetzt schon zu schützen? Zumal wir uns in einer Klimakrise befinden und gerade dabei sind, die 1,5-Grad-Grenze zu überschreiten.
Hinzu kommt, dass das Kies nicht mal regionalen Zwecken dient, sondern größtenteils in die Schweiz und nach Österreich verkauft wird. Wem also nützt dieses zerstörerische Vorhaben?
Um die vierzig Prozent des Alti stehen unter Naturschutz. Dazu gehören sechs Naturschutzgebiete, ein Landschaftsschutzgebiet, ein Bannwald und ein vierteiliges, nach der Flora-und-Fauna-Habitat-Richtlinie ausgewiesenes Schutzgebiet.
Das mag gut klingen, aber der Großteil des Waldes ist immer noch ungeschützt.
Keine Kompromisse mehr!
Wälder sind unglaublich wichtig für Klima und Leben. Je älter ein Wald, desto einzigartiger und vielfältiger sind seine Artenvielfalt und deren Zusammenhänge, desto mehr Kohlenstoffdioxid kann er aufnehmen und umwandeln, desto mehr hilft er gegen den Klimawandel.
Das braucht viel Zeit und lässt sich nicht einfach durch ein bisschen Rekultivierung oder ein paar neue Bäume herstellen. So etwas muss geschützt und bewahrt werden, zumal wir schon so viel zerstört haben. Wir müssen uns weiter solch kapitalistisch-egoistischen Plänen in den Weg stellen, sonst wird unsere Natur weiter systematisch und unwiderruflich vernichtet.
Bevor du eine Waldbesetzung zum ersten Mal betrittst, solltest du dir einen Waldnamen aussuchen. Irgendetwas, das sich nicht mit deinem echten Namen und Alltag in Verbindung bringen lässt. Das erlaubt etwas Anonymität, und man gibt nicht alles den anderen preis.
Vor allem aber: Besuche den Wald, denn alles, was hier zu lesen ist, kann niemals das unglaubliche Gefühl vermitteln, das entsteht, wenn man den Wald zum ersten Mal betritt. Und das noch stärker wird, wenn du die Gemeinschaft erlebst. Sie verleiht dir während all der Krisen auf ökologischer und politischer Ebene einem Rückhalt, Hoffnung und Inspiration. Also dann: Bis demnächst im Bus 7534.
Erlebe Utopie, kämpfe gegen Dystopie.
Text: Annalena Banka
Fotos: Annalena Banka und Samuel Bosch
Wer mehr wissen will:
– Altdorfer Wald – ein Naturjuwel in Gefahr
– Viele Waldbesetzungen oder sonstige Proteste sind übrigens auch unter der Webseite Wald statt Asphalt vernetzt.
– Kontakt zum Klimacamp der Waldbesetzer:innen
– Mehr Infos zur Waldbesetzung, darunter auch das Programm der Skillshare-Tage
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