
Die Künstlerin Micha Stuhlmann und der Filmemacher Raphael Zürcher haben einen Film über das Leben mit dem Tod gedreht. Am 2. Juli wird er um 18 Uhr in der Aussegnungshalle des Konstanzer Hauptfriedhofes gezeigt. Unser Autor sprach mit Micha Stuhlmann.
Wir sehen eine nackte Ferse in Nahaufnahme, ganz skulptural beleuchtet, chiaroscuro, Helldunkel wie ein barockes Altarbild. Jeder Buckel, jede Falte, jede schrundige Stelle erscheint wie ein Monument auf der Leinwand.
Aus dem Off die Stimme von Micha Stuhlmann: „Deine Füße werden kalt. Dein Atem wird flach. Deine Sinne schwinden.“ Die Leinwand wird schwarz. „Dein Körper leitet den Abschied vom Leben ein.“ Aus dem Schwarz taucht dunkel der nächtliche See. Am Horizont ein Steg, ein Häuschen, zwei Lichter, grün und rot. „Langsam verlierst Du die Kontrolle über Deinen Körper und Deinen Geist.“
„Wie würdest Du Dir denn wünschen zu sterben? Denn das müssen wir ja.“
Es ist schon Jahre her, da erzählte mir eine Freundin vom Sterben eines ihrer Freunde. Er war noch sehr jung. „Wir haben ‚Men in Black’ zusammen geschaut. Am nächsten Tag ist er gestorben. Das hat er richtig gut gemacht.“ Bis heute geht mir dieser Satz nach. „Das hat er richtig gut gemacht.“ Das war mir ganz fremd, die Vorstellung, dass Sterben eine Handlung sein, ein Akt, etwas, das man tut und dementsprechend ‚gut’ oder ‚nicht so gut’, vielleicht sogar ‚schlecht’ ‚machen’ kann. Sterben, das war für mich bis dahin etwas, das einem widerfährt. Wo man passiv ist – buchstäblich ‚den Löffel abgibt’. Also keinesfalls noch selber löffelt.

Andererseits gab es ja in früheren Zeiten und anderen Kulturen die Vorstellung des guten Todes, ja, der Kunst zu sterben. Ars moriendi.
„Am liebsten Herzinfarkt. Und tot bin ich,“ sagt eine der neun Darsteller:innen des inklusiven Ensembles, das gemeinsam in einem über mehrere Jahre laufenden Prozess versucht hat, sich der Frage des Abschiednehmens vom Leben und des Lebens mit diesem Abschied zu stellen – in Gesprächen, Körperübungen, Tanz, der Auseinandersetzung mit Materialien und Objekten. Der Film „Tod. Sein“ lässt Unbeteiligte teilhaben an dem Weg, den die Gruppe miteinander gegangen ist. Und gleichzeitig ist er eine Reaktion des Künstler:innenteams Stuhlmann/Zürcher auf den Gruppenprozess. Auf das Geschenk des offenen, sehr persönlichen Umgangs mit den eigenen Überzeugungen antworten sie mit dem Geschenk einer Form, einer ästhetischen Gestalt, die das Er- und Durchlebte transformiert.
„Das Thema begleitet mich schon mein Leben lang. Der Tod gehört zu den Grundthemen meiner Arbeit,“ sagt die Performance-Künstlerin Micha Stuhlmann. Ich begegne ihr in ihrem Atelier in Kreuzlingen, einem verwunschenen Ort mitten in einem wilden Garten, in dem Plastikkrokodile und embryonenhafte Gestalten hausen. Wir sitzen bei einer Tasse Kaffee in einem Raum, der viele rätselhafte Artefakte um einen Tanzboden herum versammelt, Objekte vergangener Arbeiten, die nun eine dichte Atmosphäre stiften, einen magischen, auch sakralen Ort mit einem hohen spitzen Dach, dessen Fenster den Raum zum Himmel öffnen.
Vor 12 Jahren hat Micha Stuhlmann die Arbeit mit einem inklusiven Ensemble von Laiendarstellerinnen und -darstellern begonnen. Eigentlich war das zunächst nur als Projekt gedacht, aber dann hat sich das „Laboratorium für Artenschutz“ verselbständigt. Es bildete sich ein Kern von sechs Darsteller:innen heraus, die dauerhaft gemeinsam arbeiteten. Andere gingen und wieder andere kamen hinzu. „Das ist am Anfang wie ein kleines Flämmchen. Was daraus wird, weiß ich dann nicht.“ Und wie das Leben selbst, ist diese Arbeit, diese Kunst flüchtig. Ein Prozess wird abgeschlossen mit Performances, Ausstellungen, und manchmal entsteht, wie im Falle von „Tod. Sein“ auch ein Film, der über den Tag hinaus bleibt.

Wie alle Arbeiten von Micha Stuhlmann ist auch diese sehr leibbezogen. „Eigentlich hatten wir die Aufnahme eines Haufens nackter Menschenleiber geplant. Doch dann kam Corona. Raphael rief mich an und sagte ‚Du, wir dürfen das nicht machen.’ „So entstanden Nahaufnahmen von Körperpartien einzelner Darsteller:innen, mal mehr, mal weniger entzifferbar.
Dazwischen zeigt der Film Menschen an einer festlich gedeckten Tafel. Ich äußere die Vermutung, diese Szenen seien im Apollokino in Kreuzlingen gedreht worden, aber Micha Stuhlmann widerspricht und zählt die Drehorte auf. Es sind sehr viele Räume, die dieser Film zusammenführt, gleichzeitig bestimmt und konkret, aber ebenso unbestimmt und vage. Überall und nirgendwo.
Weißes Tischtuch, Gläser mit rotem Wein. Ein Huhn wird gemeinsam verspeist. Die Gespräche drehen sich um den Tod. Wie will ich sterben? Tut es weh? Was geschieht mit meinem Körper? Woran glaube ich? Will ich Organe spenden? Und wo bleibt der Geist des Hähnchens, nachdem es gegessen ist?
Mal ist die Tafel Abendmahlstisch – das Abschiedsmahl, die Henkersmahlzeit –, mal ist sie Anatomie. Rembrandts „Anatomie des Doktor Tulp“. Mal isst man und mal wird man gegessen. Das Huhn, gebraten und roh, zerstückelt und wieder vernäht, ist ein Bild. Lebe ich weiter? In diesem Körper? Oder einem anderen? Was bleibt? Ist es bequem dort unten im Grab? Kann man sich einwohnen in der Unendlichkeit? Und wird man sich erinnern an mich?

Der Tisch ist Versammlungs- wie Aufbahrungsort. Ein Ort der Transformation. „Gibt es noch Opferwein?“, ruft ein Darsteller und eine Darstellerin antwortet: „Ja, aber den trinke ich.“ Und hebt die Flasche an den Mund. Später wird sich diese junge Frau eine Grube in die Erde graben und unbekleidet hineinkuscheln. Ein Bild – so anrührend, intim und vieldeutig wie die meisten dieses Films. Da legt sich jemand in die Erde. Die Erde umschließt sie wie ein Uterus, eine Höhle, ein Kokon. Das Bild ist ein Ende und ein Anfang zugleich. Individuell wie menschheitsgeschichtlich. Eindeutig und klar, aber auch archaisch und offen.
Wir sprechen über Rituale. Beide sind wir katholisch groß geworden und beide haben wir uns affizieren lassen von den Gesten dieser Religion, und zwar weit über deren Glaubensinhalte hinaus, die uns in unterschiedlicher Weise zu unterschiedlichen Momenten unserer Leben fremd geworden sind.
„Es gibt Szenen, Bilder, die an Grenzen gehen. Das ist wichtig. Gleichzeitig muss man damit sehr behutsam umgehen, besonders in inklusiven Gruppen, wo nicht alle immer vollständig die Dimensionen solcher Szenen abschätzen können. Da hat man eine besondere Verantwortung.“ Das kann man spüren. In den Prozessen des „Laboratoriums für Artenschutz“ werden die Beteiligten nicht zum Material von Kunst. Vielmehr öffnet die Kunst von Micha Stuhlmann und Raphael Zürcher Räume des Menschseins. Sie bildet das Leben nicht ab, sondern gestaltet es mit.
Der Film „Tod. Sein“ ist eine ausgestreckte Hand, das Angebot einer Berührung. Deshalb wird er auch ergänzt und begleitet von Gesprächen der Anwesenden, die die Künstlerin initiieren wird. Wir würden uns freuen, wenn die einladend ausgestreckte Hand von möglichst vielen ergriffen wird.
Der Film „Tod. Sein. Eine Nahfilmerfahrung im Zwischenreich“ wird am 2. Juli um 18 Uhr in der Aussegnungshalle des Konstanzer Hauptfriedhofes zu sehen sein.
Text: Albert Kümmel-Schnur
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Micha Stuhlmann und Raphael Zürcher, Gemälde von Rembrandt „Die Anatomiestunde des Dr. Nicolaes Tulp“ via Wikipedia: This work is in the public domain in its country of origin and other countries and areas where the copyright term is the author’s life plus 100 years or fewer. This work is in the public domain in the United States because it was published (or registered with the U.S. Copyright Office) before January 1, 1930.
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