
Weil er sich eine Plastikfolie vor das Gesicht gebunden hatte, wurde ein Aktivist von deutschen Gerichten wegen Tragens einer „Schutzwaffe“ zu einer Geldstrafe von 400 Euro verurteilt. Zu Unrecht, wie vor kurzem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte.
Zehn Jahre hat das Verfahren gedauert, doch jetzt hat der Aktivist und Kläger Benjamin Ruß endlich Gewissheit. Seine Verurteilung vor dem Amtsgericht in Frankfurt war rechtswidrig, befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Urteil am 20.Mai, die Versammlungsfreiheit sei nicht genügend gewürdigt worden.
Was war geschehen? Im Rahmen der Proteste rund um die Eröffnung des Neubaus der Europäischen Zentralbank im März 2015 kam es zu zahlreichen Protesten, rund 17.000 Menschen kamen zusammen. Unter ihnen auch Benjamin Ruß, der an einer Demonstration mit dem Titel „Bunt, laut – aber friedlich“ teilnahm. Dabei trug er eine selbstgebastelte Maske vor dem Gesicht, bestehend aus einer durchsichtigen Overheadfolie und einem Gummiband.
Das Frankfurter Amtsgericht sah dies als verbotene „Schutzwaffe“ an und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe in Höhe von 400 Euro. Das Urteil wurde in den nächsten Instanzen bestätigt, eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Was sind „Schutzwaffen“?
Der Begriff ist irreführend: Schutzwaffen sind gerade keine Waffen. Vielmehr sind damit Gegenstände gemeint, die ihre Träger:innen vor der Gefahr einer Verletzung schützen oder diese zumindest mildern sollen.
Anfangs war das Verbot noch auf Schutzschilde oder Stahlhelme beschränkt, dann dehnte die Rechtsprechung den Begriff immer weiter aus – bis das Frankfurter Oberlandesgericht 2011 zu dem Ergebnis kam, dass selbst ein Zahnschutz eine verbotene Schutzwaffe darstelle.
Wenn Schutzwaffen nur darauf ausgelegt sind, Schaden von ihren Träger:innen abzuwenden, drängt sich die Frage auf, warum sie so gefährlich sind, dass sie bei Demonstrationen verboten werden.
Warum sind diese Gegenstände verboten?
Der Rechtsausschuss des Bundestags begründete das Verbot 1985 mit dem Militarismus, der in solchen Gegenstände stecke: „Teilnehmer, die solche Schutzwaffen mit sich führen, dokumentieren aufgrund ihres martialischen Erscheinungsbildes eine offenkundige Gewaltbereitschaft und üben auf die Menge nach massenpsychologischen Erkenntnissen eine aggressionsstimulierende Wirkung aus.“ So heißt es im Bericht des Rechtsausschusses zum Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes vom 27. Juni 1985.
Das mag für Stahlhelme gelten, bei einem Zahnschutz ist die Begründung kaum tragbar. Eine aggressionsstimulierende Wirkung ist nach Ansicht von Fredi Lang, Diplom-Psychologe, außerdem nicht ohne Weiteres gegeben. „Eine stimulierende Wirkung entsteht aus einer Gruppenzugehörigkeit“, sagt der Referatsleiter beim Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. „Der Eine neben mir, das macht überhaupt nichts, das ist kein Trigger.“
Für eine solche Stimulierung gebe es weder direkte Kausalität noch Evidenz. Ein Einschreiten sei erst dann begründet, wenn es eine entsprechende szenetypische Kultur gäbe, ein massenhaftes und kontinuierliches Auftreten mit den Gegenständen in einem gewaltbereiten Kontext.
„In einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig“
Auch der EGMR ist mit der Annahme einer gewaltstimulierenden Wirkung vorsichtig. Bei sehr einfachen Konstruktionen wie einer Plastikfolie müssten sich die Gerichte besonders intensiv mit einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit auseinandersetzen, befand das Gericht. Eine solche Wertung fehle aber in den Urteilen.
Außerdem verlief die Demonstration friedlich, so dass der Gerichtshof zu einem so klaren wie vernichtenden Urteil kam: die strafrechtliche Verurteilung des Aktivisten sei „in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig“.
Der Kläger Benjamin Ruß und sein Anwalt Mather Breuer sehen in dem Urteil eine klare Handlungsaufforderung an die Bundesrepublik: Das Versammlungsgesetz müsse dringend reformiert werden.
Die Polizei zeigt sich dagegen wenig beeindruckt. An den Einsatzmaßnahmen werde sich zunächst einmal nichts ändern, sagt Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft; das Urteil beträfe schließlich nur einen Einzelfall. „Schutzwaffen sind aus unserer Sicht Vorbereitungshandlungen für die Teilnahme an einer unfriedlichen Aktion.“
Es bestehe bei friedlichen Kundgebungen kein Anlass, sich zu schützen – eine Behauptung, die vor dem Hintergrund rechtswidriger Polizeigewalt und der Streubreite von staatlichen Maßnahmen wie Pfefferspray durchaus in Frage gestellt werden kann.
Das Bundesjustizministerium prüft nach Angaben einer Pressesprecherin derweil die Urteilbegründung und einen etwaigen Handlungs- und Reformbedarf.
Text: Svenja Kantelhardt
Foto: Abbildung aus der Kampagnenplattform „Gofundme“, auch zu sehen auf Facebook
PS: In einem anderen Verfahren war Benjamin Ruß weniger erfolgreich. Der Geoinformatiker hatte sich 2002 auf eine Stelle bei der Technischen Universität München beworben und war zunächst angenommen worden. Doch dann intervenierte der Verfassungsschutz; daraufhin lehnte die Personalabteilung den Antikapitalisten Ruß als zu „linksradikal“ ab. Unterstützt von der Gewerkschaft ver.di und vertreten von der früheren Bundesjustizministerin Hertha Däubler-Gmelin klagte Ruß gegen diese Entscheidung.
Der Freistaat Bayern warf Benjamin Ruß die Mitgliedschaft in der Roten Hilfe, seine Beteiligung an den Protesten beim G7-Gipfel 2015 in Elmau und Zeitungsartikel vor, in denen er sich unter anderem für ein umfassendes Streikrecht und gegen eine zunehmende Militarisierung der Polizei ausgesprochen hatte. Trotz dürftiger Beweislage wies das Arbeitsgericht München im August 2024 den Einspruch ab. Ein Bewerber habe keinen Anspruch, „im öffentlichen Dienst eingestellt zu werden, wenn er nicht die erforderliche Gewähr für die von ihm für die konkrete Stelle zu fordernde Verfassungstreue bietet“, lautete die Begründung. Die Zeit der Berufsverbote ist noch nicht vorbei. (pw)
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