
Yaser Aldebsh fertigte in Aleppo Schuhe nach italienischer Tradition. Nachdem Familienangehörige in syrischen Foltergefängnissen starben und er zum Kriegsdienst gezwungen werden sollte, floh er. Heute arbeitet Aldebsh als Busfahrer in Ravensburg.
Immer häufiger holten sie junge Männer in der Nachbarschaft für die Armee des Diktators Baschar al-Assad. Sie holten auch in der Nacht politisch Verdächtige, ließen sie verschwinden, folterten sie zu Tode. 2011, 2012. So auch den Bruder seines Vaters. Er kam im Gefängnis ums Leben. „Und an der Trauer darüber ist mein Vater gestorben. Wir haben ihn im Garten begraben“, erzählt Yaser Aldebsh aus Aleppo. „Du musst gehen, hatte mich mein Vater vor seinem Tod noch ermahnt.“
Yaser Aldebsh wollte nicht töten. Nicht in der Armee, erst recht nicht in den Gefängnissen. „Wenn die voll waren, erschossen sie die Gefangenen sofort. Das wussten wir.“ Aldebsh beschließt, seine kleine Firma, die er aufgebaut hatte, zu verlassen. Ledergürtel hatte er angefertigt und Herrenschuhe. Wundervolle Schuhe, italienischer Stil. Er zeigt die Fotos auf seinem Handy. Erinnerungen. Einen Moment lang schweigt er. Wie kam er dazu? Sein Vater war 1984 mit einer begrenzten Arbeitserlaubnis in Italien und erlernte dort das Handwerk.
Um zu entkommen, tauscht Aldebsh sein Erspartes in ausländische Währung, fährt mit dem Bus von Aleppo in den Libanon, mit dem Schiff in die Türkei und weiter auf einem Boot mit 60 Personen nach Griechenland. 2000 Euro zahlt er an die Schlepper, fast alles, was er dabei hat. Er schläft neben der Straße im Schutz von Büschen, am Tag wagt er sich in Dörfer, hat keine Ahnung, wo er ist. Nicht mehr Griechenland? Nein, Makedonien, sagt eine Gruppe Frauen mit Kindern, auf die er im Wald trifft. Nur weiter, irgendwohin, wo er vielleicht bleiben kann. Die Menschen auf dem Land geben ihm zu essen und zu trinken. Ständiger Begleiter ist die Angst, ob sie in Aleppo jemanden von seiner Familie mitnehmen könnten – als Strafe, zur Abschreckung, weil er geflohen ist. Später erfährt er, dass sie seinen Bruder holten.
Immer nachts, die Bahngleise entlang
In 22 Tagen läuft er durch Makedonien bis an die Grenze nach Serbien. Seinen Pass braucht erst gar nicht zu zeigen, bestechen kann er auch keinen mehr, das Geld ist ihm ausgegangen. Weiter kommt er nur dank Glück: Zwei Polizisten lassen ihn heimlich nach Serbien. Und da läuft er, immer nachts, die Bahngleise entlang zur nächsten Grenze. Durch den Wald und er ist in Ungarn. In Budapest, hat er gehört, gebe es Organisationen, die Flüchtlingen hälfen. Nun läuft er auch dorthin, meist nachts. Wie viele Kilometer das waren, weiß er nicht mehr. Gut 200, zeigt ein Blick auf die Karte nach unserem Gespräch.
In Budapest wimmelt es von Flüchtlingen. Am Bahnhof gibt es zu essen und zu trinken vom Roten Kreuz. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte mit der ungarischen Regierung vereinbart, dass die Flüchtlinge kostenlos mit dem Zug durch Österreich nach Deutschland fahren durften.
So landet Yaser Aldebsh in München, wird mit einem Flüchtlingskontingent nach Heidelberg transportiert, wo er zwei Monate in einem Wohnheim herumsitzt, das früher von US-amerikanischen GIs genutzt wurde. November 2015: Er wird einem nächsten Heim zugeteilt. Wo ist er jetzt? In Ravensburg. Warum dort, weiß er bis heute nicht. Aber er ist in Sicherheit. Und hat nur einen Gedanken: Seine Frau Batul mit dem zweieinhalb Jahre alten Samer hierher zu bekommen.
Niemandem zur Last fallen
Noch einmal bekommt ein Wort, das für grenzenlose Freiheit – der road trip –, jene für uns kaum vorstellbare Bedeutung, die es für Millionen Migrant:innen und Flüchtende hat. Mit ein paar Habseligkeiten auf dem Rücken, den noch keine drei Jahre alten Sohn an der Hand, „meistens auf dem Arm“, korrigiert Batul ihre Erinnerungen. „Ich durchquerte den Wald und die Berge und lief bis zur türkischen Grenze. Wir versuchten, sie illegal zu überqueren. Sie erwischten uns. Am zweiten Tag schaffte ich es und lief mit Samer über zehn Stunden Richtung Izmir.“
Sie wartet zwei Monate, bis sie im deutschen Generalkonsulat ein Visum für Deutschland bekommt. Am 30. Dezember 2016 ist sie in Ravensburg. Eine Woche später feiert Samer Aldebsh seinen dritten Geburtstag: in dem Land, das ihm, wie er es nun mit elf Jahren formuliert, Heimat geworden ist. Seine Schwestern sind hier geboren: Lara 2018 und 2023 Heidi. Mutter Batul hatte immer nur für zwei Jahre eine Aufenthaltserlaubnis. Dann musste sie nach Berlin zur syrischen Botschaft, musste stundenlang in einer Schlange warten, sich anschreien lassen, bis ihr Pass verlängert wurde.
Yaser Aldebsh möchte dem deutschen Staat nicht zur Last fallen, wie er betont. Für sein Talent, italienische Schuhe herzustellen, gebe es allerdings keine Perspektiven, meinen sie beim Jobcenter und in der Ausländerbehörde. Noch fehlt es Aldebsh an den Sprachkenntnissen, vor allem aber an Kontakten, denen er seine Erfahrungen offerieren könnte. Wenn er davon erzählt, ist zu spüren, wie gerne er weiter als Schuhmacher gearbeitet hätte.
Bis zu 170 Stunden im Monat
2019 findet er einen Job bei Kaufland, ist unglücklich und unterfordert. Dann erfährt er, dass es einen großen Bedarf an Busfahrer:innen gibt. Ein Führerschein kostet 15.000 Euro. Beim Jobcenter und bei der Arbeitsagentur stößt sein Interesse auf Zuspruch. Er macht einen Test, besteht ihn und erhält die Zusage, dass alle Kosten übernommen werden. Die Ausbildung ist schwer, täglich von 8 bis 16 Uhr. Vor einem Jahr absolvierte er die Prüfung in deutscher Sprache. Dabei kann die Theorie inzwischen in 13 Sprachen, darunter auch Arabisch, gelernt und absolviert werden.

Aldebsh bekommt einen festen Vertrag bei der Deutschen Bahn, fährt nun im öffentlichen Nahverkehr im Kreis Ravensburg seit eineinhalb Jahren einen Bus in drei Schichten, oft bis zu 170 Stunden im Monat. Er bekommt eine „Dauerniederlassungserlaubnis“, und er lacht, denn er kann mithilfe seines Sohnes Samer dieses Wortungetüm aussprechen. Seine Frau Batul muss nicht mehr zur Botschaft nach Berlin fahren. Sie haben die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt. Die Chancen dafür sind gut.
„Ich freue mich, dass ich jetzt alles selber bezahlen kann und nicht mehr danke sagen muss. Ich bin dankbar, dass Deutschland mir geholfen, mich gerettet hat“, sagt Aldebsh. Er kennt den Hass gegen Ausländer, gegen Flüchtlinge. Im Bus seien die Fahrgäste aber freundlich, die einzige aggressive Bemerkung ignorierte er. Yaser Aldebsh möchte etwas zurückgeben: „Ich will, dass die Deutschen sehen, dass ich alles, was wir zum Leben brauchen, selber bezahle und mit meiner Arbeit verdiene.“
Lob in höchsten Tönen
Er hat auch gehört, dass es Stimmen gibt, die fordern, jetzt, wo der Diktator in Syrien weg sei, sollten die Syrer doch zurückgehen. Nein, er möchte hierbleiben. „Meine Arbeit ist wichtig hier, und Deutschland ist meine Heimat geworden.“ Und wo, fragt er, sollten sie leben in Aleppo? Und von was? „So viel ist zerstört, nicht nur von Assad, sondern von den Russen, von den Iranern. Dies wieder aufzubauen, wird viele Jahre dauern.“ Und Batul traut den Islamisten nicht. „Jetzt geben sie sich noch ruhig. Was aber geschieht mit den Frauen, wenn sie fest an der Macht sind?“
Der Vorgesetzte von Yaser Aldebsh, Lulzim Trbunja, zuständig für Busfahrer:innen von Bad Saulgau bis Oberstaufen, ist voll des Lobes über ihn. Trbunja stammt aus dem Kosovo, er ist Muslim wie Aldebsh. Auch er wollte nicht töten im Jugoslawienkrieg, wollte nicht zum Militär, floh 1991 mit 19 Jahren nach Deutschland, landete in Ravensburg. Nach 14 Monaten machte er den Busführerschein. „Damals war die gesamte Prüfung noch in Deutsch. Ein Wahnsinn!“, erinnert er sich. Er bekam einen Vertrag bei der Bundesbahn. Heute arbeiten Busfahrer:innen – inzwischen auch Frauen, freut er sich – aus 21 Nationen bei der RAB, den lokalen Verkehrsbetrieben. Allein sieben Iraker, Geflüchtete aus Afghanistan, aus Ghana.
Seit Oktober 2023 gibt es sprachliche Erleichterungen. „Das liegt am Bedarf. Uns fehlt das Humankapital. Wir können keine Leute brauchen, die hier nicht zu Hause sind, die sich nicht sicher fühlen“, sagt Trbunja. „Und deshalb müssen diese Flüchtlinge eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung haben. Sie erlernen einen Beruf im Sinne unserer Gesellschaft.“ Und seine Antwort auf die Forderungen, Flüchtlinge abzuschieben, sie zu „remigrieren“? „Dann könnten wir die Verkehrsbetriebe dichtmachen.“
Text: Wolfram Frommlet
Fotos: Jens Volle
Der Artikel erschien zuerst in der Wochenzeitung kontext. Wir danken dem Autor und dem Fotografen für die Genehmigung zur Veröffentlichung.
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