
„Klasse Gesellschaft“ heißt das Programm, mit dem das Theater Konstanz in die Saison 25/26 geht, und das kommt nicht von ungefähr. Es sieht sich in diesen Zeiten nämlich der Aufgabe verpflichtet, im Herzen der Gesellschaft zu wirken und zu zeigen, dass die Welt auch anders aussehen könnte, als sie derzeit leider aussieht. Das Theater – Heimat der Utopie, Demokratie und Vielfalt.
„Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, daß wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde“, schrieb Georg Büchner am 6. April 1833 aus Straßburg an seine Familie in Darmstadt. Er rüttelte damit an der Grundgestimmtheit vieler Menschen nicht nur zu seiner, sondern zu allen Zeiten.
Es scheint uns so, als hätten wir die Freiheit der Wahl, wir denken, wir könnten unser Leben selbst bestimmen. Doch dann fragen wir uns klammen Herzens, ob wir nicht in Wirklichkeit fest in der Zwangsjacke der gesellschaftlichen Konventionen stecken, die uns die Luft zum Denken und Entscheiden nimmt, während wir schamlos mit haarsträubenden „alternativen Fakten“ gefüttert werden.
Und wenn wir dann verzagt hinter den Vorhängen hervor aus dem Fenster auf die Straße lugen, rottet sich dort auch schon der braune Mob zusammen …
Hilfe!

Wo können wir denn überhaupt noch Zuflucht finden? Intendantin Karin Becker, die gemeinsam mit ihrer „Mannschaft“ (O-Ton) gestern die neue Spielzeit vorstellte, kennt einen Zufluchtsort für alle, und nicht nur für die Verzagten: ihr Theater, das für die neue Saison mit „Klasse Gesellschaft“ plakatiert.
Wer dabei an „Klassengesellschaft“ denkt, liegt damit falsch, denn das Theater macht natürlich keine Politik, sondern will Räume schaffen, in denen Menschen sich in all ihrer Vielfalt begegnen können, es will die Erfahrungshorizonte weiten und Empathie trotz aller Unterschiedlichkeiten vermitteln. „Das ist,“ so schreibt Karin Becker im Programmheft, „was Kultur ausmacht: Wir bleiben nicht im eigenen Ich, der eigenen Weltanschauung haften. Theater macht sichtbar und hörbar, was sonst keine Stimme hat.“
20 Programmpunkte
In diesem Geist haben die Theatermacher*innen eine Spielzeit geplant, die Experimente, Neuheiten und Klassiker unter einen Hut bringt und viele Gelegenheiten zu echten Entdeckungen gibt.
Sechs Uraufführungen und eine deutsche Erstaufführung zeigen die Lebendigkeit einer Theaterszene, die sich sehr bewusst der wankelmütigen Realität stellt. So der Auftakt am 27. September mit „Glaube Liebe Hoffnung oder Leistung muss sich leider lohnen“. Die vielfach ausgezeichnete Autorin Gerhild Steinbuch hat Motive aus Ödön von Horvaths gleichnamigem Drama (mit dem Untertitel „Ein kleiner Totentanz in 5 Bildern“) zu einem „Roadtrip durch ein Deutschland an den Rändern der Demokratie“ entwickelt.
Besonders stolz ist das Theater auf seine Aktivitäten für und mit der Jugend, für die es gerade beim Heidelberger Stückemarkt 2025 mit dem Jugendstückepreis ausgezeichnet wurde. Diesen Preis gab es für „Nice“ von Kristo Šagor, und in der nächsten Spielzeit soll es ähnlich gehaltvoll weitergehen: Eine Gruppe junger Menschen arbeitet intensiv an „Aufgepasst!“, das im Frühjahr 2026 auf die große Bühne kommt. Autor*in Fayer Koch und Regisseur Sergej Gößner haben keine inhaltlichen Vorgaben bei ihrer Arbeit … Es ist eine Konstanzer Spezialität, dass ein solches Jugendstück auch dem klassischen Abo-Publikum gezeigt wird, denn die Grenze zwischen Jugend- und „normalem“ Theater ist sehr willkürlich. Auch beim älteren Publikum kommt dieses Konzept mittlerweile an, ist es doch die Vorstellungswelt ihrer Kinder und Enkel*innen, die sich dabei auf der Bühne verkörpert.
Flüsternde Schmusedecken
Insgesamt 20 Punkte mit den unterschiedlichsten Formaten umfasst das noch druckfrische neue Programmheft, das natürlich auch für die jüngste Kundschaft etliches zu bieten hat: „La Le Lu – Eine theatrale Traumreise für kleine und große Schlafmützen“ ist eine Musik- und Bewegungs-Performance für Mensch*innen ab 3 Jahren mit Liedern und Gedichten rund ums Schlafen und Träumen – „eine geheimnisvolle Kuschellandschaft aus schlafwandelnden Matratzen, flüsternden Schmusedecken und tanzenden Schlafsäcken“.
Daneben stehen die Klassiker, die das Theater der letzten Jahrtausende wesentlich mitgeprägt haben: „Macbeth“ von Shakespeare, „Der Kirschgarten“ nach dem unverwüstlichen Anton Tschechow (ein „Let’s Ally“-Projekt im Rahmen des Bodenseefestivals) sowie Yasmina Rezas „Kunst“.

Das Beste kommt für viele Besucher*innen aber wie immer zum Schluss. Das Sommertheater 2026 ist „Leonce und Lena“ gewidmet, dem einzigen Lustspiel, das die sarkastische Lichtgestalt Georg Büchner im Laufe eines 23-jährigen Lebens jemals verfasst hat. Er schrieb das Stück 1836 für einen Wettbewerb der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung, – immerhin Verleger Goethes, Schillers, Kleists und anderer Geistesgrößen, – verpasste aber den Einsendeschluss, so dass er es ungelesen zurückerhielt. Auf die Bühne kam es erstmals 60 Jahre später.
Das Stück ist auch nach 189 Jahren noch derart unterhaltsam und hinterfotzig, dass manche Zuschauer*innen an diesem Abend vom geplanten Selbstmord absehen und der Intendantin die Worte Leonces entgegenschleudern dürften: „Mensch, du hast mich um den schönsten Selbstmord gebracht. Ich werde in meinem Leben keinen so vorzüglichen Augenblick mehr dazu finden und das Wetter ist so vortrefflich. Jetzt bin ich schon aus der Stimmung.“
Das neue Spielzeitheft gibt es hier zum Herunterladen oder gedruckt per E-Mail direkt ins Haus oder wohin auch immer Sie wünschen.
Text & Bilder: Harald Borges
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