
Vom 8. bis 14. Mai erinnert die Veranstaltungsreihe „Lebenswege nach 1945 – Generationen im Dialog“ der Universität Konstanz mit verschiedenen Veranstaltungsformaten und Medien an die achtzigjährige Wiederkehr des Endes des Zweiten Weltkrieges. Die Reihe fragt nach der Gegenwart des Vergangenen im erinnernden Dialog zwischen den Generationen.
Wenn gegenwärtig für die Demokratie und gegen rechtsradikale Parteien und Veranstaltungen demonstriert wird, liest man immer wieder „Nie wieder ist jetzt“. Ein traumatheoretisches Konzept wird zum Slogan.
Der Satz „Nie wieder ist jetzt“ vertritt eine Geschichtsauffassung, die gleichermaßen intuitiv verständlich wie mehrdeutig ist. Er bedeutet zum einen, dass die für unmöglich erklärte Wiederholung eines historischen Ereignis jetzt stattfindet. Zum anderen erinnert er an den Grundstein, auf dem die Bundesrepublik Deutschland gebaut ist: das Versprechen, dass es kein zweites Mal eine faschistische Diktatur in Deutschland geben wird. Er mahnt, dieses Versprechen nun auch einzuhalten. Und zum letzten durchsticht dieser Satz die Zeit wie jedes Trauma: ein Trauma hat keine Geschichte, sondern nur eine Tiefe, die ewig gegenwärtig bleibt. Wenn Ausdrücke fallen wie vom nationalsozialistischen Terror als „Fliegenschiss der Geschichte“, dann ist in dem Augenblick alles da – nicht die Erinnerung, sondern das Ereignis selbst wird psychisch zur Gegenwart.
Wie wichtig ist Erinnerung?
Umso wichtiger ist die Frage: Wie lebt man mit belastenden Erinnerungen? Wie lebt man mit dem Überleben als Opfer, als Täter:in, als Mitläufer:in und, eben auch, als Nachgeborene:r – als Kriegskind, als Kriegsenkel, ja -urenkel? Dabei geht es weniger um Traumabewältigung und Schuld(bekentnisse) in Deutschland, sondern um kreative Zugänge zum Thema und die Frage, wie wichtig Erinnerung für Gegenwart und Zukunft ist.
Studierende und Lehrende der Universität und HTWG haben unter Federführung der Romanistin Anne-Berenike Rothstein eine Veranstaltungsreihe entworfen, die genau diese Fragen stellt. Sie trägt den Titel „Lebenswege nach 1945 – Generationen im Dialog“. Im Mittelpunkt des Auftakts am 8. Mai um 18:30 Uhr im Astoriasaal der VHS steht die szenische Lesung mit Musik des „Ensembles Lautwärts“. „Die Geschichte“, so heißt es in der Veranstaltungsankündigung, „endet nicht mit dem Krieg. Sie setzt sich fort – in Erinnerungen, in Schicksalen und Familiengeschichten über Generationen hinweg und im Schweigen.“ Das Trio Julia Katterfeld, Frank Streichfuss und Andreas Geyer hat sich in einer Kombination von Sprechkunst und Musik zum Ziel gesetzt, „Nichtsagbares hörbar“ zu machen. „Wenn was durch was durchgeht“ heißt der Titel ihrer Auseinandersetzung mit den Un-Möglichkeiten des Sprechens und Schweigens über die Traumata des Weltkriegs. Kann man das, worüber eine Generation schweigt, in einer anderen sprechend auflösen?
Vielleicht kann man sich gemeinsam durch Räume der Erinnerung hindurchbewegen? Gedächtnis, das wusste schon die antike Rhetorik, ist räumlich strukturiert. Das menschliche Gedächtnis ist aber alles andere als ein neutraler Speicher – jede Aktivierung eines Erinnerungsinhalts verändert diesen, interpretiert ihn neu. Sich erinnern bedeutet auch: aktiv zu gestalten. Studierende der HTWG haben sich unter Leitung der Architekturprofessorin und Künstlerin Anna Kubelík zwei konkreten Geschichten gestellt: mit Mitteln eines Hörspaziergangs der 2004 aufgezeichneten Fluchtgeschichte von Brigitte Petzoldt, Großmutter einer Studentin, und mit Hilfe visueller Medien der in Bildern und Dokumenten gesammelten Kriegserfahrungen des Nachbarn eines Studenten. Die Installation ist über die gesamte Laufzeit des Projektes im Foyer des L-Gebäudes der HTWG besuchbar.
Das Gedächtnis ist räumlich strukturiert
Was ist aber der Raum von Menschen, die über keinen Ort verfügen können, weil sie herausgerissen wurden aus allen Bezügen ohne die Möglichkeit einer Rückkehr? So erging es vielen jüdischen Überlebenden, die nach dem Krieg als „Displaced Persons“ „Staatenlose mit unsicherem Rechtsstatus“ (Booklet zur Veranstaltung) waren. Gerade das grenznahe Konstanz wurde zu einem Transitraum für solche Menschen auf dem Weg in Aufnahmeländer. Manche jedoch blieben. In Kooperation mit André Böhning und Bettina Kommoss von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Konstanz e.V ging eine Gruppe von Studierenden der Geschichtswissenschaft unter Leitung des Historikers Jan Behnstedt-Renn den Geschichten dieser Menschen nach und entwickelte einen digitalen Stadtrundgang. Am Freitag, 9. Mai, wird dieser Rundgang um 14 Uhr im Astoriasaal der VHS vorgestellt. Anwesend ist dabei auch Sabine Segoviano, geb. Rosenblom, die über ihre Kindheit und ihr Aufwachsen in einem Lager für „Displaced Persons“ berichtet.
Am Abend desselben Tages findet im Kinosaal der HTWG die Deutschlandpremiere des Dokumentarfilms „Never in my wildest dreams“ von 2021 statt. Er widmet sich dem Leben der Professorin für Geschlechterstudien und Psychologin Evelyn Torton Beck, die als Kind 1938 mit ihrer jüdischen Familie aus Wien floh und zu einer Pionierin der Frauen- und Geschlechterforschung wurde. Der Film entstand anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorats der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Evelyn Torton Beck wird ebenso wie die Initiatorin des Projekts Doris Ingrisch, Professorin für Gender Studies, und der Filmemacher Florian Tanzer bei der Veranstaltung anwesend sein. In einem Filmgespräch mit Anne-Berenike Rothstein werden Hintergründe, Schwerpunkte und Entstehungsgeschichte des Films erläutert.
Zurückzuschauen, um nach vorn zu blicken
Die drei folgenden Tage – jeweils 18:30 Uhr im Astoriasaal der VHS – werden Autorinnen aus Texten lesen, die sich mit dem Weltkrieg, dem Überleben und der Erinnerung auseinandersetzen. In der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew wurden 1941 33.000 Jüdinnen und Juden erschossen. Die ukrainische Lyrikerin Marianna Kijanowska hat die Geschichten der Ermordeten in ihrem 2017 entstandenen Gedichtzyklus „Babyn Jar. Stimmen“ hörbar gemacht. 60 Schicksale – 60 Gedichte. Der Zyklus ist nach der Schlucht Babyn Jar bei Kiew, in der diese Menschen ermordet wurden, benannt.
Zurückzuschauen, um nach vorn zu blicken, ist das Motto der Schriftstellerin Cécile Wajsbrot. Die dialogische Lesung, an der auch Studierende der Universität mitwirken, beschäftigt sich mit Wajsbrots Roman „Nevermore“, der assoziativ den Spuren einer Übersetzerin folgt, die nach dem Tod einer Freundin von Paris nach Dresden umzieht, um dort an einer Übersetzung von Virginia Woolfs Roman „To the Lighthouse“ zu arbeiten. Der Text spannt einen offenen Erinnerungsraum auf, der vom zerstörten Dresden über das atomar verseuchte Tschernobyl bis in die Gegenwart reicht.
Spuren der Geschichte
Über 50 Jahre erzählt die Schriftstellerin und Theaterautorin Ivana Sajko in ihrem Roman, dessen Titel fast einer Zusammenfassung gleicht – „Familienroman. Die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus“ – die Geschichte ihrer Geburtsstadt Zagreb. Fiktionen und Zeitdokumente werden in diesem Text, der nach den Bedingungen des Überlebens fragt, miteinander verknüpft.
„Wir werden Auschwitz nicht sehen“ – „Nous n’irons pas voir Auschwitz“ – ist der Titel der ersten Graphic Novel von Jérémie Dres (2011). Gemeinsam mit seinem Bruder reist er darin auf den Spuren der Geschichte ihrer Großmutter nach Polen. Dort lernen sie die polnisch-jüdische Gemeinschaft im Warschau der Gegenwart kennen. Am Dienstag um 18:30 Uhr kann man dem Künstler im Astoriasaal der VHS begegnen.
Am Mittwochabend um 18:30 Uhr wird in der Lutherkirche die im Bürgersaal zu sehende Ausstellung „ÜberLeben erzählen. Sant’Anna di Stazzema 1944/2024“ eröffnet, die anlässlich des 80-jährigen Jahrestags des Massakers von SS-Soldaten an der Zivilbevölkerung des kleinen oberitalienischen Dorfes bereits letztes Jahr vor Ort in Sant’Anna und in Stuttgart gezeigt wurde (seemoz berichtete). Ab fünf Personen kann man sich auch von Studierenden, die am Projekt mitgewirkt haben, führen lassen. Bei Interesse an einer Führung schicken Sie bitte eine E-Mail.
Die Ausstellung ist bis zum 31. Mai zu sehen. Kurz vor ihrem Schluss lädt am 27. Mai die Slavistin Mirim Finkelstein zu einer weitere Lesung im Astoriasaal der VHS ein. Die tschechische Schriftstellerin Radka Denemarková wird aus ihrem Roman „Ein herrlicher Flecken Erde“ (2009) lesen. Darin kehrt die junge Gita aus dem Konzentrationslager in ihr Heimatdorf zurück, nur um abermals vertrieben zu werden.
Das Programm mit allen Informationen kann hier heruntergeladen werden.
Text: Albert Kümmel-Schnur, Bild: Florian Tanzer
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