Seit Februar 2022 tobt in der Ukraine ein von Russland angezettelter blutiger Krieg, einer von vielen, die derzeit weltweit geführt werden. Dazu verheerende Umweltkatastrophen bisher unbekannten Ausmaßes. Mehrere Millionen Menschen sind somit gezwungen, ihre Heimatländer zu verlassen. Natalie Johanna Kück, eine zwölfjährige Konstanzer Schülerin, hat sich mit der Thematik befasst. Hier ihr bemerkenswerter Bericht.
Wenn ich morgens aufwache, denke ich an den Tag, der vor mir liegt. An die Schule, meine Freundinnen, und vielleicht habe ich manchmal etwas Angst wegen einer Klassenarbeit. Aber wie muss ein Leben sein, in dem man Angst um sein Leben hat! Angst um sich und seine Liebsten, seine Sicherheit, Angst davor, wie es weiter gehen soll. Wo es weiter gehen kann und soll.
Die Frage treibt mich schon lange um und so habe ich mich in unserer Stadt hier mit drei Menschen aus drei verschiedenen Ländern, in denen Krieg herrscht, getroffen. Ich habe mich mit A. aus dem Irak, mit H. aus Syrien und mit E. aus Kamerun unterhalten.
Mich beschäftigten dabei die Fragen, wie diese Menschen nach Konstanz gekommen sind und warum genau. Wir haben jetzt das Jahr 2023 und alle drei sind seit einiger Zeit hier, haben hier Jobs und in einem Fall sogar einen deutschen Pass. Dennoch haben mich alle drei gebeten, bestimmte Teile der Erzählung nicht zu schreiben. Sie haben teilweise immer noch Angst – und das erschreckt mich genauso wie ihre Geschichten.
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H. ist aus Syrien. Sie bittet mich, ihren vollen Namen nicht in dem Artikel zu nennen. Sie ist ein zierliches Mädchen, mit schwarz geschwungenen Augenbrauen und sie ist intelligent, das merkt man an jedem Satz, den sie bedacht und mit gut gewählten Worten spricht. Sie spricht unglaublich gut Deutsch, auch wenn sie selbst bescheiden sagt, dass das nicht stimme, sie könnte noch viel besser sein. In Konstanz wohnt sie bei einer Familie. Die Familie hat selbst 3 Kinder, hat sie aber sofort aufgenommen.
H. macht viel mit dem Herzen, das spürt man. Sie hat aber auch eine Stärke und Kraft in sich, sonst hätte sie nie geschafft, was sie geschafft hat.
Ihr Vater, erzählt sie, wurde bei einem Sprengstoffattentat schwer verletzt. Bomben und Anschläge gehörten zum Alltag, ihre Familie sei schon oft losgerannt, als eine Bombe fiel, manchmal hatten sie nur Hausschuhe an.
Fast 2 Jahre war H. auf der Flucht. Sie hat Vieles erlebt, viele Nächte in Wäldern und ihr unbekannten Orten, immer unterwegs mit ihr fremden Menschen. Alle hatten nur das Ziel, dem Krieg und dem Horror zu entkommen. Sie war auf ihrer Flucht oft das einzige Mädchen. Häufig hörte sie Tage nichts von ihren Eltern. Den Großteil ihres Lebens hat sie bislang in Angst auf der Flucht verbracht. Als sie das erzählt, wirkt sie auf mich sehr traurig, denn sie sagt, sie hätte ihre halbe Kindheit verpasst. Ihr Vater wollte sie zuerst nicht gehen lassen. Aber sie sagt: „in Syrien war ich wie tot, ich hatte kein Leben, ich konnte nicht raus und lebte in Angst um mich und meine Familie“. Ihre Eltern haben ihre Traurigkeit erkannt und ließen sie dann trotz ihrer großen Sorge um sie gehen. Sie ist dann von Syrien in die Türkei gelaufen, immer nachts, da es sonst zu gefährlich war, durch mehrere Länder hindurch, immer weiter mit dem einzigen Ziel, nach Konstanz zu kommen. Nicht, weil sie Konstanz kannte, sondern weil ihr Bruder es bis dorthin geschafft hatte und sie zu ihm wollte.
Ihr Bruder, der in Konstanz war, ist nun angehender Archäologe in Heidelberg. Ihr anderer Bruder ist Arzt und lebt noch mit seiner Mutter und dem kleinen Bruder im Irak. Bis dorthin haben die drei es bislang geschafft. Ihr Vater hat es nach Holland geschafft und versucht von dort aus, die Familie nachzuholen. Er ist vorgegangen, weil er sagt, wenn ihm etwas zustoßen sollte, sei es nicht so schlimm als wenn seiner Frau oder seinem kleinen Kind etwas passierte.
H. selbst hat Pädagogik studiert. Sie hat in Deutschland 18 Monate im Kindergarten mitgeholfen, und nun im Altenheim. Sie weint fast, als sie leise sagt, wieviel Zeit sie verloren hat durch den Krieg, die 2 jährige Flucht, das Warten, und wie gern sie hier in ihrem Job arbeiten möchte. Hier muss sie erst wieder neue Prüfungen machen – das bedeutet noch mehr Zeit. Und sie fühlt sich schon so alt mit 28 Jahren.
Keine Syrerin und kein Syrer, den sie kennt, wollte vor dem Krieg Syrien verlassen. Es ist „wie im Paradies“ gewesen, sagt sie, und, dass sie sofort zurück gehen würde, wenn es jemals wieder so wäre, wie es vor dem Krieg war. Doch sie glaubt nicht mehr, dass das passieren wird.
Ich frage sie, ob sie glücklich ist in Konstanz und sie sagt, dass sie so dankbar ist für alles in Deutschland. Nirgends hätte man ihr so viel geholfen. Nicht ein einziges Mal hat sie so etwas wie Fremdenfeindlichkeit erlebt. Vor allem aber ist sie dankbar, weil sie sich sicher fühlen darf, aber sie sagt auch: „Wie kann man richtig glücklich sein ohne seine Familie und wenn man nicht weiß, wie es den Liebsten geht.
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E. ist 47 Jahre alt und kommt aus Bamenda North West in Kamerun. Die Stadt hat ca. 2 Millionen Einwohner. Er ist seit viereinhalb Jahren in Deutschland.
Zu seiner Familie gehören seine Frau und vier Kinder: zwei Söhne, 13 und 17 Jahre alt, und zwei Töchter, 21 und 24 Jahre alt. E. kämpft darum, dass auch sie kommen dürfen. Und so wie es aussieht, könnte dieser Wunsch Wirklichkeit werden. Seine Tochter ist inzwischen auch in Deutschland. E. hat ein Visum für sie beantragt, sie studiert an der Uni Mannheim International Business Management.
E. ist Schreiner von Beruf. Bei sich zuhause war er Lehrer in einer Schreinerschule. Hier in Deutschland wurde seine Ausbildung aber nicht anerkannt und er hätte noch einmal eine Ausbildung machen müssen, sagt er. Dazu hat ihm aber Wohnraum und Geld gefehlt und so hat er sich Arbeit in der Gastronomie gesucht, die ihm Geld bringt. E. lacht die ganze Zeit, während wir reden und spricht sehr gut Deutsch. Bei der Arbeit scheint man ihn zu mögen, er lacht viel und alle, die an dem Tag da sind, sagen, dass sie ihn sehr gern haben und er seine Arbeit sehr gut mache. Ich frage ihn, wo er so gut Deutsch gelernt habe und er sagt: „erst in Deutschland“, wo er auf einer Schule das B 1 Level absolviert hat.
Zuhause in Kamerun hat er viele Grundstücke, erzählt er mir. In seiner Heimat war er sogar Notable. Jede Stadt muss einen König haben und jedes kleine Dorf muss einen Notable haben. Das ist jemand, der dem Dorf vorsteht und den König unterstützt. Bafut (Anm.d.Red.: Bafut ist ein traditionelles Königreich im Nordwesten Kameruns) hat zum Beispiel 22 kleine Dörfer und jedes hat einen Notable. E. lacht als er merkt, dass ich davon noch nie gehört habe.
Die Regierung, sagt er, hat die Könige im Verdacht, mit der Bürgerwehr zu kooperieren, also war er selbst besonders in Gefahr. Die Armee hat ihn gesucht, war bei seiner Frau im Haus, aber seine Frau und die Kinder hatten das Haus verlassen. Die Armee hat dann seinen Bruder in seinem Haus erschossen und seinen Hund auch.
Der Krieg in Kamerun ist kein religiöser Krieg sondern ein politischer. Es gab keine Bomben, sondern Straßenkämpfe. „Kamerun ist eigentlich ein reiches Land“, sagt E., wegen seiner Schätze wie Öl, Bananen, Holz. Kamerun ist in zwei Teile geteilt, einen englischen und einen französischen. Es gibt 10 Regionen, sechs französische und vier englische. Präsident Paul Biya ist 90 Jahre alt und seit über 40 Jahren an der Macht. Die Regierung unter Paul Biya ist auf der „französischen Seite“, E. selbst ist auf der „englischen Seite“.
Als E. floh, war es so, dass man nicht einmal mehr auf die Straße konnte, aus Angst erschossen zu werden. Die Armee kämpfte gegen bewaffnete Bürger, jeder konnte erschossen werden. E. ist vom Nachbarland aus geflohen. Er hatte einen Freund in der Schweiz, er war erst in Karlsruhe, dann in Heidelberg, dann in Erlangen und dann in Konstanz. Seit 2 1/2 Jahren arbeitet er nun in Konstanz.
Er mag die Deutschen und er hat es sehr nett in seinem Job. Fast alle sind freundlich zu ihm, aber er hat es auch schon erlebt, dass sich Menschen im Bus weggesetzt haben, als er sich neben sie gesetzt hat. Das erschreckt mich sehr.
Am allermeisten vermisst E. seine Familie.
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A. ist 42 Jahre alt, er ist 1981 geboren und kommt aus Bagdad im Irak. Seine Familie besteht aus seinen Eltern, sechs Brüdern und einer Schwester. Er ist seit 2004 schon hier und sein Weg führte ihn über Köln nach Singen und dann nach Konstanz. Der Krieg in seinem Land war ein religiöser Krieg. A. selbst ist Christ, und Christen wurden 2003/2004, als A. floh, verfolgt. Erst lebte man in Angst vor Saddam Hussein, später kämpften Sunniten und Schiiten gegeneinander und gegen die Christen.
A. war bis zum Alter von 17 in der Schule und er bedauert, dass er danach keinen Beruf erlernt hat. Er hat seinem Onkel im Geschäft geholfen. Auch er spricht gut deutsch, wenig englisch, aber arabisch und aramäisch, was ähnlich sei wie hebräisch, sagt er mir.
Dass er nach Deutschland kam, war eher Zufall. Seine Brüder wollten nach Kanada, er in die Schweiz, aber dann war sein Bruder hier und er wollte in der Nähe der Familie sein.
Anfangs hatte er keine Aufenthaltsgenehmigung und durfte sich nur in einem von den Behörden festgelegten Umkreis von 30 Kilometern aufhalten.
In seiner Heimat war es damals so gefährlich, dass er nicht einmal mehr auf die Straße konnte oder zum Einkaufen. Die Familie hat sich dann von Joghurt, Datteln und Brot ernährt, denn all das konnte man in den Häusern herstellen oder aus der Milch der Tiere gewinnen und Dattelbäume wuchsen ebenfalls in den Innenhöfen.
Ich frage ihn, was er auf seiner Flucht mitgenommen hat, und er sagt, nur seine Kleidung. Er hat Schreckliches erlebt, er möchte nicht, dass ich das öffentlich schreibe, aber er hat es mir erzählt und ich werde das nie vergessen.
A. lächelt die ganze Zeit und er gilt unter KollegInnen als freundlich und lustig, aber als er von Bagdad erzählt, wirkt er richtig traurig. Er würde gern auch mal reisen, etwas von der Welt sehen, aber das geht nicht, denn er kümmert sich ganz viel um seine Eltern, weil er sie nicht allein lassen kann. Ich frage ihn, was er vermisst und er sagt, er vermisst das Klima in seiner Heimat, seine Sprache, die Menschen, den Trubel und das Essen.
Er ist Deutschland so dankbar für alles, er mag es, dass es Gesetze gibt, und dass man auf die Menschen aufpasst. Wenn sein Land so strukturiert wäre wie Deutschland, würde er gern wieder dort leben, auch weil er große Städte mag – Bagdad hat um die 7 Millionen Einwohner – das muss sich in Konstanz unglaublich anders anfühlen für ihn. In Konstanz mag er die Menschen, sagt er, am allerliebsten die jungen, zwischen 18 und Mitte 20, die seien so offen und lustig.
Es ist seltsam, und ich verstehe vieles einfach nicht ganz. Wenn bei uns jemand in den Familien stirbt, ist das jedesmal ein ganz schlimmes und unglaublich trauriges Ereignis. Jeder fühlt und leidet mit. Aber wenn in anderen Ländern Menschen sterben, und das wegen Krieg oder Armut, leiden die Familien doch genauso? Sie trauern um ihre Väter und Mütter und Geschwister doch genau wie wir auch? Und wenn es eine Möglichkeit gibt, das eigene Leben und das Leben seiner Familie irgendwie zu schützen, indem man flieht – würden wir das nicht ebenso tun? Ich höre manche Menschen sagen, dass wir hier schon genug Menschen sind, und eigene Probleme haben. Wir haben sicher sehr viele Probleme, aber wir haben doch keine Angst um unser Leben, oder Angst vor dem Verhungern. Das ist doch etwas, was alles anders machen würde.
Ich stelle mir vor, wie schwer das ist, so zwischen den Welten, und wie es wäre, wenn ich nicht mehr in meiner Stadt sein könnte, weil hier Krieg herrscht oder Armut. Und wie dankbar ich bin, dass ich hier in Konstanz leben darf, ohne Angst. Und wie froh ich wäre, wenn mir andere ein Zuhause geben würden, wenn hier einmal Krieg oder eine andere Notlage wäre.
Als wir uns verabschieden, lächelt A., aber ich finde, seine Augen schauen traurig.
Text: Natalie Johanna Kück (12 Jahre alt)
Symbolbilder: Pixabay
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